Chefverwalter Olsen wandte sich nur selten an die Öffentlichkeit. Er zog es vor, hinter den Kulissen zu arbeiten. Umso eindrucksvoller wirkte es, wenn er einmal öffentlich auftrat.
Obwohl ihn Millionen beobachteten, konnten ihn die zweiundzwanzig Männer und Frauen, an die er sich wandte, nicht sehen, weil die Selene nicht mit Bildschirm ausgerüstet war. Seine Stimme klang jedoch zuversichtlich genug. Die Eingeschlossenen erfuhren alles, was sie wissen wollten.
»Achtung, Selene«, begann er, »ich möchte Ihnen mitteilen, dass alles auf dem Mond zu Ihrer Rettung mobilisiert wird. Die Ingenieure und Techniker arbeiten Tag und Nacht an den Plänen.
Mr. Lawrence, Chefingenieur Erdseite, leitet das Unternehmen, und ich habe volles Vertrauen zu ihm. Er befindet sich augenblicklich in Port Roris, wo die erforderlichen Apparaturen montiert werden. Man hat entschieden, dass zuerst Ihre Versorgung mit Sauerstoff sichergestellt werden muss. Aus diesem Grund haben wir vor, Rohre durch die Decke der Selene zu treiben. Das geht ziemlich schnell, und dann sind wir in der Lage, Sauerstoff hinunterzupumpen, und falls nötig, auch Nahrung und Wasser. Sobald die Rohre installiert sind, brauchen Sie sich keinerlei Sorgen mehr zu machen. Es mag dann immer noch kurze Zeit dauern, bis man Sie herausholt, aber Sie sind in Sicherheit. Sie brauchen nur abzuwarten.
Ich überlasse Ihnen jetzt die Frequenz wieder, damit Sie mit Ihren Freunden sprechen können. Ich bedauere die Unbequemlichkeiten und Belastungen, unter denen Sie zu leiden hatten, aber das ist jetzt alles vorbei. In ein, zwei Tagen haben wir Sie herausgeholt. Viel Glück!«
An Bord der Selene unterhielt man sich nach Olsens Rede angeregt. Er hatte genau die gewünschte Wirkung erzielt. Die Passagiere betrachteten die ganze Episode bereits als ein Abenteuer, von dem sie ihr ganzes Leben lang erzählen konnten. Nur Pat Harris schien ein wenig unglücklich zu sein.
»Es wäre mir lieber gewesen«, sagte er zu Commodore Hansteen, »wenn sich Olsen nicht so zuversichtlich gegeben hätte. Man soll das Schicksal nicht herausfordern.«
»Ich verstehe Sie recht gut«, erwiderte der Commodore, »aber man kann es ihm nicht übelnehmen — er denkt an unsere Stimmung.«
»Die sehr gut ist — vor allem, seit wir mit unseren Freunden und Verwandten sprechen können.«
»Sie bringen mich da auf etwas. Ein Passagier hat weder eine Nachricht hinausgeschickt noch empfangen. Er scheint überhaupt kein Interesse daran zu haben.«
»Wer denn?«
Hansteen senkte die Stimme. »Der Neuseeländer, Radley. Er sitzt ganz still in der Ecke da drüben. Ich weiß nicht warum, aber er macht mir Sorgen.«
»Vielleicht hat der arme Kerl keinen Menschen auf der Erde, mit dem er sprechen will.«
»Ein Mann mit so viel Geld, dass er auf den Mond fliegen kann, muss ein paar Freunde haben«, erwiderte Hansteen. Dann grinste er. »Das klingt sehr zynisch — so habe ich es nicht gemeint; aber ich bin dafür, dass wir Mr. Radley im Auge behalten.«
»Haben Sie Sue — äh, Miss Wilkins schon davon erzählt?«
»Sie hat mich auf ihn aufmerksam gemacht.«
Das hätte ich mir denken können, dachte Pat bewundernd. Ihr entgeht nichts. Jetzt, da wieder Hoffnung zu bestehen schien, dachte er sehr ernsthaft über Sue nach — und auch über das, was sie zu ihm gesagt hatte. Was fühlte sie wirklich? Bedauerte sie den gemeinsamen Augenblick der Leidenschaft, oder bedeutete er ihr nichts? Sie konnte behaupten, dass das, was in der Luftschleuse geschehen war, nicht mehr galt, dass sie nicht ganz vernünftig gewesen waren …
Aber vielleicht doch. Vielleicht war es gerade der echte Pat Harris, die echte Susan Wilkins, die sich endlich der Verkleidung entledigt und zueinandergefunden hatten. Aber darauf konnte wohl nur die Zeit eine Antwort geben.
