9.

Die Tage schlichen dahin wie Wochen. Herrera sprach kaum mit mir, bis er mich eines Abends im Aufenthaltsraum unvermittelt fragte: »Hast du Gallina schon mal gesehen?« Das war Chicken Little. Ich sagte nein. »Dann komm herunter. Ich kann dich hereinlassen. Sie ist wirklich sehenswert.«

Wir durchquerten lange Gänge und sprangen auf das hinunterführende Frachtnetz. Ich schloß die Augen. Wenn man direkt hinunterblickt, wird es einem schwindelig. Vierzig, dreißig, zwanzig, zehn, null minus zehn.

»Abspringen, Jorge«, sagte Herrera. »Unter Minus Zehn liegt der Maschinenraum.« Ich sprang.

In Minus Zehn herrschte Dämmerlicht, Kondenswasser rann von den Betonwänden. Das Dach wurde von riesigen Pfeilern getragen.

Ein Gewirr von Rohren füllte den Gang, in dem wir abgesprungen waren. »Nahrungsflüssigkeit«, sagte Herrera.

Ich fragte nach dem offenbar ungeheuren Gewicht der Decke.

»Das ist Zement und Blei. Hält kosmische Strahlung ab. Manchmal kriegt eine Gallina Krebs.« Er spuckte aus. »Nicht eßbar. Muß alles verbrannt werden, wenn man nicht wirklich schnell ist und…« Er schwang sein glitzerndes Messer in blitzendem Bogen.

Er stieß eine Tür auf. »Das ist ihr Nest«, sagte er stolz. Ich warf einen Blick hinein und schluckte.

Die große Zementkuppel mit Betonfußboden wurde fast völlig von Chicken Little ausgefüllt. Es war eine graubraune, gummiartige Halbkugel von etwa fünfzehn Meter Durchmesser. Dutzende von Röhren führten in das pulsierende Fleisch. Man sah, daß sie lebte.

Herrera sagte zu mir: »Den ganzen Tag gehe ich um sie herum. Ich sehe, wie ein Teil schnell wächst, sieht es gut und zart aus, schneide ich es ab.« Wieder beschrieb sein zweischneidiges Messer einen blitzenden Bogen. Diesmal trennte es ein etwa zwei Zentimeter dickes Steak von Chicken Little ab. »Die Leute hinter mir zerschneiden es dann und legen es auf das Fließband.« An der Peripherie des Raumes befanden sich Tunnelöffnungen, in denen Fließbänder zu sehen waren.

»Wächst sie denn über Nacht nicht?«

»Nein. Man führt ihr nur ein Minimum an Nahrung zu, die Abfallprodukte stauen sich. Jede Nacht ist sie nahe daran zu sterben. Jeden Morgen wird sie aufs neue zum Leben erweckt wie der heilige Lazarus. Aber niemand kommt auf die Idee, für probrecita Gallina zu beten, was?« Er versetzte der Gummimasse mit der flachen Seite der Messerschneide einen liebevollen Hieb.

»Du magst sie wohl«, bemerkte ich einfallslos.

»Sicher, Jorge. Sie hilft mir.« Er blickte sich um, dann schritt er um das Nest herum und schaute in jede Tunnelöffnung, zog eine kurze Querstange hervor und drückte sie lässig gegen die Tür. Sie paßte genau zwischen den Türgriff und ein scheinbar zufälliges Loch in dem Zementfußboden. Das ganze gab ein gutes Schloß ab.

»Ich zeige dir den Trick«, sagte er mit seinem Azteken-Grinsen. Mit der geübten Geste eines Zauberers zog er eine Art Flötpfeife aus der Tasche, der offenbar das Mundstück fehlte. Statt dessen hatte sie einen Lufttank, der durch eine kleine Handpumpe gefüllt wurde. »Die habe ich nicht gemacht«, versicherte er mir hastig. »Das Ding ist eine Galtonpfeife, aber ich weiß nicht, wer dieser Galton ist. Paß auf und hör zu.«

Er betätigte die Pumpe und deutete mit der Pfeife direkt auf Chicken Little. Ich vernahm keinen Ton, aber es überlief mich kalt, als sich das gummiartige Protoplasma halbkreisförmig nach innen wölbte, als wolle es vor der Pfeife fliehen. »Hab keine Angst, companero«, beruhigte er mich. »Folge mir nur.«

Er pumpte stärker und reichte mir eine Taschenlampe, die ich benommen anknipste. Herrera blies Chicken Little seine lautlosen Töne entgegen. Es reagierte, indem es sich weiter zurückzog, aus der Höhle wurde schließlich ein überwölbter Gang auf dem Betonboden.

