10.

Fast luxuriös kehrte ich nach New York zurück; ich trug einen billigen Anzug und befand mich an Bord einer Touristenrakete, Zwischendeck. Über mir brachen die respektablen Verbraucher von Costa Rica in Ahs und Ohs aus, wenn sie aus den Prismenfenstern schauten, andere zählten ängstlich ihre Pennies und überlegten, wieviel sie dafür im Norden kaufen konnten.

Wir im Zwischendeck waren eine schäbigere, ungehobeltere Bande, aber es war wenigstens kein Arbeitsfrachter. Es gab zwar keine Fenster, aber Licht, Verkaufsautomaten und Spucktüten.

Ohne Zwischenfall landeten wir in Montauk. Wir warteten zunächst, bis die Verbraucher der Touristenklasse ausgestiegen waren. Dann warteten wir, als die Zollinspektor mit den rot-weißen A-&-P-Armbinden lautstark mit den Stewards über die überzähligen Rationen diskutierten – vier von uns waren unterwegs gestorben, und die Stewards hatten die Chicken Little Karbonaden natürlich zurückbehalten, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Wir saßen da und warteten.

Schließlich erhielten wir Befehl auszusteigen. Wir stellten uns in einer Reihe auf, und man stempelte uns die Einreisegenehmigung aufs Handgelenk. Gruppenweise marschierten wir ab. Ich hatte Glück. Meine Gruppe bekam ein Frachtabteil.

An der Arbeitsbörse wurden wir ausgesucht und unserer jeweiligen Arbeit zugeteilt. Es entstand bange Unruhe, als sich herausstellte, daß Chlorella zwanzig Arbeitsverträge an I. G. Farben verkauft hatte – in den Uranminen will niemand arbeiten –, aber ich machte mir keine Sorgen.

Wir wurden ins Chlorelladepot im Vorort Nyack gebracht. Wie in jeder großen Stadt auf der Welt, führt unterhalb New Yorks ein Kanalisationsnetz zu einer Reihe von Sammelbecken und Schleusen. Wie jeder Bürger wußte ich, daß der organische Abfall von dreiundzwanzig Millionen Menschen durch das geäderte Netzwerk befördert wird; daß die Salze durch lonenaustausch neutralisiert, die flüssigen Rückstände den Tangfarmen im Long Island Sund zugeleitet, die festen Rückstände in Tankbarken gepumpt und zur Chlorella-Fabrik transportiert werden. Ich wußte das alles, hatte es jedoch noch nie gesehen.

Ich trug den Titel Verbindungskuppler, Klasse 0. Meine Aufgabe war es, die flexiblen Schläuche zu verbinden, durch die der Schlamm floß. Nach dem ersten Arbeitstag gab ich einen ganzen Wochenlohn für Anti-Ruß-Stöpsel aus; sie filterten zwar den Geruch nicht vollständig, machten ihn aber zumindest erträglicher.

Am dritten Tage hatte ich Schichtwechsel und ging als erstes in den Duschraum. Das hatte ich mir vorher überlegt: nach sechs Stunden im Tank, wo es keine Verkaufsautomaten gab, weil begreiflicherweise in dieser Atmosphäre niemand essen, trinken oder rauchen konnte, verweilten die Verbraucher, deren Gelüste solange unterdrückt worden waren, eine halbe Stunde beim Popsie-Crunchie-Starr-Zyklus, bevor der erste unter die Dusche ging. Ich unterdrückte mein Verlangen, das bei mir ja schwächer war als bei den meisten, weil es nicht so lange Zeit gehabt hatte, sich festzusetzen, und es gelang mir, fast allein in der Duschkabine zu sein. Als die anderen kamen, ging ich gerade an die Verkaufsautomaten. Es war einfach eine Frage der Intelligenz, und wenn das nicht der wesentliche Unterschied zwischen der Mentalität eines einfachen Verbrauchers und eines Texters ist, was sonst? Natürlich waren, wie gesagt, die Gewohnheiten in mir nicht so stark ausgeprägt.

Noch ein anderer Mann stand unter der Dusche, aber wir kamen kaum miteinander in Berührung. Als ich eintrat, reichte er mir die Seife; ich seifte mich ein und ließ das Wasser über meinen Körper rinnen. Ich merkte kaum, daß er anwesend war. Aber als ich ihm die Seife zurückgab, spürte ich seinen Mittelfinger an meinem Handgelenk, der Zeigefinger kreiste um meinen Daumen.

