Das Abschöpfen war schnell gelernt. Man stand bei Morgengrauen auf. Verschlang sein Frühstück – ein Stück Chicken Little, das mit Coffiest hinuntergespült wurde. Zog seinen Overall über und fuhr mit dem Frachtnetz in sein Stockwerk. In der brüllenden Hitze schritt man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die flachen, mit Algen verkrusteten Tanks. Wenn man langsam ging, fand man etwa alle dreißig Sekunden ein Bündel reifer Algen voll köstlicher Kohlenhydrate. Man schöpfte das Bündel mit dem Sieb ab und warf es in den Trichter. Dort wurde es zu Ballen gepreßt und zu Futter für Chicken Little oder zu Glukose verarbeitet.
Chicken Little ist für alle Menschen von Baffinland bis Klein-Amerika ein wichtiges Nahrungsmittel. Jede Stunde konnte man einmal aus der Feldflasche trinken und eine Salztablette schlucken. Alle zwei Stunden hatte man fünf Minuten Pause. Bei Sonnenuntergang zog man den Overall wieder aus und ging zum Essen – wieder ein Stück Chicken Little – , dann hatte man frei. Man konnte sich unterhalten, lesen, sich vor dem Hypnoteleapparat im Tagesraum in Trance versetzen lassen, man konnte einkaufen gehen, einen Streit vom Zaun brechen, oder man konnte schlafen gehen.
Meistens legte man sich schlafen.
Ich schrieb viele Briefe und versuchte, viel zu schlafen. Der Zahltag kam überraschend schnell. Ich hatte keine Ahnung, daß bereits zwei Wochen vergangen waren. Ich schuldete Chlorella Protein jetzt nur noch etwas über achtzig Dollar. Außer den diversen Schuldscheinen, die ich unterschrieben hatte, gab es noch den Wohlfahrtsfond der Angestellten (soweit ich herausbekommen konnte, hieß das, daß ich für Chlorella die Steuern zahlte); Gewerkschaftsbeiträge und Einstandsgebühr; Steuerabgaben (diesmal meine eigenen); Versicherung für Krankenhausaufenthalt (aber versuch mal reinzukommen, sagten die Älteren unter uns) und Altersversicherung.
Ein gewisser, wenn auch schwacher Trost war für mich der Gedanke, daß ich, sobald ich wieder herauskäme – mit besonderer Betonung auf dem sobald – den Verbraucher besser kennen würde als jeder andere aus der Werbebranche. Natürlich gab es auch bei Fowler Schocken einfache Verbraucher, meist Stipendiaten aus den unteren Schichten; aber ich wußte jetzt, daß sie zu aufgeblasen waren, als daß sie einem die tatsächlichen Fakten über das Leben und Denken der einfachen Verbraucher mitgeteilt hätten. Oder vielleicht wagten sie nicht einmal, sich selbst einzugestehen, was sie einmal gewesen waren.
Ich glaube, ich begriff, daß Anzeigen stärker auf das Unterbewußtsein wirken, als selbst wir Professionellen je geglaubt hatten. Es schockierte mich, wiederholt zu hören, daß man von der Werbung einfach als ›der Quatsch‹ redete. Zuerst war ich verwirrt, doch dann stellte ich befriedigt fest, daß sie trotzdem ihre Wirkung nicht verfehlte. Mein größtes Interesse galt natürlich der Reaktion auf das Projekt der Venusrakete. Eine Woche lang beobachtete ich, so oft es mir möglich war, die wachsende Begeisterung dieser Menschen, die nie zur Venus würden reisen können, und die niemanden kannten, der je zur Venus fahren würde. Ich hörte, wie sie über die Verse lachten, die wir von Fowler Schocken AG in Umlauf gebracht hatten, die alle die verschlüsselte Botschaft trugen, die Venus steigere die männliche Potenz. Ben Winstons Unterabteilung ›Volksgut‹ war, wie ich immer betont hatte, eine der wichtigsten Abteilungen des gesamten Schocken-Unternehmens. Ihre Stärke lag in Wortspielen, in derbem Humor und Sex. Und der stärkste Antrieb der menschlichen Rasse ist nun einmal Sex. Und was ist im Grunde wichtiger im Leben, als die reißenden Tiefenströmungen menschlicher Emotionen in die richtigen Bahnen zu lenken?
Es steht außer Zweifel, daß man mit der Methode, die Verkaufsbotschaft mit einem der großen primären Triebe des Menschen zu verbinden, mehr erreicht als lediglich eine Verkaufssteigerung bestimmter Güter; der Trieb selbst wird dadurch verstärkt, er artikuliert sich und wird gleich auf ein Objekt bezogen. Und daher sind wir überzeugt vom stetigen jährlichen Kundenzuwachs, der für Expansionen so wesentlich ist.