Herrera betrat den Gang und sagte: »Folge mir.« Ich gehorchte, während mein Herz angstvoll klopfte. Er ging unter ständigem Pumpen Schritt für Schritt voran, der Bogengang wurde zur Kuppel. Der Eingang hinter uns wurde kleiner, kleiner und kleiner…

Wir befanden uns nun in einer halbkugelförmigen Blase, bewegten uns langsam durch einen hundert Tonnen schweren Klumpen graubraunen Gummifleisches hindurch. »Leuchte auf den Boden, companero«, befahl er. Auf dem Zement waren Linien, die wie zufällig aussahen, aber Herrera richtete sich nach ihnen. Wir gingen langsam weiter, und ich überlegte, was wohl geschehen würde, wenn die Galtonpfeife kaputtginge…

Nachdem wir uns eine Ewigkeit lang Zentimeter um Zentimeter vorangeschoben hatten, fiel der Schein der Taschenlampe auf einen metallenen Halbmond. Herrera blies weiter, die Blase wölbte sich und der Halbmond wurde zur Scheibe. Noch immer pumpend, stampfte Herrera dreimal auf den Boden. Die Scheibe öffnete sich wie ein Lukendeckel. »Du zuerst«, sagte er, und ich tauchte hinunter, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob ich nun hart oder weich landen würde. Es war eine weiche Landung; schaudernd blieb ich liegen. Einen Augenblick später landete Herrera neben mir, und die Luke über uns schloß sich. Er stand auf und massierte seinen Arm. »Harte Arbeit«, sagte er. »Ich pumpe und pumpe und höre nichts. Eines Tages wird es nicht mehr funktionieren, und ich merke es erst, wenn…« Wieder grinste er.

»George Groby«, stellte Herrera mich vor. »Das hier ist Ronnie Bowen.« Bowen war ein kleiner, phlegmatischer Verbraucher, dessen Kleidung erkennen ließ, daß er im Zentralbüro arbeitete. »Und das ist Arturo Denzer.« Denzer war sehr jung und sehr nervös.

Wir befanden uns in einem gutbeleuchteten kleinen Betonbüro mit Luftregeneratoren, Schreibtischen und Kommunikationsvorrichtungen.

Bowen führte die Unterhaltung. »Wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu können, Groby«, sagte er. »Herrera meint, Sie hätten Verstand. Wir wollen hier keinen ausführlichen Lebenslauf, ich brauche nur kurz Ihre persönlichen Daten.«

Ich nannte ihm Grobys Personalien, und er notierte sie. Sein Mund wurde schmal vor Mißtrauen, als ich den niedrigen Bildungsgrad angab. »Ich will ganz offen sein«, sagte er. »Sie sprechen nicht wie ein Ungebildeter.«

»Sie wissen doch, wie das ist«, sagte ich. »Ich habe meine Zeit mit Lesen und Beobachten verbracht. Es ist nicht leicht, mittleres Kind von fünf Geschwistern zu sein. Ich fühlte mich einsam und versuchte, meine Situation zu verbessern.«

Das akzeptierte er. »Gut, was können Sie also?«

»Ja… ich glaube, ich könnte zum Beispiel ein Kontaktblatt schreiben, das besser ist, als das, was augenblicklich verwendet wird.«

»Nun, ja. Und was noch?«

»Nun, Propaganda im allgemeinen. Sie könnten Gerüchte in Umlauf setzen, ohne daß die Leute überhaupt ahnen, daß sie von uns stammen. Gerüchte, die ein Unbehagen in ihnen wecken und sie wachrütteln.«

»Das ist ein sehr interessanter Aspekt. Nennen Sie mir doch ein Beispiel.«

Mein Gehirn funktionierte reibungslos. »Streuen Sie einfach im Speisesaal das Gerücht aus, man habe eine neue Methode der Proteinproduktion entwickelt. Behaupten Sie, es schmecke haargenau wie Roastbeef, und man könne es für einen Dollar pro Pfund kaufen. Behaupten Sie, in drei Tagen würde man es anbieten. Wenn drei Tage vergangen sind und von einem Angebot nicht die Rede sein kann, setzen Sie einen Witz in Umlauf. Zum Beispiel: ›Was ist der Unterschied zwischen Roastbeef und Chicken Little?‹ Antwort: ›Einhundertfünfzig Jahre Fortschritt.‹ So etwas bleibt hängen, und die Leute werden wehmütig an die alten Zeiten denken.«

Es fiel mir leicht. Nicht zum erstenmal warb ich für ein Produkt, das mir persönlich gleichgültig war.

