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Als Mrs. Schuster schrie, dachte Commodore Hansteen zuerst, sie bekäme einen hysterischen Anfall. Eine halbe Sekunde später musste er seine ganze Willenskraft aufbieten, um es ihr nicht gleichzutun.

Von draußen, wo drei Tage lang nur der Staub gewispert hatte, hörte man ein Geräusch. Etwas Metallisches scharrte am Rumpf.

Erleichtert begannen die Passagiere loszujubeln. Nur unter Schwierigkeiten gelang es Hansteen, sich Gehör zu verschaffen.

»Man hat uns gefunden«, sagte er, »aber vielleicht weiß man es noch nicht. Wenn wir zusammenarbeiten, wird es möglicherweise schneller gehen. Pat — Sie setzen sich ans Funkgerät. Wir übrigen hämmern an die Wand — das alte Morsezeichen — Dit — Dit — Dit — Dah. Also los — alle zusammen!«

Die Selene hallte vom Pochen der Fäuste wider. »Stopp!«, sagte Hansteen eine Minute später. »Jetzt alle hinhören!«

Nach dem Lärm wirkte die Stille unheimlich — ja, entnervend. Pat hatte die Sauerstoffpumpen abgeschaltet, so dass an Bord der Selene nur der Herzschlag von zweiundzwanzig Menschen zu hören war.

Die Stille schien endlos. War die Suchabteilung bereits wieder weitergezogen?

Da, wieder das Scharren. Hansteen dämpfte die ausbrechende Begeisterung mit einer Handbewegung.

»Horcht doch, um Himmels willen«, drängte er. »Vielleicht können wir daraus etwas erkennen.«

Das Scharren dauerte nur ein paar Sekunden, dann trat wieder Stille ein. Jemand sagte leise: »Das hört sich an, als zöge man einen Draht vorbei. Vielleicht sucht man das Meer mit einem Schleppnetz ab.«

»Unmöglich«, erwiderte Pat. »Der Widerstand wäre zu groß, vor allem in dieser Tiefe. Ich halte das eher für eine Sonde.«

»Auf jeden Fall ist eine Suchabteilung nur ein paar Meter entfernt«, sagte der Commodore. »Trommeln wir noch einmal. Alle zusammen …«

Dit — Dit — Dit — Dah … Dit — Dit — Dit — Dah …

Durch den doppelwandigen Rumpf der Selene hinaus in den Staub dröhnten die schicksalhaft hämmernden Anfangstakte der Fünften Symphonie, wie ein Jahrhundert vorher im besetzten Europa. Pat Harris im Pilotensitz sagte immer wieder: »Achtung. Hier ist die Selene — empfangen Sie uns? Bitte kommen.« Dann lauschte er fünfzehn Sekunden, bevor er von neuem zu senden begann. Aber es blieb so still wie seit dem Augenblick, als der Staub sie verschlungen hatte.

Maurice Spenser sah an Bord der Auriga besorgt auf die Uhr.

»Verdammt«, sagte er, »die Schlitten müssten längst dort sein. Wann kam die letzte Nachricht?«

»Vor fünfundzwanzig Minuten«, erklärte der Funkoffizier des Schiffs. »Die Halbstundenmeldung dürfte bald eintreffen, ob sie etwas gefunden haben oder nicht.«

»Wissen Sie genau, dass Sie noch auf der richtigen Frequenz sind?«

»Ich bin dafür, dass sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmert«, erwiderte der Funker aufgebracht.

»Entschuldigung«, meinte Spenser. »Ich bin ein bisschen nervös.«

Er stand auf und ging in der Pilotenkanzel der Auriga herum. Nachdem er sich an einem Armaturenbrett angeschlagen hatte, gewann er langsam seine Beherrschung wieder.

Das war das Unangenehmste an seinem Job: Warten müssen, bis er wusste, ob er eine große Sache in der Hand hatte oder nicht. Schon jetzt machten seine Spesen ein kleines Vermögen aus. Aber im Vergleich zu den Kosten, die entstanden, wenn er Captain Anson starten ließ, waren sie unbedeutend.

»Da sind sie«, sagte der Funker plötzlich. »Zwei Minuten zu früh. Irgendetwas ist passiert.«

»Ich bin auf etwas gestoßen«, sagte Lawrence hastig, »aber ich weiß nicht, was es ist.«

»Wie tief unten?«, fragten Rawson und die beiden Piloten gleichzeitig.