Erfreut stellte ich fest, daß sich Chlorella in dieser Hinsicht außerordentlich intensiv um das Wohlergehen seiner Arbeiter kümmerte. Das Essen enthielt eine angemessene Hormonbeimengung, und im fünfzigsten Stockwerk befand sich ein Erholungsraum mit tausend Betten. Die Gesellschaft stellte eine einzige Bedingung, und zwar die, daß Kinder, die auf dem Werksgelände geboren wurden, automatisch Chlorella verpflichtet wurden, wenn ein Elternteil am zehnten Geburtstag des Kindes noch im Werk angestellt war. Aber ich hatte keine Zeit für den Erholungsraum. Ich lernte mich zurechtfinden, studierte das Mileu, wartete auf eine günstige Gelegenheit. Wenn diese Gelegenheit nicht bald käme, würde ich nachhelfen; aber zunächst mußte ich genau beobachten und lernen.
Einstweilen hielt ich die Ohren offen, um mich über die Ergebnisse der Venuskampagne zu informieren. Es lief vorzüglich – eine Zeitlang wenigstens. Die Verse, die manipulierten Artikel in den Zeitschriften, die fröhlichen kleinen Lieder taten ihre Wirkung.
Dann trat eine Veränderung ein.
Ich stellte einen Abwärtstrend fest. Es dauerte einen Tag, bis ich es bemerkte, und eine Woche, bis ich glauben konnte, daß es stimmte. Das Wort ›Venus‹ verschwand aus der Unterhaltung. Wenn die Raumrakete überhaupt erwähnt wurde, dann in Verbindung mit Begriffen wie ›Strahlungsverseuchung‹, ›Steuern‹, ›Opfer‹. Es gab eine neue Form von Volksgut-Parolen – »Kennst du schon die Geschichte von dem blöden Kerl, der in seinem Raumanzug steckenblieb?«
Man konnte diese Vorgänge nicht ohne weiteres erkennen, und Fowler Schocken hatte bei der Durchsicht der täglichen Zusammenfassung der Auszüge schematisierter Berichte über die Fortschrittstabellen des Venus-Projekts überhaupt keine Möglichkeit, das vorliegende Material in Frage zu stellen oder anzuzweifeln. Ich aber kannte das Venus-Projekt. Und ich wußte, was los war.
Matt Runstead hatte das Projekt übernommen.
Der Fürst in Schlafraum Zehn war Herrera. In den zehn Jahren, die er bei Chlorella arbeitete, hatte er seinen Weg nach oben gemacht – topographisch nach unten – und zwar hatte er es bis zum Meister-Schneider gebracht. Er arbeitete in dem großen, kühlen unterirdischen Gewölbe, wo Chicken Little wuchs, das von ihm und anderen Handwerkern geschnitten wurde. Er schwang eine Art zweischneidiges Schwert, das große Gewebestücke abschnitt, die dann von den in der Hierarchie weiter unten stehenden Packern und Trimmern und deren Gehilfen gewogen, geformt, eingefroren, gekocht, gewürzt, verpackt und in alle Welt verschifft wurde. Herrera war kein einfacher Arbeiter. Er war der verantwortliche Mann für Chicken Little. Chicken Little wuchs und wuchs schon seit Jahrzehnten. Es hatte als ein Klumpen Herzgewebe begonnen und tat nichts anderes, als ständig um einen Fremdkörper herum zu wachsen. Es erfüllte das Betongewölbe mit seinem Wuchs und spaltete und verdichtete seine Zellen. Solange es Nahrung erhielt, wuchs es unermüdlich weiter. Herrera sorgte dafür, daß es rund und dick wurde, daß kein Gewebe alt und zäh wurde, bevor es abgeschnitten wurde, und daß alle Seiten ›gleichmäßig behandelt‹ wurden.
Diese Verantwortung wurde angemessen bezahlt, trotzdem hatte Herrera keine Frau und keine Wohnung in einer der oberen Etagen. Er unternahm Ausflüge, die Gegenstand obszöner Unterhaltungen waren, während er unterwegs war – in seiner Gegenwart jedoch sprach man nur ausgesprochen höflich darüber. Er trug sein zweischneidiges Messer stets bei sich und wetzte die Schneide sorgfältig an einem Schleifstein. Diesen Mann mußte ich kennenlernen. Er hatte Geld, und ich brauchte es.