Bowen tippte auf einer schallgedämpften Schreibmaschine. »Gut«, sagte er. »Sehr genial, Groby, das werden wir ausprobieren. Warum haben Sie gesagt ›drei Tage‹?«

Ich konnte ihm schlecht sagen, daß drei Tage die optimale Zündperiode ist, nach der die Auslösung durch eine katalytische Schlüsselphase stattfindet. Statt dessen sagte ich schlicht: »Ich hatte den Eindruck, das sei der richtige Zeitraum.«

»Gut, wir werden es versuchen. Groby, Sie werden jetzt studieren. Wir haben die klassischen Texte der Naturschutzbewegung hier, und die sollten Sie lesen. Wir haben ganz spezielle Publikationen, die für uns wichtig sind: Statistische Abhandlungen. Das Jahrbuch der Raumfahrt; Biometrika, Landwirtschaftliches Mitteilungsblatt und eine Menge anderer Bücher. Wenn Sie nicht weiter wissen, und das wird vermutlich häufig der Fall sein, fragen Sie. Zum Schluß sollten Sie sich dann ein Thema aussuchen, das Ihnen besonders gut liegt, und sich auf die Forschung spezialisieren. Ein informiertes W.N.G.-Mitglied ist ein nützliches Mitglied.«

»Warum ›Das Jahrbuch der Raumfahrt‹?« fragte ich mit wachsender Erregung. Plötzlich schien es eine Antwort zu geben: Runsteads Sabotage, meine Entführung, die endlosen Verzögerungen und Zusammenbrüche des Projektes. Waren es Natschu-Anschläge? Hatten die Natschus mit ihren exzentrischen, unlogischen Ansichten vielleicht beschlossen, daß der Raumflug mit dem Überleben nicht zu vereinbaren sei?

»Das ist sehr wichtig«, sagte Bowen. »Sie müssen alles mögliche darüber wissen.«

Ich tastete weiter. »Sie meinen, wir können die Sache vereiteln?«

»Natürlich nicht!« explodierte Bowen. »Guter Gott, Groby, überlegen Sie mal, was die Venus für uns bedeutet – ein unberührter Planet, mit allen Schätzen, die die Menschheit braucht, mit Feldern, Nahrung und Rohmaterial. Denken Sie nach, Mann!«

»Oh«, sagte ich. Der gordische Knoten blieb ungelöst.

Ich ging daran, ›Biometrika‹ zu lesen, und von Zeit zu Zeit bat ich um eine Erklärung, die ich nicht brauchte. Biometrie gehörte zu den alltäglichen Werkzeugen eines Texters. Es ging um Bevölkerungsverschiebungen, Veränderungen des Intelligenzquotienten, der Quote der Todesfälle und Todesursachen und so weiter. Fast jede Ausgabe enthielt gute Nachrichten für uns – Nachrichten, die diese Natschus mißbilligten.

Nach einer Weile machte ich mich an das ›Jahrbuch der Raumfahrt‹. Die Nachrichten waren schlecht – ja miserabel. Die Öffentlichkeit war apathisch; die Verknappung, die durch die Konstruktion der Venusrakete entstand, erzeugte mürrische Ablehnung; über die Errichtung einer Venuskolonie herrschten defätistische Ansichten: es war fraglich, ob die Kolonie überhaupt etwas nützen würde, wenn sie jemals zustande käme.

Dieser verdammte Runstead!

Aber die schlimmste Nachricht brachte das Titelblatt der neuesten Ausgabe. Die Schlagzeile lautete: »Jack O’Shea lächelt, als ihm eine hübsche Freundin nach der Verleihung der Ehrenmedaille durch den Präsidenten mit einem Kuß gratuliert.« Es war Kathy.