Der Staub, der — wenn man so sagen wollte — gegen den Kai plätscherte, von dem die Selene vor vier Tagen abgefahren war, besaß nur eine Tiefe von höchstens zwei Metern, aber für den vorgesehenen Versuch war eine größere Tiefe nicht erforderlich. Wenn die hastig zusammengesetzten Geräte hier funktionierten, dann brauchte man auch auf dem offenen Meer keine Angst zu haben.
Lawrence sah vom Hafengebäude aus zu, während seine Gehilfen im Raumanzug den Rahmen zusammenschraubten. Er bestand, wie fast alle Strukturen auf dem Mond, aus Aluminiumbalken und -riegeln. In mancher Hinsicht war der Mond ein Paradies für Ingenieure, dachte Lawrence. Die niedrige Schwerkraft, das Fehlen von Rost oder Korrosion beseitigte mit einem Schlag eine ganze Reihe von Problemen, die es auf der Erde erst zu überwinden galt. Aber dafür konnte der Mond dann wieder mit ein paar Besonderheiten aufwarten, wie den eiskalten Nächten und dem Staub, mit dem sie jetzt kämpften.
Das leichte Gerüst des Floßes ruhte auf einem Dutzend großer Metalltonnen mit der Aufschrift »Enthält Äthylalkohol. Nach Entleerung bitte an Lager Drei zurückgeben«. Man hatte sie jetzt luftleer gepumpt, so dass jeder einzelne Behälter bis zu zwei Lunartonnen zu tragen vermochte.
Das Floß nahm jetzt schnell Gestalt an. Wir dürfen nicht vergessen, viele Ersatzschrauben und -muttern mitzunehmen, dachte Lawrence. Bis jetzt waren mindestens sechs Stück in den Staub gefallen und sofort verschluckt worden. Da verschwand eben ein Schraubenschlüssel. In Zukunft mussten alle Werkzeuge am Floß angebunden werden, so unbequem das auch sein mochte …
Fünfzehn Minuten — nicht schlecht, wenn man sich überlegte, dass die Männer im Vakuum arbeiteten und daher von ihren Raumanzügen behindert wurden. Das Floß konnte in jeder gewünschten Richtung erweitert werden, aber für den Anfang sollte es ausreichen. Dieses Teilstück allein konnte über zwanzig Tonnen tragen, und es würde eine Weile dauern, bis sie so viel Material zur Unglücksstelle transportiert hatten.
Lawrence verließ das Hafengebäude, während seine Assistenten das Floß wieder auseinandermontierten. Fünf Minuten später stand er in der Werkhalle des örtlichen Ingenieurbüros. Was er hier fand, befriedigte ihn weniger.
Auf einem Gestell hatte man eine Nachbildung des Daches der Selene aufgebaut — eine genaue Kopie, aus denselben Materialien hergestellt. Nur die als Sonnenschutz dienende Außenhülle aus aluminiertem Stoff fehlte. Sie war so dünn, dass sie den Versuch überhaupt nicht beeinflusste.
Das Experiment war äußerst einfach. Es umfasste nur drei Dinge — ein spitzes Brecheisen, einen Schmiedehammer und einen verzweifelten Ingenieur, dem es trotz größter Anstrengung bisher nicht gelungen war, das Eisen durch das Dach zu hämmern.
Jeder, der nur ein bisschen über die Umstände auf dem Mond unterrichtet war, hätte sofort einen Grund für den Misserfolg angeben können. Der Hammer hatte offensichtlich nur ein Sechstel seines auf der Erde vorhandenen Gewichts. Dementsprechend war seine Wirkung gering.
Diese Überlegung wäre aber völlig falsch gewesen. Sie hätte den Unterschied zwischen Gewicht und Masse außer Acht gelassen. Denn Gewicht ist eine willkürliche Eigenschaft. Sie verändert sich von Planet zu Planet. Auf der Erde würde der Hammer sechsmal so viel wiegen wie hier, auf der Sonne sogar zweihundertmal so viel — und im Weltraum praktisch gar nichts.