Das Schema vom Arbeitsvertrag B war mir inzwischen klar. Man wurde seine Schulden niemals los. Teil des Systems war, daß man ohne weiteres Kredite bekam, desgleichen die vielen Verlockungen, die einen praktisch zwangen, von allen Krediten Gebrauch zu machen. Wenn ich pro Woche mehr als zehn Dollar im Rückstand blieb, schuldete ich Chlorella am Ende meines Kontraktes eintausendeinhundert Dollar und müßte weiterarbeiten, bis die Schuld getilgt wäre. Und während ich arbeitete, würden sich neue Schulden anhäufen.
Ich brauchte Herreras Geld, um mir den Weg aus der Chlorellafabrik zurück nach New York freizukaufen: Kathy, meine Frau; das Venusprojekt, meine Arbeit. Runstead tat Dinge, die mir nicht gefielen. Und Gott allein wußte, was Kathy tat, die unter dem Eindruck stehen mußte, ich sei tot. Ich bemühte mich, besonders an eines nicht zu denken: an Jack O’Shea und Kathy. Der kleine Mann hatte eine Menge nachzuholen.
Es hieß, er habe es auf seinen Vortragsreisen zu absoluten Rekorden gebracht. Das gefiel mir nicht. Mir gefiel auch nicht, daß er Kathy mochte, und daß Kathy ihn mochte.
Und wieder verging ein Tag; aufstehen im Morgengrauen, Frühstück, Overalls und Schutzbrille, Frachtnetz, abschöpfen und in den Trichter schleudern; eine glühendheiße Stunde nach der anderen; Essen, dann Aufenthaltsraum und, wenn es sich einrichten ließ, eine kurze Unterhaltung mit Herrera.
»Eine feine Schneide hat das Messer, Gus. Es gibt nur zwei Sorten von Menschen auf der Welt: diejenigen, die sich nicht um ihr Werkzeug kümmern, und dann die Klugen.« Er warf mir einen mißtrauischen Blick aus seinen Aztekenaugen zu. »Zahlt sich aus, alles gründlich zu machen. Du bist neu, nicht?«
»Ja. Zum erstenmal hier. Was meinst du, soll ich bleiben?«
Er begriff nicht. »Du mußt. Der Vertrag.« Damit ging er zum Zeitungsständer.
Morgen war auch ein Tag.
»Hallo, Gus. Müde?«
»Hallo, George. Ja, ein bißchen. Zehn Stunden das Messer geschwungen. Das geht in die Arme.«
»Kann ich mir vorstellen. Abschöpfen ist leicht, dazu braucht man keinen Verstand.«
»Naja, eines Tages wirst du vielleicht befördert. Ich werde mich ein bißchen vor den Hypnoteleapparat setzen.«
Und am nächsten Tag:
»Hallo, George. Wie geht’s?«
»Kann nicht klagen, Gus. Zumindest werde ich schön braun.«
»Das kann man wohl sagen. Bist bald so dunkel wie ich. Haha! Wie findest du das?«
»Porque no, amigo?«
»He, tu hablas espanol! Cuando aprendiste la lenqua?«
»Nicht so schnell, Gus. Nur ein paar Worte hier und da. Ich wünschte, ich könnte mehr. Eines Tages, wenn ich ein paar Lappen auf die Seite gelegt habe, gehe ich in die Stadt und schaue mir die Mädchen an.«
»Oh, die sprechen alle Englisch, zumindest gebrochen. Wenn du ein nettes kleines Mädchen findest, könntest du ein bißchen Spanisch lernen. Es würde ihr gefallen. Die meisten können aber Englisch, und für einen Lappen sagen sie dir das kleine englische Gedicht auf, was du dafür kriegst. Haha!« Und ein anderer Tag – ein erstaunlicher Tag.
Es hatte wieder einmal Geld gegeben, meine Schulden hatten sich um acht Dollar erhöht. Ich zermarterte mir das Gehirn um herauszubekommen, wo das Geld blieb, aber ich wußte es ja. Es war alles genau geplant: ich kam ausgedörrt von der Schicht, nahm einen Schluck Popsie aus dem Automaten, nachdem ich meine Zahlenkombination gedrückt hatte – fünfundzwanzig Cents wurden von meinem Lohn abgezogen. Ein Schluck reichte nicht aus, ich nahm einen zweiten – fünfzig Cents. Das Essen war langweilig wie üblich; ich konnte nicht mehr als einen oder zwei Bissen Chicken Little hinunterwürgen. Später war ich hungrig, und in der Kantine gab es Crunchies auf Kredit. Die Kekse riefen Mangelerscheinungen hervor, die man nur beilegen konnte, indem man wieder zwei Schluck Popsie trank. Popsie wiederum verursachte Entziehungssymptome, die sich nur beseitigen ließen, wenn man Starr-Zigaretten rauchte, die wiederum Appetit auf Crunchies erzeugten… Hatte sich Fowler Schocken dies alles ausgedacht, als er Starrzelius Verily organisierte, den ersten Sphärentrust? Von Popsie zu Crunchies, dann zu Starr-Zigaretten, zurück zu Popsie?