»Oh«, sagte ich verblüfft und erwiderte den Händedruck.

»Sind Sie mein Nat…«

»Psst!« zischte er. Er deutete ärgerlich auf das Abhörgerät, das von der Decke herunterhing. Er wandte mir den Rücken zu und seifte sich noch einmal gründlich ein.

Als er mir die Seife zurückgab, klebte ein Stück Papier daran. Im Umkleideraum drückte ich das nasse Papier aus und glättete es. Darauf stand: »Heute ist Ausgang. Gehen Sie zum Metropolitan Museum, Abteilung Klassik. Warten Sie vor der Frauenbüste beim Eingang zur Sonderausstellung, genau fünf Minuten bevor geschlossen wird.«

Sobald ich angekleidet war, stellte ich mich mit den anderen am Tisch des Aufsichtsführenden an. In weniger als einer halben Stunde besaß ich einen gestempelten Ausweis, der mich dazu berechtigte, abends den Zapfenstreich zu überschreiten. Ich kehrte zu meiner Koje zurück und holte meine Habseligkeiten, warnte den neuen Besitzer des Bettes, daß der Mann im Bett über ihm im Schlaf sprach, gab meinen Schlafsack im Versorgungsraum ab und erwischte gerade noch den Zug nach Bronxville. Ich stieg um in eine Lokalbahn, die nach Norden führte, bog dann nach Süden ab und stieg beim Fowler-Schocken-Hochhaus aus. Anscheinend folgte mir niemand. Ich hatte es auch nicht erwartet, aber man soll sich nie auf sein Glück verlassen.

Mein Natschu-Rendezvous im Museum sollte erst in vier Stunden stattfinden. Ich hielt mich in der Lobby auf, bis ein Polizist, der verächtlich meine billige Kleidung musterte, auf mich zukam. Ich hatte gehofft, Hester oder vielleicht sogar Fowler Schocken selbst würden hier vorbeikommen; aber ich hatte kein Glück. Ich sah natürlich viele bekannte Gesichter, aber keines schien mir vertrauenswürdig genug. Und bevor ich nicht wußte, was hinter dem Schwindel vom Starrzelius-Gletscher steckte, hatte ich nicht vor, jemandem auf die Nase zu binden, daß ich noch lebte.

Der Mann von der Pinkerton Detektei brüllte mich an:

»Wollen Sie Fowler Schocken etwa Arbeit bringen? Haben Sie vielleicht einen dicken Fisch für die Agentur?«

»Verzeihung«, sagte ich und strebte der Ausgangstür zu. Ich vermutete, daß er mir nicht durch die belebte Halle folgen würde, und ich hatte recht. Ich schlenderte durch den Erfrischungsraum, wo sich eine Verbrauchergruppe eine Liebesgeschichte von GravNon anschaute und Probetassen Coffiest erhielt, und glitt in den Dienstaufzug. »Achtzigster Stock«, sagte ich zum Liftführer und merkte sofort, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Die Stimme aus der Zentrale klang scharf durch das Sprechgitter:

»Dienstaufzüge gehen nur bis ins siebzigste Stockwerk. Sie da in Kabine fünf. Was wollen Sie?«

»Ich bin Bote«, log ich nicht sehr überzeugend. »Ich soll aus Fowler Schockens Büro etwas abholen. Ich hab gleich gesagt, daß man einen Kerl wie mich nicht in Mr. Schockens Büro läßt. Ich habe gesagt: ›Mann, der hat sicher fünfundzwanzig Sekretärinnen, an denen ich erst vorbei muß, bis ich ihn sprechen kann‹, habe ich gesagt…«

»Der Postraum ist im fünfundvierzigsten«, sagte die Stimme ein wenig freundlicher. »Stellen Sie sich vor die Tür, damit ich Sie sehen kann.«

Ich stellte mich vor das Ikonoskop. Es gefiel mir nicht, aber was sollte ich tun? Ich glaubte, ein Geräusch zu hören, war mir dessen aber nicht sicher. Ich war noch nie in der tausend Fuß unter mir liegenden Fahrstuhlzentrale gewesen, in der die Knöpfe betätigt wurden, die die Kabinen in den verzahnten Schächten hinauf- und hinunterjagten, aber ich hätte ein Jahresgehalt dafür gegeben, jetzt hineinschauen zu können.

