19.

Rückblickend war alles, was sich in der nächsten wilden Viertelstunde ereignete, verschwommen und zersplittert; so, als sähe man durch ein sich schnell drehendes Kaleidoskop. Ich erinnere mich noch an einzelne Bilder, erstarrte Zeitmomente, die beinahe beziehungslos nebeneinander zu stehen schienen.

Die Wogen der Verachtung und des Hasses, die mir entgegenschlugen, das verzerrte Gesicht des Präsidenten unter mir, der dem Toningenieur in seiner Kabine etwas Unverständliches zuschrie, der zornige Blick des Parlamentssprechers, als er mich ergreifen wollte.

Dann kam das wilde Getöse zum Stillstand, als nämlich die Stimme des Präsidenten durch die auf volle Stärke eingestellten Lautsprecher im Saal erklang: »Ich erkläre die Sitzung für vertagt!« – Ich sehe noch die erstarrten Gesichter der Abgeordneten, denen diese unglaubliche Verwegenheit einfach unfaßbar war. Der kleine Mann hatte Format. Bevor sich noch jemand bewegen oder besinnen konnte, hatte er schon in die Hände geklatscht – durch den Verstärker klang es wie eine Atomspaltung – und ein uniformiertes Wachkommando kam auf uns zu. »Führen Sie ihn ab«, erklärte der Präsident mit großartiger Geste; im Nu hatten mich die Wachen umringt und vom Podest gehoben. Der Präsident begleitete uns bis zur Tür, während die Versammlung allmählich begriff, was da vor sich ging. Sein Gesicht war weiß vor Furcht, als er flüsterte: »Ich kann die endgültige Entscheidung nicht verhindern, aber es wird den ganzen Nachmittag dauern, bis eine Verfügung vorliegt. Gott behüte Sie, Mr. Courtenay.«

Und er ging zurück, um ihnen gegenüberzutreten.

Caligulas Christen können die Arena nicht mutiger betreten haben.

Die Wache gehörte dem Präsidenten persönlich, sie war zusammengestellt aus der Elite der Brink-Akademie. Der Leutnant sprach kein einziges Wort mit mir, doch sein unterdrückter Abscheu für mich war auf seinem Gesicht deutlich zu erkennen, als er den roten Papierstreifen las, den ihm der Präsident gegeben hatte. Ich wußte, daß ihm der Befehl nicht paßte, daß er ihn aber dennoch ausführen würde.

Sie brachten mich nach Anacostia und setzten mich in das Flugzeug des Präsidenten; sie blieben bei mir und gaben mir zu essen; einer von ihnen spielte sogar Karten mit mir, als die Düsenmaschine den Flugplatz verließ. Aber niemand sprach mit mir.

Es war ein langer Flug in dem behäbigen alten Luxusflugzeug, das dem Präsidenten den Anstrich von ›Tradition‹ verlieh. Auf dem Flugplatz hatten wir Zeit verloren; unter uns schlängelte sich verschwommen das Band der Landebahn. Als wir zur Landung ansetzten, war es stockfinster. Aber das Warten war noch nicht vorbei, genausowenig meine Besorgnis, ob Kathy heil davongekommen war, und wann ich sie wiedersehen würde. Der Leutnant verließ das Flugzeug allein; er blieb lange, lange fort.

Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich immer wieder dieselben Fragen durchging – Fragen, die ich mir bereits früher gestellt, jedoch stets wieder verworfen hatte. Jetzt, da ich unendlich viel Zeit hatte und meine ganze Zukunft ein einziges Fragezeichen war, holte ich sie hervor und grübelte darüber nach.

Zum Beispiel:

Kathy, Matt Runstead und Jack O’Shea hatten sich verbündet und mich buchstäblich auf Eis gelegt. Gut, damit waren die meisten Dinge, die mich verwirrten, bereits erklärt. Nicht aber Hester. Und genau genommen wäre auch Runsteads Rolle keinesfalls damit erklärt.

Die Natschus befürworteten die Raumfahrt. Aber Runstead hatte doch den Venustest in Cal-Mex sabotiert. Daran bestand kein Zweifel; sein Sündenbock hatte es praktisch zugegeben. Trieb er vielleicht doppeltes Spiel? Spielte Runstead vielleicht nur den Natschu, der sich als Texter ausgab? Wer aber war er dann in Wirklichkeit? Ich begann mich jetzt aus einem völlig neuen Grund nach Kathy zu sehnen.