Ich wurde mit der Natschu-Zelle vertraut und machte Fortschritte. Innerhalb von drei Tagen brodelte überall Unzufriedenheit über das Essen. Nach einer Woche sagten die Verbraucher: »Ich wollte, ich wäre vor hundert Jahren auf die Welt gekommen… Ich wollte, dieser verdammte Schlafraum wäre nicht so überfüllt… Ich wollte, ich könnte irgendwo ein Stück Land bekommen und für mich allein arbeiten.« Die winzige Zelle war in gehobener Stimmung. Anscheinend hatte ich in einer Woche mehr getan als sie in einem Jahr. Bowen – er war in der Personalabteilung tätig – sagte zu mir: »Wir brauchen Ihren hellen Kopf, Groby. Sie werden sich nicht bis an Ihr Lebensende als Abschöpfer plagen müssen. In den nächsten Tagen wird der Chef Sie fragen, ob Sie etwas von Nahrungsmittelchemie verstehen. Sie werden Ja sagen. Ich gebe Ihnen einen Schnellkurs über das, was Sie wissen müssen. Dann kommen Sie wenigstens aus der Sonne.«

Das geschah nach Ablauf einer Woche, als jedermann sagte: »Wäre doch ganz hübsch, mal wieder im Wald spazieren zu gehen. Kannst du dir vorstellen, wie viele Bäume es damals gab?« und: »Diese verdammte Salzwasserseife!« – Zuvor war es niemandem in den Sinn gekommen, die Dinge von dieser Seite aus zu betrachten. Der Chef kam zu mir und sagte wie erwartet: »Groby! Verstehen Sie etwas von Nahrungsmittelchemie?«

»Seltsam, daß Sie fragen«, erwiderte ich. »Ich habe mich ein bißchen damit beschäftigt. Ich kenne die Sulphur-Phosphor-Carbon-Oxygen-Hydrogen-Nitrogen-Mischung für Chlorella, ich kenne die optimalen Temperaturen und dergleichen.«

Das war offensichtlich mehr als er selbst wußte. Er brummte: »Ja?« und ging beeindruckt davon.

Eine Woche später erzählte sich jedermann schmutzige Witze über den Starrzelius Verily Trust, und ich wurde befördert.

Ich hatte jetzt einen Acht-Stunden-Job und beaufsichtigte in der Kernsäule Meßgeräte und Ventile, die die Ernährungsflüssigkeit der Chlorellatanks kontrollierten. Es war leichte, einfache Arbeit. Ich verbrachte meine Zeit unter Chicken Little! – mit einer Galtonpfeife ausgerüstet konnte ich unter dem Koloß hindurchgehen, beinahe ohne mich bücken zu müssen – und schrieb das unglaublich naive Kontaktblatt Nummer Eins der Natschus um:


KÖNNEN SIE SICH FÜR EINE ERSTKLASSIGE POSITION QUALIFIZIEREN?

Sie und nur Sie allein können diese wichtigen Fragen beantworten:

Sind Sie intelligent, aufgeschlossen, im Alter zwischen 14 und 50 Jahren?

Besitzen Sie die Energie und den Ehrgeiz, die man braucht, um die wirklich guten Positionen ausfüllen zu können, die die Zukunft bringt?

Kann man Ihnen die größte, hoffnungsvollste Nachricht unserer Zeit anvertrauen – wirklich anvertrauen!

Wenn Sie nicht, ohne zu zögern, jede dieser Fragen mit JA! beantworten können, dann lesen Sie bitte nicht weiter!

Wenn Sie es jedoch können, dann besteht für Sie und Ihre Freunde oder Familie…


Und so weiter. Bowen war verblüfft. »Meinen Sie nicht, daß der Appell an die höhere Intelligenz zu sehr einschränkt?« fragte er besorgt. Ich erzählte ihm nicht, daß der einzige Unterschied zwischen Arbeitern der Klasse 12 und dem Durchschnitt darin bestand, daß erstere die Nachrichten nur hörten, weil sie nicht lesen konnten. Ich sagte nur, das sei meiner Ansicht nach nicht der Fall. Er nickte. »Sie sind der geborene Texter, Groby«, sagte er ernst. »In einem vom W.N.G. regierten Amerika wären Sie in der Starklasse.« Ich verhielt mich zurückhaltend. Er fuhr fort: »Ich kann Sie nicht hierbehalten; ich muß Sie an eine höhere Ebene weitergeben. Es wäre nicht richtig, Ihre Talente in einer kleinen Zelle zu vergeuden. Ich habe einen Bericht über Sie weitergereicht«, er deutete auf den Kommunikator, »und ich erwarte ständig, daß man Sie abberuft. Das wäre nur angemessen, auch wenn ich Sie nicht gern fortlasse, so ziehe ich doch bereits verschiedene Fäden für Sie. Hier ist das Handbuch des Chlorella-Einkäufers…«

Mein Herz klopfte wild. Ich wußte, daß Chlorella mit einer Anzahl von Absatzmärkten in New York Verträge abschloß.