Eine halbe Minute wartete ich. Dann sagte die Stimme unverbindlich. »Gut, gehen Sie zurück in die Kabine. Fünfundvierzigstes Stockwerk, erste Tür links.«

Die übrigen Leute in der Kabine starrten mich durch einen Schleier von Coffiest-Alkaloid an, bis ich ausstieg. Ich betrat das Laufband, das nach links führt, ging an der Tür mit der Aufschrift ›Postraum‹ vorbei bis zur Abzweigung, wo das Laufband aufhört. Es dauerte eine Weile, bis ich die Treppe gefunden hatte, aber das war nicht weiter schlimm. Ich brauchte Zeit, um meine Flüche loszuwerden. Ich wagte nicht, noch einmal einen Fahrstuhl zu betreten.

Sind Sie schon einmal vierunddreißig Stockwerke gestiegen?

Als ich fast oben war, fiel mir das Steigen schwer. Mein Körper schmerzte vom Zeh bis zum Nabel und ich verschwendete meine ohnehin knappe Zeit. Außerdem war es schon fast zehn Uhr, so daß die Verbraucher, die hier auf den Treppen übernachteten, allmählich eintrafen. Ich war so vorsichtig wie möglich, aber im vierundsiebzigsten Stockwerk kam es beinahe zu einem Handgemenge, weil der Mann auf der dritten Stufe längere Beine hatte als ich dachte.

Oberhalb des achtundsiebzigsten Stockwerks waren glücklicherweise keine Schläfer mehr; ich befand mich im Verwaltungsgebiet.

Ich schlich durch die Gänge und wußte sehr genau, daß die erste Person, der ich auffiele, mich entweder erkennen oder hinauswerfen würde. Es befanden sich nur Angestellte auf den Fluren, und keinen von ihnen kannte ich näher; das Glück war offenbar auf meiner Seite.

Aber nicht mehr lange. Fowler Schockens Büro war verschlossen.

Ich glitt ins Büro seiner Sekretärin, das verlassen dalag, und überlegte. Nach der Arbeit war Fowler gewöhnlich im Club und spielte ein wenig Golf. Es war zwar schon ziemlich spät, aber ich wollte es riskieren – bis zum Club waren es nur noch vier Stockwerke.

Ich überstand die Strapaze. Der Club ist geschmackvoll eingerichtet, und das ist nur recht und billig, denn der Beitrag ist nicht gerade niedrig. Außer dem Golfplatz, dem Tennisplatz und den anderen Sportanlagen besteht der gesamte Nordteil des Raumes aus Wald – es gibt mehr als ein Dutzend herrlich nachgebildete Bäume – und mindestens zwanzig Erholungskabinen zum Lesen, Fernsehen und zu anderen unterhaltsamen Dingen.

Eine gemischte Vierergruppe spielte Golf. Ich näherte mich ihnen so unaufällig wie möglich. Sie waren intensiv mit ihren Skalen und Knöpfen beschäftigt, von denen sie gerade zum zwölften Loch dirigiert wurden. Mit sinkendem Mut las ich die Punkte an der Tafel; sie lagen alle hoch in den neunzigern. Idioten. Fowler Schockens Durchschnitt lag unter achtzig. In einer solchen Gruppe konnte er unmöglich mitspielen, und als ich näherkam stellte ich fest, daß ich die beiden Männer der Gruppe nicht kannte.

Ich zögerte, bevor ich mich zurückzog, und versuchte mich zu entscheiden, was als nächstes zu tun sein. Schocken war weit und breit nicht zu entdecken. Vielleicht saß er in einer der Erholungskabinen, doch ich konnte unmöglich alle Türen öffnen, um nachschauen; man würde mich sofort hinausgeworfen haben, wenn ich eine besetzte Kabine betreten hatte; es sei denn, das Glück wäre mir hold und Fowler hätte drinnen gesessen.

Die Unterhaltung der Golfspieler erregte meine Aufmerksamkeit. Eines der beiden Mädchen hatte gerade mit einem vorsichtigen Schlag den Ball ins Loch befördert; sie lächelte glücklich, als die anderen ihr gratulierten und beugte sich vor, um den Hebel zu bedienen, der die mechanischen Spieler bewegte; ich erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht. Es war Hester, meine Sekretärin.

Nun war alles einfach. Ich konnte mir zwar nicht so recht vorstellen, wie Hester in den Club gekommen war; aber ich wußte alles andere, was man über Hester wissen mußte. Ich zog mich in eine Nische in der Nähe der Eingangstür zur Damentoilette zurück; es dauerte nur zehn Minuten bis sie erschien.

