2.

Ich blieb noch drei oder vier Minuten bei Fowler, während die übrigen Direktoren wieder in ihre Büros zurückkehrten; die Fahrt im Lift nach unten in mein Büro im sechsundachtzigsten Stock dauerte nur wenige Sekunden. Hester räumte bereits meinen Schreibtisch aus, als ich ankam.

»Herzlichen Glückwunsch, Mr. Courtenay«, sagte sie. »Sie ziehen jetzt in den neunundachtzigsten. Ist das nicht herrlich? Und ich habe auch ein eigenes Büro!«

Ich bedankte mich und zog mir den Telefonapparat heran. Als erstes mußte ich meine Mannschaft um mich scharen und die Zügel der Produktion in andere Hände legen; Tom Gillespie war Rangältester. Zuvor aber rief ich schnell bei Kathy an. Ich erhielt noch immer keine Antwort und ließ meine Mitarbeiter kommen.

Es tat ihnen wirklich leid, daß ich ging, aber ebenso sehr freuten sie sich darüber, daß jeder auf einen besseren Posten rückte.

Und dann war Mittagszeit; ich verschob die Probleme des Venusprojektes auf den Nachmittag.

Ich telefonierte, aß schnell in der Kantine, fuhr mit dem Fahrstuhl zur Haltestelle hinunter und dann sechzehn Blöcke weiter nach Süden. Als ich ausstieg, war ich zum erstenmal an diesem Tag an der frischen Luft und holte meine Anti-Ruß-Stöpsel heraus, allerdings ohne sie zu benutzen. Es nieselte etwas und die Luft war sauberer als sonst. Ich mußte mir einen Weg durchs Gewühl bahnen und verschwand dann in einem Haus.

Der Fahrstuhl brachte mich ins vierzehnte Stockwerk.

Ein Mädchen in gestärkter weißer Uniform blickte auf, als ich ins Büro trat. Ich sagte: »Mein Name ist Silver. Walter P. Silver. Ich bin angemeldet.«

»Ja, Mr. Silver«, erinnerte sie sich. »Ihr Herz – Sie sagten, es sei dringend.«

»Stimmt. Natürlich ist es vermutlich psychosomatisch, aber ich dachte…«

»Natürlich.« Sie bat mich Platz zu nehmen. »Dr. Nevin wird Sie gleich zu sich bitten.«

Es dauerte zehn Minuten. Eine junge Frau kam aus dem Arztzimmer und ein Mann, der vor mir im Warteraum gesessen hatte, ging hinein; dann kam auch er wieder heraus, und die Schwester sagte: »Würden Sie jetzt bitte zu Dr. Nevin hineingehen?«

Ich ging hinein. Kathy, sehr adrett und hübsch in ihrem Doktorkittel, legte gerade eine Karteikarte auf den Schreibtisch. Als sie aufblickte, sagte sie »Oh, Mitch!« Das klang recht ärgerlich.

»Ich habe nur einmal gelogen«, sagte ich. »Ich habe einen falschen Namen genannt. Aber es ist dringend. Und um mein Herz geht es wirklich.«

Es schien, als wolle sie lächeln, aber das Lächeln gelangte nicht an die Oberfläche. »Aber nicht medizinisch gesehen.«

»Ich habe dem Mädchen gesagt, die Sache sei vermutlich psychosomatisch. Sie sagte, ich solle trotzdem hineingehen.«

»Ich werde mit ihr reden. Mitch, du weißt, daß ich während der Arbeitszeit nicht mit dir sprechen kann. Bitte.«

Ich setzte mich an ihren Schreibtisch. »Du willst mich überhaupt nicht mehr sehen, Kathy. Was ist los?«

»Nichts ist los. Bitte geh, Mitch. Ich bin Arzt, ich muß arbeiten.«

»Nichts ist so wichtig wie das hier, Kathy, ich habe gestern abend und heute morgen vergeblich versucht, dich anzurufen.«

Sie zündete sich eine Zigarette an, ohne mich anzuschauen.

»Ich war nicht zu Hause«, sagte sie.

»Nein.« Ich lehnte mich vor, nahm ihr die Zigarette aus der Hand und inhalierte. Sie zögerte, zuckte die Schultern und nahm sich eine neue. Ich sagte: »Vermutlich habe ich kein Recht meine Frau zu fragen, wo sie ihre Zeit verbringt?«

Kathy fuhr auf: »Verdammt, Mitch, du weißt…« Das Telefon klingelte. Sie schloß einen Augenblick lang die Augen. Dann nahm sie den Hörer ab, lehnte sich zurück, blickte entspannt durch den Raum, ganz Arzt, der einen Patienten beruhigt. Es dauerte nur ein paar Sekunden. Aber danach war sie vollkommen beherrscht.