»Vielen Dank«, murmelte ich. »Ich werde dort arbeiten, wo ich am meisten nützen kann.«

»Das weiß ich, Groby«, sagte er freundlich. »Hm – noch eins, bevor Sie gehen. Es ist nicht offiziell, George, aber – tja, ich schreibe auch ein wenig. Ich habe einige Arbeiten hier – Entwürfe könnte man sie wohl nennen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie mitnehmen und einmal hineinschauen…«

Schließlich konnte ich gehen, ausgerüstet mit dem Handbuch und nur vierzehn von Bowens ›Entwürfen‹. Es waren ungeschickte, schlechte kleine Texte, soweit ich sehen konnte, völlig unbrauchbar und ohne jeden Verkaufsappell. Bowen versicherte mir, er besitze noch eine ganze Reihe weiterer Texte, an denen er und ich feilen könnten.

Das Handbuch hatte ich mir sauer verdient.

Nach der Arbeit an den Ventilen fühlte ich mich abends frischer als nach einem Tag Schöpfen; und Bowen sorgte dafür, daß meine Natschu-Arbeit so leicht wie möglich war, um mir Zeit zu geben, an seinen Entwürfen zu arbeiten. Zum erstenmal hatte ich dadurch Zeit, meine Umwelt genauer zu studieren. Herrera nahm mich einmal mit in die Stadt, und ich entdeckte, was er an jenen Wochenenden, über die nie gesprochen wurde, wirklich tat. Ich war schockiert, ohne jedoch abgestoßen zu sein. Ich wurde daran erinnert, daß die Kluft zwischen leitenden Persönlichkeiten und dem einfachen Verbraucher nicht durch etwas so Abstraktes und Unwirkliches wie ›Freundschaft‹ überbrückt werden konnte.

Nachdem wir die altmodische Luftdruck-Untergrundbahn verlassen hatten und im Nieselregen standen, besuchten wir zuerst ein drittklassiges Restaurant und nahmen eine Mahlzeit ein. Herrera bestand darauf, für jeden von uns eine Kartoffel zu bestellen und weigerte sich, mich dafür bezahlen zu lassen – »Nein, Jorge, nenn es einfach eine Feier. Du hast mich weiterleben lassen, nachdem du das Kontaktblatt bekommen hast. Wir feiern jetzt.« Während des Essens war Herrera ein brillanter Gesellschafter, er unterhielt sich lebhaft in zwei Sprachen mit den Kellnern und mir. Das Funkeln seiner Augen, die schnelle, leidenschaftliche Sprechweise, das leichte, unvermittelte Lachen erinnerte an die Fröhlichkeit eines jungen Mannes, der einem Rendezvous entgegensieht.

Herrera beugte sich zu mir herüber und klopfte mir auf die Schulter; ich merkte, daß er und der Kellner lachten. Ich lachte zurückhaltend mit, und ihr Gelächter verdoppelte sich; offensichtlich ging der Scherz auf meine Kosten. »Mach dir nichts draus, Jorge«, sagte Herrera und wurde wieder ernst, »wir gehen jetzt. Ich glaube, was wir jetzt tun, wird dir gefallen.« Er zahlte und der Kellner hob eine Augenbraue.

»Nach hinten?«

»Nach hinten«, sagte Herrera. »Komm, Jorge.«

Wir bahnten uns einen Weg durch die Tische, der Kellner ging voran. Er öffnete eine Tür und zischte Herrera schnell ein paar Worte auf Spanisch zu. »Oh, mach dir deshalb keine Sorgen«, erwiderte Herrera. »Es wird nicht lange dauern.«

›Hinten‹ war – eine Bibliothek.

Ich spürte Herreras Blick auf mir ruhen, und ich glaube, man merkte mir nicht an, was ich empfand. Ich blieb sogar etwa eine Stunde bei ihm, während er eine abgegriffene Ausgabe von ›Moby Dick‹, so hieß das Buch, glaube ich, verschlang, und blätterte ein halbes Dutzend alte Zeitschriften durch. Einige dieser ehrwürdigen Klassiker waren sogar recht unterhaltsam – es gab tatsächlich eine alte Ausgabe von ›Machen auch Sie diese Fehler im Englischen?‹ und einige andere sehr schöne Exemplare, die sich gut an der Wand meines Büros bei Fowler Schocken gemacht hätten. Aber ich konnte mich in Gegenwart so vieler Bücher ohne eine einzige Anzeige nicht entspannen. Ich habe nichts gegen ausgefallene Vergnügen, solange sie zweckdienlich sind. Aber meine Toleranz hat Grenzen.