Aber überall bliebe seine Masse oder Trägheit dieselbe. Die Energie, ihn mit einer gewissen Geschwindigkeit in Bewegung zu setzen, und die Wirkung des Aufpralls würden sich überall gleichbleiben. Auf einem nahezu schwerelosen Asteroiden, wo er weniger als eine Feder wiegen mochte, würde dieser Hammer ein Felsstück ebenso zerschlagen wie auf der Erde.
»Woran hapert's denn?«, fragte Lawrence.
»Das Dach federt zu sehr«, erklärte der Ingenieur und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das Brecheisen springt jedes Mal zurück.«
»Ich verstehe. Aber wird der Rückstoß nicht verschwinden, wenn wir ein fünfzehn Meter langes Rohr durch dichten Staub treiben?«
»Vielleicht — aber sehen Sie sich das an.«
Sie bückten sich und starrten die Unterseite des Daches an. Man hatte mit Kreidestrichen den Verlauf der elektrischen Leitungen angedeutet, die auf keinen Fall beschädigt werden durften.
»Dieses Fiberglas ist so hart, dass man kein sauberes Loch machen kann. Wenn das Zeug nachgibt, reißt und splittert es. Sehen Sie — in allen Richtungen laufen die Bruchlinien. Ich fürchte, dass sich im Dach ein großer Riss ergeben wird, wenn wir es mit Gewalt versuchen.«
»Das dürfen wir nicht riskieren«, stimmte Lawrence zu. »Gut, lassen wir das sein. Wenn es so nicht geht, müssen wir eben bohren. Schrauben Sie einen Bohrer am Ende des Rohres an, damit man ihn wieder leicht abnehmen kann. Wie klappt es mit den anderen Arbeiten?«
»Wir sind fast fertig — alles Standardausrüstung. In zwei bis drei Stunden müssten wir es geschafft haben.«
»Ich komme in zwei Stunden zurück«, sagte Lawrence. Er fügte nicht, wie manche Männer es getan hätten, hinzu: »Bis dahin muss es fertig sein.« Seine Leute gaben ihr Äußerstes, und man durfte nichts übereilen. Außerdem war die Sauerstoffversorgung auf der Selene noch für drei Tage gesichert. In ein paar Stunden bestand selbst dieses Limit nicht mehr, wenn alles gut ging.
Aber es ging nicht alles gut.
Commodore Hansteen bemerkte als Erster die schleichende Gefahr. Er war ihr schon einmal begegnet, als er auf Ganymed einen beschädigten Raumanzug getragen hatte.
»Pat«, sagte er leise, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand mithören konnte, »haben Sie nicht auch Atemschwierigkeiten?«
Pat sah ihn überrascht an, dann erwiderte er: »Ja, da Sie schon davon sprechen. Ich dachte, es sei die Hitze.«
»Ich zuerst auch, aber ich kenne diese Symptome — vor allem das schnelle Atmen. Wir haben es mit einer Kohlenoxydvergiftung zu tun.«
»Aber das ist doch lächerlich — die nächsten drei Tage kann uns gar nichts passieren — wenn die Luftreinigungsanlage noch funktioniert.«
»Ich fürchte, dass damit etwas nicht stimmt. Mit welchem System beseitigen wir das Kohlendioxyd?«
»Chemische Absorption. Sehr einfach und zuverlässig. Wir hatten noch nie Schwierigkeiten damit.«
»Natürlich, aber es musste ja auch noch nie unter solchen Bedingungen gearbeitet werden. Ich glaube, dass die Chemikalien unter der Hitze gelitten haben. Können wir an die Anlage herankommen?«
Pat schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist nur von außen zugänglich.«
»Sue, meine Liebe«, sagte eine müde Stimme, die man kaum als die von Mrs. Schuster erkannte, »haben Sie vielleicht ein Mittel gegen meine Kopfschmerzen?«
»Ich brauche auch ein paar Tabletten«, sagte ein anderer Passagier.
Pat und der Commodore sahen einander ernst an. Die Symptome waren unverkennbar.
»Wie lange, glauben Sie, wird es dauern?«, sagte Pat.
»Höchstens zwei bis drei Stunden. Lawrence und seine Leute können aber erst in sechs Stunden hier sein.«
In diesem Augenblick erkannte Pat, dass er Susan wirklich liebte. Denn seine erste Reaktion war nicht die Angst um sein eigenes Leben, sondern Trauer darüber, dass sie kurz vor der Rettung noch sterben musste.