Und für den Vorschuß zahlte man sechs Prozent Zinsen.
Es mußte schnell etwas geschehen. Wenn ich nicht bald herauskam, würde ich es niemals mehr schaffen. Ich spürte meine Initiative nachlassen, spürte, wie sie Zelle um Zelle in mir abstarb. Die winzigen Alkaloiddosen zehrten an meiner Willenskraft; am schlimmsten aber war dieses entmutigend ausweglose Gefühl, daß die Dinge nun einmal so waren, und immer so bleiben würden, daß es eigentlich gar nicht so schlimm sei, daß man sich ja jederzeit vor den Hypnoteleapparat setzen, an Popsie berauschen oder vielleicht eine der grünen Kapseln versuchen könnte, die zu unterschiedlichen Preisen von Hand zu Hand gingen; Kredite dafür würden freimütig gewährt werden.
Es mußte bald geschehen.
»Como ´sta, Gustavo?«
Er setzte sich und grinste mich mit seinem Aztekengesicht an.
»Como ´sta, amigo Jorge! Se fuma?« Er hielt mir eine Zigarettenpackung hin. Es waren Mentholzigaretten mit Filter. Automatisch sagte ich: »Nein, danke. Ich rauche Starr; die haben mehr Geschmack.« Und automatisch zündete ich mir eine an. Ich wurde allmählich genau der Verbraucher, den wir liebten.
Gus sagte zu mir: »Du siehst nicht besonders glücklich aus, Jorge.«
»Bin ich auch nicht, Amigo.« Das war es. »Ich bin in einer ziemlich merkwürdigen Situation.« Jetzt mußte er reagieren.
»Ich habe mir schon gedacht, daß etwas nicht stimmt. Ein intelligenter Bursche wie du, jemand, der herumgekommen ist. Vielleicht brauchst du Hilfe?«
Großartig, großartig. »Es soll nicht dein Schaden sein, Gus. Du gehst ein Risiko ein, aber es wird nicht dein Schaden sein. Die Geschichte ist so…«
»Scht! Nicht hier!« fuhr er mich an. Leise fuhr er fort: »Es ist immer ein Risiko. Aber es lohnt sich jedesmal, wenn ich einen aufgeweckten jungen Mann sehe, der sich seine Gedanken macht und etwas unternehmen will. Eines Tages werde ich einen Fehler machen, seguro. Dann erwischen sie mich, vielleicht brennen sie mein Gedächtnis aus. Zum Teufel, darüber kann ich nur lachen. Ich habe das Meinige getan. Hier. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß du vorsichtig sein mußt, wenn du dies öffnest.« Er schüttelte mir die Hand und ich spürte, wie etwas an meiner Handfläche kleben blieb. Dann ging er durch den Tagesraum zum Hypnoteleapparat, drückte seine Lochkartennummer für eine halbe Stunde Dauer und fiel in Trance, wie die übrigen Zuschauer.
Ich ging in den Waschraum und gab meine Zahlenkombination für eine zehnminütige Kabinenbenutzung an – und wieder war mein Gehalt verringert –, dann betrat ich den Raum. In der Hand hatte ich ein Blatt Durchschlagpapier, auf dem stand:
EIN LEBEN LIEGT IN IHRER HAND
Dies ist das Kontaktblatt Nummer eins der Welt-Naturschutz-Gesellschaft, im Volksmund auch ›Natschus‹ genannt. Ein Mitglied der W.N.G. hat Ihnen dieses Blatt überreicht in dem Glauben, Sie seien a) intelligent; b) über den gegenwärtigen Zustand der Welt bestürzt; c) von potentiellem Wert für unsere Organisation. Sein Leben liegt nun in Ihrer Hand. Wir bitten Sie weiterzulesen, bevor Sie etwas unternehmen.
FAKTEN ÜBER DIE W.N.G.