Herrera wußte vermutlich, daß ich log, als ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen. Als er sehr viel später zurückkehrte und in den Schlafraum kam, wandte ich den Kopf ab. Danach sprachen wir kaum noch miteinander.

Eine Woche später, nachdem im Speisesaal beinahe ein Aufstand ausgebrochen wäre – ausgelöst durch das Gerücht, die Hefestücke seien mit Sägespänen verfälscht – wurde ich ins Hauptbüro gerufen.

Nachdem ich eine Stunde gewartet hatte, kümmerte sich der Vizepräsident der Personalabteilung um mich. »Groby?«

»Ja, Mr. Milo.«

»Sie haben erstaunliche Fortschritte gemacht. Sehr bemerkenswert. Wie ich dem Rapport entnehme, sind Sie ein sehr tüchtiger Mann.«

Das war Bowens Werk. Er verfaßte die Berichte. Es hatte fünf Jahre gedauert, bis es ihm gelungen war, diesen Posten zu bekommen. »Vielen Dank, Mr. Milo.«

»Keine Ursache. Wir, hm, haben zufällig bald eine unbesetzte Stellung. Einer unserer Leute im Norden geht. Seine Leistung läßt offenbar merklich nach.«

Nicht seine Leistung – das, was hinter seiner Leistung stand; das, was Bowen über seine Leistung aussagte. Allmählich begann ich die ungewöhnliche Macht, die die Natschus an den Tag legten, zu schätzen.

»Haben Sie zufällig Interesse am Einkauf, Groby?«

»Merkwürdig, daß Sie gerade das fragen, Mr. Milo«, sagte ich ungerührt. »Es hat mir schon immer Spaß gemacht. Ich glaube, ich wäre ein guter Einkäufer.«

Er schaute mich skeptisch an; das war eine nichtssagende Antwort. Er begann, mich mit Fragen zu befeuern, und ich schoß entsprechend zurück, gab Antworten aus meinem Chlorella-Handbuch. Er hatte es vor mehr als zwanzig Jahren einmal auswendig gelernt, ich jedoch erst vor einer Woche. Er war kein gleichwertiger Gegner für mich. Nach einer Stunde war er überzeugt, George Groby sei Chlorellas große Hoffnung und müsse unverzüglich an die Front versetzt werden.

Am gleichen Abend berichtete ich der Zelle davon.

»Das bedeutet New York«, sagte Bowen zufrieden. »Das bedeutet New York.« Ich konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. Kathy, dachte ich. Unbekümmert fuhr er fort: »Ich muß Sie jetzt in einige besondere Dinge einweihen. Beginnen wir mit – den Erkennungszeichen.«

Ich erlernte die Erkennungszeichen. Es gab einen Händedruck für direkte Begegnungen, ein langgezogenes Rufzeichen für mittlere Entfernungen. Für große Projekte benutzte man einen Anzeigencode, und zwar einen ziemlich guten. Ich mußte die Zeichen üben und den Code auswendig lernen. Es dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Als wir Chicken Little verließen, merkte ich, daß ich Herrera den ganzen Tag nicht gesehen hatte. Ich fragte, als wir wieder draußen waren, was geschehen sei.

»Ausgeflippt«, erwiderte Bowen schlicht.

Ich schwieg. Es war eine Art Geheimsprache unter Natschus. »Der und der ist ausgeflippt«, bedeutete soviel wie: »Der und der hat jahrelang für die Sache der W.N.G. geschuftet. Er hat für sie auf all sein Geld und auf die wenigen Vergnügen, die er sich dafür hätte leisten können, verzichtet. Er hat nicht geheiratet und mit keiner Frau geschlafen, weil das die Sicherheit gefährdet hätte. Wurde dann aber von geheimen Zweifeln befallen, so geheim, daß er sie nicht einmal sich selbst oder uns eingestehen konnte. Die Zweifel und Ängste steigerten sich. Er war zu zerrissen, er legte Hand an sich und starb.«

»Herrera ist ausgeflippt«, sagte ich benommen.

»Grübeln Sie nicht darüber nach«, sagte Bowen. »Sie gehen nach Norden. Sie haben einen Auftrag.«

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