Als der Leutnant zurückkehrte, war es Mitternacht. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Draußen wartet ein Taxi auf Sie. Der Fahrer kennt den Weg.«

Ich kletterte aus dem Flugzeug und reckte mich. »Vielen Dank«, sagte ich verlegen.

Der Leutnant spuckte gezielt zwischen meine Füße auf den Boden. Die Tür wurde zugeschlagen, und ich beeilte mich, die Startbahn zu verlassen.

Der Fahrer war Mexikaner. Ich versuchte, ihm eine Frage zu stellen; aber er verstand kein Englisch. Ich versuchte es noch einmal mit meinem Chlorella-Spanisch; er starrte mich an. Es gab gute Gründe, warum ich mich ihm nicht anvertrauen wollte, ehe ich wußte, was geplant war. Aber im Grunde blieb mir überhaupt keine Wahl. Der Leutnant hatte seinen Befehl ausgeführt. Die Mission war erfüllt. Ich sah förmlich, wie sein aktives kleines Militärgehirn den Bericht verfaßte, der einen kleinen Hinweis enthalten würde, wo der berüchtigte Natschu, Mitchell Courtenay, zu finden sei.

Ich saß in der Falle; die Frage war lediglich, wer das Rennen machen würde, Taunton oder die Polizei. Es hatte keinen Sinn, lange darüber nachzudenken.

Ich stieg in das Taxi.

Eigentlich hätte mich die Tatsache, daß der Fahrer Mexikaner war, beruhigen sollen. Tat es aber nicht. Erst als ich das Sternenlicht auf dem riesigen Projektil vor mir glitzern sah, wußte ich, daß ich in Arizona war und was der Präsident für mich getan hatte.

Eine Wache, bestehend aus Pinkerton-Leuten und unserem eigenen Fabrikschutz, umringte mich und führte mich an Wachposten vorbei über den leeren Landestreifen zur Rakete. Der Kommandant deutete auf den Himmel und sagte: »Jetzt sind Sie in Sicherheit, Mr. Courtenay.«

»Aber ich will nicht zur Venus!« sagte ich.

Er lachte laut.

Das ganze Hin und Her und der lange ermüdende Flug hatten mein Gehirn blockiert; die Ereignisse vorher und nachher waren zu turbulent gewesen, als daß ich hätte nachdenken können. Auch jetzt hatte ich keine Gelegenheit zum Überlegen. Ich spürte, daß mich jemand am Hosenboden packte und in die Rakete schob. Drinnen wurde ich in meine Kabine gezerrt, auf einen Liegesitz geschnallt und alleingelassen.

Der Sitz schwankte und drehte sich beim Start der Rakete, zwölf Titanen hockten auf meiner Brust. Auf Wiedersehen, Kathy; auf Wiedersehen, Schocken-Hochhaus. Ob es mir nun paßte oder nicht: ich war auf dem Weg zur Venus. Aber es war kein Abschied von Kathy.

Sie selbst erschien, um mich loszuschnallen, nachdem der erste Stoß vorüber war.

Ich erhob mich, schwebte schwerelos durch den Raum und rieb mir den Rücken. Ich öffnete den Mund, um Kathy zu begrüßen, brachte jedoch nur ein krächzendes »Kathy« heraus.

Es war nicht gerade eine brillante Rede, aber dazu hatte ich auch gar keine Zeit. Kathys Lippen und meine waren beschäftigt.

Als wir innehielten, um Luft zu holen, fragte ich: »Sag mal, welche Alkaloide setzst du eigentlich deinem Produkt bei?«

Aber das hörte sie gar nicht. Sie wollte weitergeküßt werden und ich tat ihr den Gefallen.

Das war im Stehen harte Arbeit. Jedesmal, wenn sie sich bewegte, stießen wir an die Griffe oder schwebten empor; eine einzige Ersatzdüse arbeitete, und wir waren jenseits der Gewichtsgrenze.

Wir setzten uns. Nach einer Weile sprachen wir miteinander.

Ich reckte mich und schaute mich um. »Nett hast du’s hier«, sagte ich. »Dafür ist also gesorgt, doch jetzt zu wichtigeren Dingen. Ich habe ein paar Fragen, genauer gesagt: zwei.« Und ich sagte ihr, um welche Fragen es ging.