Sie fiel natürlich in Ohnmacht. Ich fluchte, trug sie in die Nische, wo sich eine Couch befand und legte sie dort nieder. Dann schloß ich die Tür.

Sie blinzelte, als sie wieder zu sich kam. »Mitch«, sagte sie in einem Ton, der zwischen Flüstern und Schreien lag. »Ich bin nicht tot«, sagte ich. »Jemand anders ist gestorben, und man hat die Leichen vertauscht. Ich weiß nicht, wer ›man‹ ist, aber ich jedenfalls bin nicht tot. Ja, ich bin’s wirklich. Mitch Courtenay, Ihr Chef. Ich kann es beweisen. Erinnern Sie sich zum Beispiel an die Weihnachtsfeier im vergangenen Jahr, als Sie sich so große Sorgen machten…«

»O ja«, sagte sie hastig. »Mein Gott, Mitch – ich meine Mr. Courtenay…«

»Mitch genügt«, sagte ich. Ich ließ die Hand los, die ich massiert hatte, und sie richtete sich auf, um mich besser sehen zu können. »Hören Sie zu«, sagte ich. »Ich lebe, aber ich stecke in einem verzwickten Schlamassel. Ich muß mich mit Fowler Schocken in Verbindung setzen. Können Sie das bewerkstelligen – auf der Stelle?«

»Hm«, sie schluckte und griff nach einer Zigarette. Automatisch nahm ich mir eine Starr. »Nein, Mitch, geht nicht. Mr. Schocken ist auf dem Mond. Es ist ein großes Geheimnis, aber ich glaube, Ihnen kann ich es ruhig verraten. Es hängt mit dem Venusprojekt zusammen. Nachdem Sie gestorben waren – na ja, Sie wissen, was ich meine –, danach jedenfalls beschloß er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich habe ihm Ihre ganzen Notizen gegeben. Eine bezog sich auf den Mond, glaube ich; na ja, vor ein paar Tagen ist er jedenfalls abgeflogen.«

»Verdammt«, sagte ich. »Wer vertritt ihn denn hier? Harvey Bruner? Können Sie ihn erreichen?«

Hester schüttelte den Kopf. »Nein; nicht Mr. Bruner, Mitch. Mr. Runstead vertritt ihn. Mr. Schocken ist so überstürzt abgereist, daß niemand außer Mr. Runstead seinen Posten übernehmen konnte. Aber ich kann ihn sofort erreichen.«

»Nein«, sagte ich, blickte auf die Uhr und stöhnte. Ich konnte es gerade noch rechtzeitig bis zum Museum schaffen. »Hören Sie«, sagte ich. »Ich muß wieder fort. Sagen Sie keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen, verstanden? Ich denke mir etwas aus und rufe Sie wieder an. Wie machen wir alles am besten – sagen Sie, wie war noch der Name des Arztes Ihrer Mutter? – ja, ich melde mich dann als Dr. Gallant. Und ich verabrede einen Termin mit Ihnen und sage Ihnen dann alles weitere. Ich kann doch auf Sie zählen, Hester?«

»Gewiß, Mitch«, sagte sie atemlos.

»Fein«, erwiderte ich. »Jetzt müssen Sie mich im Fahrstuhl hinunterbringen. Ich habe keine Zeit zum Treppensteigen, und es gibt Schwierigkeiten, wenn jemand wie ich auf dem Korridor zum Club erwischt wird.« Ich schwieg und schaute sie an. »Dabei fällt mir ein«, sagte ich, »was um alles in der Welt tun Sie eigentlich hier?«

Hester errötete. »Na, Sie wissen doch, wie das ist«, sagte sie unglücklich. »Als Sie fort waren, war kein anderer Posten für eine Sekretärin frei; die übrigen Abteilungsleiter hatten ihre Mädchen, und ich konnte ja nicht einfach wieder Verbraucher werden, Mitch, nicht mit all den Rechnungen und so weiter. Und – nun, da ergab sich eben diese Möglichkeit…«

»Ach so«, sagte ich. Ich hoffte, daß mein Gesichtsausdruck nicht verriet, was ich dachte; jedenfalls gab ich mir große Mühe.