Fakten: Die W.N.G. ist eine Geheimorganisation, die von allen Regierungen der Welt verfolgt wird. Wir glauben, daß die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Rohstoffquellen und Bodenschätze unnötige Armut und unnötiges menschliches Elend hervorgerufen hat. Wir glauben, daß eine andauernde Ausbeutung das Ende menschlichen Lebens auf der Erde bedeutet. Wir glauben, daß dieser Trend rückläufig gemacht werden kann, wenn wir die Menschen der Erde dazu bringen, daß sie eine Bevölkerungsplanung fordern, daß sie ein Wiederaufforsten der Wälder, die Bildung neuen Ackerbodens, eine Deurbanisierung und die Einstellung der überflüssigen Produktion von Apparaten und Artikeln, für die kein natürlicher Bedarf besteht, verlangen. Dieses Erziehungsprogramm wird durch Propaganda weiter vermittelt und durch gewaltsame Demonstrationen und Sabotage in jenen Fabriken, die überflüssige Artikel herstellen, unterstützt.
FALSCHMELDUNGEN ÜBER DIE W.N.G.
Sie haben vermutlich schon gehört, daß die ›Natschus‹ Mörder, Psychopathen und verantwortungslose Leute seien, die aus irrationalen Motiven oder aus Neid töten und zerstören. Keine dieser Behauptungen ist wahr. Die Mitglieder der W.N.G. sind humane, ausgeglichene Personen; viele von ihnen sind in den Augen der Öffentlichkeit erfolgreich. Gegenteilige Gerüchte werden eifrig von jenen Leuten unterstützt, die von der Ausbeutung, die wir korrigieren möchten, profitieren. Es gibt unvernünftige, unausgeglichene Kriminelle, die im Namen unserer Organisation Verbrechen begehen, teils aus Idealismus, teils um einen Vorwand für Plünderungsaktionen zu haben. Die W.N.G. distanziert sich von diesen Leuten und betrachtet ihre Taten mit Abscheu.
WAS WERDEN SIE ALS NÄCHSTES TUN?
Das bleibt Ihnen überlassen. Sie können a) die Person, die Ihnen dieses Kontaktblatt überreicht hat, denunzieren; b) dieses Formular zerstören und die Sache vergessen; c) die Person, die Ihnen das Formular gegeben hat, aufsuchen und um weitere Informationen bitten. Überlegen Sie, bevor Sie etwas unternehmen.
Ich dachte angestrengt nach. Die Schrift war meiner Ansicht nach a) der stümperhafteste Text, den ich in meinem ganzen Leben gelesen hatte; b) eine ziemlich verzerrte Version der Wirklichkeit; c) ein möglicher Fluchtweg aus den Chlorellawerken zurück zu Kathy.
Das also waren die gefürchteten Natschus! All dieses widersprüchliche Gewäsch – aber es war nicht ohne Reiz. Die Schrift war – ganz sicher unbewußt – so verfaßt, wie wir pharmazeutische Broschüren für Ärzte gestalten. Ruhig, gebildet, nach dem Motto: wir alle besitzen ein gesundes Urteilsvermögen und Bildung; wir können offen über grundlegende Meinungsverschiedenheiten sprechen.
Offensichtlich gab es zwei Möglichkeiten für mich. Ich konnte ins Hauptbüro gehen und Herrera anzeigen. Vielleicht verschaffte mir das sogar ein bißchen Publicity; man würde mich vielleicht anhören und mir soweit Glauben schenken, daß man meine Angaben überprüfte. Doch dann fiel mir ein, daß Menschen, die Natschus denunzierten, manchmal der Gehirnwäsche unterzogen werden, weil sie dem Virus ausgesetzt waren, und man befürchtet, nach der ersten gesunden Reaktion könne die Wirkung vielleicht später einsetzen. Das war kein guter Weg. Der zweite war riskanter, aber auch heldenhafter: ich konnte mich zum Schein auf das Spiel einlassen. Wenn ihre Organisation wirklich so weltweit war, wie sie behaupteten, gab es keinen Grund, warum ich nicht nach New York gelangen und ihnen später den Garaus machen sollte.
Ich zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß ich es schaffen würde. Es juckte mir in den Fingern, zu gern hätte ich das Formular redigiert, an den Sätzen gefeilt, die Langeweile verbannt und statt dessen Wörter mit präziser Wirkung eingesetzt. Es wäre nötig gewesen.
Die Kabinentür öffnete sich; meine zehn Minuten waren um.
Hastig spülte ich das Formular in den Abfluß und ging in den Tagesraum. Herrera war noch immer in Trance.
Ich wartete etwa zwanzig Minuten. Schließlich schüttelte er sich, blinzelte und blickte sich um. Er sah mich, sein Gesicht war ausdruckslos und steinern. Ich lächelte und nickte ihm zu, er kam zu mir herüber. »Alles in Ordnung, companero?« fragte er ruhig.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Du brauchst mir nur Bescheid zu sagen, wann, Gus.«