»Bitte geh«, sagte sie und drückte die Zigarette aus.

»Nicht bevor du mir gesagt hast, wann wir uns treffen.«

»Ich… ich habe keine Zeit. Mitch. Ich bin nicht deine Frau, du hast nicht das Recht mich zu belästigen. Ich könnte es dir verbieten oder dich festnehmen lassen.«

»Meine Urkunde liegt bei den Akten«, erinnerte ich sie.

»Aber meine nicht. Und sie wird es niemals. Sobald das Jahr um ist, sind wir geschiedene Leute, Mitch.«

»Ich wollte dir etwas erzählen.« Neugier war Kathys schwache Seite.

Es entstand eine lange Pause, und anstatt noch einmal zu sagen: »Bitte geh«, sagte sie: »Nun, und was ist es?«

Ich sagte: »Es ist etwas Großes. Es muß gefeiert werden. Und ich werde es als Vorwand benutzen, dich heute abend zu sehen. Bitte, Kathy – ich liebe dich sehr und ich verspreche, dir keine Szene zu machen.«

»Gut…« Während sie überlegte, läutete das Telefon. »Gut«, sagte sie zu mir. »Ruf mich zu Hause an. Um sieben. Jetzt muß ich mich um die Patienten kümmern.«

Sie nahm den Hörer ab. Ich verließ das Büro, während sie sprach.

Als ich eintrat, saß Fowler Schocken an seinem Schreibtisch über die neueste Ausgabe von ›Taunton’s Weekly‹ gebeugt. Die Zeitschrift blitzte grell auf, wenn die Farbmoleküle, die Fotonen in kleinen Mengen sammelten, sie gebündelt wieder freigaben. Er wedelte mir mit den glitzernden Seiten zu und fragte: »Was halten sie hiervon, Mitch?«

»Billige Werbung«, erwiderte ich prompt. »Wenn wir uns soweit herabließen, eine Zeitung wie die der Taunton AG zu fördern – na, dann würde ich lieber kündigen. Der Trick ist zu billig.«

»Ich weiß, was Sie meinen, Mitch. Sie haben etwas gegen billige Werbung. Ich auch. Taunton ist für mich der Inbegriff all dessen, was die Werbung daran hindert, den angemessenen Platz bei Klerus und Medizinern einzunehmen, er ist ein Hindernis. Es gibt keinen schäbigen Trick, den er nicht anwenden würde, von der Bestechung eines Richters bis zur Entführung eines Angestellten. Mitch, Sie müssen sich vor ihm in acht nehmen.«

»Warum? Ich meine, warum gerade ich?«

Schocken lachte auf. »Weil wir ihm die Venus gestohlen haben. Ich sagte Ihnen doch, er hat Unternehmungsgeist. Er hatte denselben Gedanken wie ich. Es war nicht leicht, die Regierung dazu zu bringen, das Projekt uns zu überlassen.«

»Ach so«, sagte ich und begriff nun. Eines beunruhigte mich allerdings. »Wird Taunton nicht – na ja, direkte Aktionen unternehmen?«

»Oh, er wird versuchen, sie zurückzustehlen«, sagte Fowler.

»Das meine ich nicht. Sie erinnern sich doch daran, was bei der Ausbeutung der Antarktis geschah.«

»Ich war dabei. Hundertvierzig Todesfälle auf unserer Seite. Gott weiß, wieviel Leute die verloren haben.«

»Und da ging’s nur um einen Kontinent. Taunton nimmt diese Dinge ziemlich persönlich. Wenn er um einen lausigen vereisten Kontinent schon eine Fehde beginnt, was wird er dann erst wegen eines ganzen Planeten unternehmen?«

Fowler sagte ruhig: »Nein, Mitch. Das würde er nicht wagen. Fehden sind kostspielig. Außerdem geben wir ihm keinen Anlaß – keinen Anlaß jedenfalls, der vor Gericht ins Gewicht fiele. Und drittens… würde ihm das verdammt schlecht bekommen.«

»Kann schon sein«, sagte ich und fühlte mich wohler.

Schocken sprach weiter. »Es gibt noch etwas, worauf Sie achten müssen: all die angeknacksten Typen. Dies ist ein geeignetes Projekt, alle verrückten Typen anzulocken. Jede dieser irren Organisationen, von den Natschus bis zur G.O.P. wird dafür oder dagegen Stellung nehmen. Sorgen Sie dafür, daß sie alle auf unserer Seite stehen; sie bringen Stimmen.«

»Auch die Natschus?« krächzte ich.