»Keine Angst, Hester«, sagte ich freundlich. »Ich stehe in Ihrer Schuld. Und verlassen Sie sich darauf, Sie werden mich nicht daran erinnern müssen. Ich bringe alles in Ordnung.« Und ich wußte auch schon genau, wie. Vielen der Mädchen, die unter ZZ-Vertrag stehen, gelingt es, die automatische Umbesetzung und Degradierung zu umgehen. Es würde für mich verdammt schwer werden, sie vor Ablauf des Jahres vom Vertrag zu lösen, das käme also nicht in Frage; aber einige Mädchen hatten nach ihrem ersten Jahr bei einzelnen Abteilungsleitern ein ganz gutes Leben. Und meine Position war so bedeutend, daß es kaum einer wagen würde, einen Hinweis von mir zu ignorieren oder sie gar schlecht zu behandeln.

Hester bestand darauf, mir etwas Geld zu leihen; ich fuhr also mit einem Taxi zum Museum. Obgleich ich den Fahrer im voraus bezahlt hatte, konnte er sich eine ungehörige Bemerkung über Verbraucher, die über ihre Verhältnisse leben, nicht verkneifen; hätte ich nicht wichtigere Dinge im Kopf gehabt, hätte ich ihm auf der Stelle eine Lektion erteilt.

Ich hatte schon immer eine Schwäche für das Metropolitan. Ich mache mir nicht viel aus Religion – zum Teil vermutlich, weil Religion von Taunton betreut wird – aber die großen alten Meisterwerke des Museums umgibt eine feierliche, erhebende Atmosphäre, die mich immer friedlich und ehrfürchtig stimmt. Ich stellte fest, daß ich ein paar Minuten zu früh dort war. Die verbrachte ich schweigend vor der Büste G. Washington Hills, und ich fühlte mich so entspannt wie nie seit jenem ersten Nachmittag am Südpol.

Genau fünf Minuten vor Mitternacht stand ich vor der großen Frauenbüste, Katalognummer fünfunddreißig, als ich merkte, daß jemand auf dem Gang hinter mir pfiff. Die Melodie spielte keine Rolle; die Kadenz bildete ein Erkennungszeichen, das ich in dem Versteck unter Chicken Little erlernt hatte.

Eine Wärterin entfernte sich. Sie warf einen Blick über die Schulter und lächelte mir zu.

Für einen Außenstehenden muß es wie eine zufällige Begegnung ausgesehen haben. Wir hakten uns ein, und ich spürte den Druck ihrer Finger an meinem Handgelenk, als sie mir per Code mitteilte: »Nicht sprechen, wenn ich Sie allein lasse. Gehen Sie in den hinteren Raum und warten Sie.«

Ich nickte. Sie führte mich an eine Kunststofftür, öffnete sie, deutete hinein. Ich trat allein in den Raum.

Da saßen zehn bis fünfzehn Verbraucher auf Stühlen mit geraden Lehnen und blickten auf einen älteren Verbraucher mit gelehrtenhaft aussehendem Spitzbart. Ich fand einen Platz im hinteren Teil des Raumes und setzte mich. Niemand schenkte mir besondere Aufmerksamkeit.

Der Vortragende sprach über die Glanzlichter einer besonders langweiligen präkommerziellen Periode. Ich hörte mit halbem Ohr zu und versuchte, eine Ähnlichkeit zwischen all den verschiedenen Typen festzustellen. Alle waren Verbraucher und trugen den gequälten Gesichtsausdruck, den Sojaburger und Hefebonbons unvermeidlich hinterlassen; aber ich wäre an jedem von ihnen auf der Straße vorübergegangen, ohne mich umzuschauen. Und doch – dies war New York, und Bowen hatte angedeutet, daß die Natschus, denen ich hier begegnen würde, einen ziemlich hohen Rang bekleideten, die Trotzkis und Tom Paines der Bewegung.

Noch ein anderer Gedanke ging mir durch den Kopf. Sobald ich aus diesem Schlamassel herauskäme – sobald ich Fowler Schocken erreichte und meine Situation klärte – , wäre ich vermutlich in der Lage, diese ganze verdammte Verschwörung aufzudecken, vorausgesetzt, ich spielte meine Karten richtig. Ich schaute mir die Anwesenden genauer an, prägte mir ihre Züge ein. Ich wollte sie wiedererkennen, wenn ich noch einmal mit ihnen in Berührung käme.