»Ungefähr fünfzehn Meter. Bitte zwei Meter nach rechts — ich will's noch mal versuchen.«

Er zog die Sonde heraus und ließ sie wieder hinunter, als der Schlitten die Position gewechselt hatte.

»Immer noch da«, meldete er, »auch in derselben Tiefe. Noch zwei Meter weiter.«

Jetzt war das Hindernis verschwunden — oder es befand sich in einer Tiefe, die mit der Sonde nicht mehr zu erreichen war.

»Hier ist nichts — wir müssen zurück.«

Es war eine mühsame Aufgabe, die Umrisse des Objekts festzustellen, das da unten begraben lag. Vor Jahrhunderten hatten die Menschen mit beschwerten Tauen die Meere der Erde ausgelotet. Bedauerlich, dachte Lawrence, dass ein Echolot bei dieser Tiefe des Staubes nicht funktionieren würde.

Daran hätte er schon längst denken sollen! Deswegen hatte man die Funksignale der Selene nicht mehr auffangen können. Der Staub wirkte natürlich als Abschirmung. Aber bei dieser geringen Entfernung, wenn er sich wirklich unmittelbar über dem Kreuzer befand …

Er schaltete seinen Empfänger auf die Katastrophenfrequenz — und da war das Notsignal. So laut, dass man es eigentlich auch in Port Roris empfangen müsste. Aber dann erinnerte er sich, dass seine Sonde auf dem Rumpf der Selene ruhte; dadurch wurden die Funkwellen an die Oberfläche weitergeleitet.

Er lauschte dem Signal eine ganze Weile, bevor er den Mut fand, den nächsten Schritt zu tun. Er hatte niemals erwartet, wirklich etwas zu finden, und selbst jetzt konnte die Suche umsonst gewesen sein. Das automatische Signal würde wochenlang funktionieren, wie eine Stimme aus dem Grab, wenn die Insassen der Selene längst den Tod gefunden hatten.

Dann schaltete Lawrence mit einer zornigen Geste, die dem Schicksal Trotz zu bieten schien, auf die dem Kreuzer zugeteilte Frequenz — und Pat Harris' Stimme dröhnte in seinen Ohren: »Achtung. Hier ist die Selene — hier ist die Selene. Empfangen Sie mich? Bitte kommen.«

»Hier Staubschlitten Eins«, antwortete er. »Chefingenieur Lawrence. Ich befinde mich fünfzehn Meter über Ihnen. Ist bei Ihnen alles gesund? Bitte kommen.«

Es dauerte lange, bis er die Antwort verstehen konnte, so wurde sie von dem Jubelschrei der Passagiere übertönt. Wenn man sie hörte, mochte man beinahe glauben, dass sie angetrunken waren. In ihrer Freude über die Entdeckung, über den Kontakt mit ihren Mitmenschen glaubten sie, ihre Sorgen seien vorbei.

»Staubschlitten Eins ruft Kontrollturm Port Roris«, sagte Lawrence, während er darauf wartete, dass sich der Tumult legte. »Wir haben die Selene gefunden und Funkverbindung hergestellt. Nach dem Lärm zu urteilen, geht es allen gut. Sie befindet sich fünfzehn Meter unter der Oberfläche, genau dort, wo Doktor Rawson sie vermutete. Ich rufe in wenigen Minuten zurück. Ende.«

Mit Lichtgeschwindigkeit würden sich jetzt Wellen der Erleichterung und des Glücks über den Mond, die Erde und die inneren Planeten ausbreiten und Milliarden Menschen erfreuen. Auf Straßen und Gleitwegen, in Bussen und Raumschiffen würden fremde Menschen zueinander sagen: »Haben Sie schon gehört? Man hat die Selene gefunden.«

Es gab nur einen Mann, der sich dieser Begeisterung nicht aus vollem Herzen anzuschließen vermochte. Chefingenieur Lawrence saß auf seinem Staubschlitten, lauschte den Jubelrufen aus der Tiefe und fühlte sich hilfloser als die Männer und Frauen, die dort unten in der Falle saßen. Er wusste, welche Aufgabe ihm bevorstand.

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