Ich erklärte, wie Runstead den Test in San Diego damals sabotiert und damit das Venusprojekt verzögert hatte, und auch von Hesters Tod.

»Oh, Mitch«, sagte sie. »Wo soll ich anfangen? Wie hast du es eigentlich geschafft, in die Starklasse zu kommen?«

»Ich habe die Abendschule besucht«, sagte ich. »Ich höre noch immer.«

»Du hättest ja eigentlich selber dahinter kommen können. Natürlich wollten wir Natschus den Raumflug. Die Menschheit braucht die Venus. Wir brauchen einen unverdorbenen, nicht ausgebeuteten, nicht geplünderten, nicht…«

»Oh«, sagte ich.

»… einen nicht verwüsteten – na ja, du weißt ja selbst. Natürlich wollten wir, daß ein Raumschiff zur Venus fliegt. Aber wir wollten keinesfalls Fowler Schocken auf der Venus. Und Mitchell Courtenay auch nicht. Jedenfalls nicht, solange Mitchell Courtenay in der Venus nur die Möglichkeit sah, ein besonders großes Geschäft zu machen. Es gibt nicht allzu viele Planeten, auf die wir Menschen ausweichen können. Wir konnten es nicht zulassen, daß Fowler Schockens Venusprojekt ein Erfolg würde.«

»Hm«, sagte ich und verdaute das Gehörte. »Und Hester?«

Kathy schüttelte den Kopf. »Die Antwort dafür findest du bitte selber«, sagte sie.

»Du weißt sie nicht?«

»Natürlich kenne ich die Antwort. Sie ist nicht schwer.« Ich redete auf sie ein, aber sie rückte mit der Antwort nicht heraus. Ich küßte sie also eine Weile, bis uns so ein Kerl mit den Offiziersabzeichen an der Schulter grinsend unterbrach. »Wollt ihr euch ein bißchen die Sterne ansehen, Leute?« fragte er wie ein Touristenführer, was mir überhaupt nicht gefiel. Doch es hätte keinen Sinn, sich mit ihm anzulegen; Schiffsoffiziere geben sich grundsätzlich gewichtiger als sie es sind, es wäre zumindest unhöflich gewesen, ihn deswegen zurechtzuweisen. Außerdem…

Außerdem?

Der Gedanke lähmte mich einen Augenblick; ich war inzwischen daran gewöhnt, der Starklasse anzugehören. Es würde sicher kein rechtes Vergnügen werden, einer von vielen zu sein. Ich unterzog meine Natschu-Theorie einer schnellen Überprüfung. Nein, es bestand nicht die geringste Chance, daß man mich weiterhin umschmeicheln und verwöhnen würde.

Hallo, Kathy. Auf Wiedersehen, Schocken-Hochhaus.

Wir standen auf und gingen zum Beobachtungsraum im Bug des Raumschiffs. Alle Gesichter waren mir fremd.

Ich sah jetzt den Sternenhimmel zum erstenmal von einem Raumschiff aus. Draußen war es weiße Nacht. Strahlend helle Sterne standen vor einem Hintergrund aus Sternpartikeln und kosmischem Staub. Es gab nicht eine einzige kleine Stelle, wo Dunkelheit herrschte; alles leuchtete in glühenden Pastellfarben. Ein Feuerkranz am Rand der Luke zeigte die Richtung der Sonne an. Wir gingen wieder zurück. »Wo ist Matt Runstead?« fragte ich. Kathy kicherte. »Daheim im Schocken-Hochhaus; er lebt von Tabletten und versucht, mit dem Durcheinander fertig zu werden. Einer mußte schließlich zurückbleiben, Mitch.