Es muß irgendein Signal gegeben worden sein, das mir entgangen war. Der Vortragende schwieg fast mitten im Satz, und ein untersetzter kleiner spitzbärtiger Mann in der ersten Reihe erhob sich. »Gut«, sagte er im Gesprächston, »wir sind jetzt alle anwesend, und es lohnt sich nicht, noch mehr Zeit zu verschwenden. Wir sind gegen jede Verschwendung; darum sind wir ja hier.« Er betrat das niedrige Podium. »Kein Lärm«, mahnte er, »keine Namen. Wir werden Nummern verwenden. Sie nennen mich ›eins‹, Sie sind ›zwei‹«, deutete auf den Mann, der neben ihm saß, »und so weiter, der Reihe nach. Alles klar? Gut, hören Sie jetzt genau zu. Wir haben uns hier versammelt, weil Sie alle neu sind. Sie befinden sich jetzt in den hohen Rängen. Dies ist das Welt-Operationshauptquartier, hier mitten im Herzen von New York; höher geht’s nicht mehr. Jeder einzelne von Ihnen wurde aus einem bestimmten Grunde, aufgrund einer speziellen Fähigkeit ausgewählt. Darüber wissen Sie ja selbst am besten Bescheid. Sie alle bekommen heute noch Anweisungen. Bevor Sie sie jedoch ausführen, möchte ich auf eines hinweisen. Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht; über jeden einzelnen von Ihnen liegt ein hervorragender Bericht der letzten Zelle vor, aber die Leute draußen sind manchmal ein wenig zu enthusiastisch. Wenn sie sich in Ihnen getäuscht haben… Nun, Sie verstehen mich, ja?«

Alle nickten. Ich nickte auch und versuchte angestrengt, mir diesen gedrungenen kleinen Spitzbärtigen ganz besonders gut einzuprägen. Wir nannten unsere Nummer, die Neuen erhoben sich nacheinander, sprachen kurz mit dem Spitzbärtigen und verließen zu zweit oder dritt mit unbekanntem Ziel den Raum. Ich wurde als Vorletzter aufgerufen; außer mir befand sich nur noch ein sehr junges, etwas schielendes Mädchen mir rotem Haar im Raum.

»Ihr zwei«, sagte der Spitzbärtige. »Ihr werdet beide zusammenarbeiten und könnt eure Namen erfahren. Groby, das ist Corvin. Groby ist so etwas wie ein Texter, Celia ist Künstlerin.«

»Hm«, sagte sie und zündete sich mit der Glut ihrer Zigarette eine neue Starr an. Sie wäre der vollkommene Verbrauchertyp, wenn diese Eiferer sie nicht verdorben hätten.

»Wir werden gut miteinander auskommen«, sagte ich aufmunternd.

»Sicher«, sagte der Spitzbärtige. »Das müssen Sie auch. Sie verstehen das, Groby. Damit Sie eine Möglichkeit haben, Ihr Talent zu beweisen, müssen wir Ihnen vieles offenbaren, was wir nicht gerade in der Morgenzeitung lesen möchten. Wenn Sie unsere Erwartungen nicht erfüllen Groby«, sagte er freundlich, »dann stecken wir in einer bösen Klemme und müssen uns etwas anderes für Sie ausdenken.« Er schlug gegen ein kleines Fläschchen mit farbloser Flüssigkeit, das auf dem Pult stand. Das leichte Rasseln des Aluminiumverschlusses klang ebenso schwach wie meine Stimme, als ich sagte: »Ja, Sir.« Ich wußte, was ein kleines Fläschchen mit farbloser Flüssigkeit enthält.

Es stellte sich jedoch heraus, daß es keine wirklichen Probleme gab. Ich verbrachte drei anstrengende Stunden in dem kleinen Raum, wies dann darauf hin, daß ich, falls ich nicht gleich zu den Baracken zurückkehrte, den Morgenappell verpassen würde. Also ließ man mich gehen.

Aber ich verpaßte dennoch den Morgenappell. Als ich aus dem Museum trat, empfing mich ein herrlicher Frühlingsmorgen; ich war alles in allem mit dem Leben zufrieden. Eine Gestalt löste sich aus dem Nebel und starrte mir ins Gesicht. Ich erkannte den Taxifahrer, der mich zum Museum gebracht hatte. Er sagte munter: »Hallo, Mr. Courtenay«, dann fiel mir der Obelisk, der vorm Museum stand, oder ein ähnlich schwerer Gegenstand auf den Kopf.

Загрузка...