Zum Glück kann Matt an deiner Stelle abstimmen. Wir hatten Zeit, uns in Washington miteinander zu unterhalten; er wird mit einer Menge Fragen fertig werden müssen, ohne jemanden zu haben, der sie ihm beantwortet.«

Ich starrte sie an. »Was um alles in der Welt hat denn Runstead in Washington getan?«

»Dich fortgeschafft, Mitch! Nachdem Jack O’Shea ausgeflippt war…«

»Nachdem was?«

»Meine Güte! Also schön, der Reihe nach. O’Shea ist ausgeflippt. Er hatte mal wieder ein Glas zuviel getrunken und fand keine freie Stelle mehr an seinem Arm für die Nadel, ist an das falsche Mädchen geraten und vor ihr zusammengebrochen. Sie haben ihn ganz schön rangenommen und alles aus ihm rausgeholt. Über dich, über mich, über die Rakete und alles übrige.«

»Wer hat ihn sich vorgenommen?«

»Dein guter alter Freund B. J. Taunton.« Kathy zündete grimmig ein Streichholz an. Ich konnte ihre Gedanken erraten. Der kleine Jack O’Shea, knapp sechzig Pfund erstarrtes Porzellan und geschmolzenes Wachs, ein Meter gefoltertes Fleisch und verrenkte Knochen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich Jack nicht gemocht habe. Doch bei dem Gedanken, daß sich dieser zerbrechliche kleine Mann in den Händen von Tauntons Anthropoiden befand, war das alles vergessen.

»Taunton hat alles erfahren, Mitch«, sagte Kathy. »Jedenfalls alles wichtige. Wenn Runstead Tauntons Zimmer, in dem die Verhöre stattfinden, nicht angezapft hätte, wären wir jetzt erledigt. Aber Matt hatte noch Zeit genug, nach Washington zu fliegen und mich und den Präsidenten zu warnen – o nein, der Präsident ist kein Natschu, aber er ist ein guter Mensch. Er kann nichts dafür, daß man ihn gewählt hat. Und – ja, und jetzt sind wir hier.«

Der Kapitän unterbrach uns. »In fünf Minuten berichtigen wir unseren Kurs«, sagte er. »Sie schnallen sich besser wieder an Ihren Sitzen fest. Die Kursberichtigung muß zwar nicht unbedingt heftige Stöße auslösen – aber sicher ist sicher.«

Kathy nickte und zog mich fort. Ich nahm ihr die Zigarette aus dem Mund, machte einen Zug und gab sie ihr zurück.

»Oh, Mitch!« sagte sie.

»Ich bin bekehrt«, erwiderte ich. »Übrigens – Kathy. Eine Frage noch. Keine angenehme Frage.« Sie seufzte. »Dasselbe wie zwischen dir und Hester«, sagte sie.

Ich fragte: »Sag mal, was war mit Jack – hm?«

»Du hast ja gehört. Zwischen Jack und mir war dasselbe, wie zwischen dir und Hester. Absolut einseitig. Jack liebte mich wohl! Glaube ich jedenfalls. Ich ihn nicht.« Und dann fügte sie ungestüm hinzu: »Weil ich wie eine Verrückte in dich verliebt war!«

»Oh«, erwiderte ich. Das schien mir der richtige Augenblick zu sein, sie aufs neue zu umarmen und zu küssen, aber ich hatte mich offenbar geirrt, denn sie schob mich zurück. Ich stieß mit dem Kopf gegen die Wand.

»Au«, sagte ich.

»Geschieht dir nur recht, bei all deiner Dummheit«, sagte sie. »Jack wollte mich, aber ich wollte nur dich und keinen anderen. Und du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, darüber nachzudenken – du hast nie gewußt, was ich für dich empfand, und ebensowenig wußtest du, wie es um Hester stand. Die arme Hester – sie wußte, daß sie dich niemals bekommen würde. Du lieber Himmel, Mitch, wie blind bist du eigentlich?«

»Hester hat mich geliebt?«

»Ja, verdammt noch mal! Warum hätte sie sonst Selbstmord begangen?« Kathy stampfte mit dem Fuß auf den Boden, als Resultat der unüberlegten Bewegung schwebte sie gleich darauf einen halben Meter über dem Boden.

Ich rieb mir die Stirn. »Hm«, sagte ich betäubt.

Das Sechzig-Sekunden-Signal erklang. »Anschnallen«, sagte Kathy, und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Ich legte meinen Arm um sie.

»Eine widerliche, unwürdige Situation, in der wir da stecken«, sagte sie. »Ich habe genau eine Minute Zeit, um dich zu küssen, mich zurechtzumachen, abzuwarten, bis dein Frage- und Antwort-Spiel vorbei ist, um dir anzudeuten, daß ich eine Privatkabine für zwei Personen habe, und um uns beide festzuschnallen.«

Ich hatte mich schnell erholt. »Eine Minute ist viel Zeit, Liebling«, sagte ich.


Ende

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