»Nein, die natürlich nicht. Die wären eher eine Belastung.« Sein weißes Haar schimmerte, als er nachdenklich nickte. »Hmm. Vielleicht könnten Sie das Gerücht ausstreuen, Raumflug und Naturschutz ständen sich diametral gegenüber. Man brauchte zu viel Rohmaterial, Beeinträchtigung des Lebensstandards – na, Sie wissen schon. Bringen Sie das Faktum hinein, daß für die Herstellung von Brennstoff organisches Material benutzt wird, das nach Ansicht der Natschus zu Dünger verarbeitet werden sollte…«

Noch zwanzig Minuten hörte ich Fowler Schocken zu und machte dann eine Entdeckung, die ich bereits früher gemacht hatte: kurz und gebrauchsfertig hatte er mir jede nötige Tatsache und Instruktion geliefert.

Die Einzelheiten überließ er mir, aber ich beherrschte meine Aufgabe: Die Venus sollte von Amerikanern besiedelt werden. Dazu waren drei Dinge notwendig: Kolonisten; eine Möglichkeit, sie zur Venus zu transportieren; und eine Beschäftigung für die Leute, sobald sie angekommen waren.

Der erste Punkt ließ sich durch direkte Werbung leicht erledigen. Schockens Fernsehwerbespot war das perfekte Muster, nach dem wir die restlichen Aspekte dieses Appells ausrichten konnten. Es ist immer leicht, einen Verbraucher davon zu überzeugen, daß das Gras woanders grüner ist. Ich hatte bereits eine Probekampagne entworfen, die weniger als eine Million kostete. Mehr wäre extravagant gewesen.

Der zweite Punkt war nur teilweise unser Problem. Die Raumschiffe waren bereits entworfen – von der Republic Aviation, Bell Telephone Lab. und U. S. Steel, glaube ich, im Auftrag des Verteidigungsministeriums. Unsere Aufgabe war es, den Leuten den Transport zur Venus schmackhaft zu machen.

Ich dachte flüchtig an eine Sparkampagne, verwarf jedoch den Gedanken. Die anderen Etats würden eben leiden müssen. Eine religiöse Bewegung vielleicht – etwas, das den achthundert Millionen, die nicht selbst in der Rakete sein konnten, Ersatz bot…

Ich vermerkte den Einfall; Bruner konnte mir dabei helfen. Dann kam ich zu Punkt drei. Ich mußte mir irgend eine Beschäftigung für die Kolonisten einfallen lassen.

Darauf, das wußte ich, hatte Fowler Schocken sein Augenmerk gerichtet. Wir wollten einen wichtigen, zuverlässigen Industriekomplex; die Kolonisten und ihre Kinder sollten unseren Umsatz steigern. Fowler hoffte natürlich, unseren unglaublichen Erfolg mit Indiastries in weitaus größerem Maßstab zu wiederholen. Er und seine Direktoren hatten Indien zu einem einzigen gigantischen Kartell organisiert, wo jeder einzelne geflochtene Korb, jeder Iridiumbarren und jede Opiumplatte durch Fowler Schockens Werbung verkauft wurde. Jetzt hatte er dasselbe mit der Venus vor. Potentiell war dies Objekt jeden einzelnen existierenden Dollar wert! Ein ganzer Planet, von der Größe der Erde, in Zukunft ebenso reich wie die Erde – und jedes Mikron, jedes Milligramm davon gehörte uns.

Ich blickte auf die Uhr. Fast vier; meine Verabredung mit Kathy war um sieben. Ich hatte nicht viel Zeit. Ich rief Hester an und bat sie, mir einen Platz im Flugzeug nach Washington zu buchen, während ich den Mann anrief, dessen Namen mir Fowler gegeben hatte. Er hieß Jack O’Shea und war der einzige Mensch, der – bisher – die Venus besucht hatte. Seine Stimme klang jung und forsch, als er einen Termin mit mir vereinbarte.

Wir mußten über Washington fünf Minuten warten, ehe wir landen konnten, dann entstand an der Rampe ein wildes Durcheinander. Wachtposten von Brink’s Express umschwärmten unser Flugzeug und der Leutnant verlangte von jedem einzelnen Passagier, der das Flugzeug verließ, die Ausweispapiere. Als ich an der Reihe war, fragte ich, was los sei. Er blickte nachdenklich auf die niedrige Nummer meiner Sozialversicherungskarte und salutierte dann. »Tut mir leid, daß ich Sie belästigen muß, Mr. Courtenay«, entschuldigte er sich. »Es ist wegen des Natschu-Bombardements bei Topeka. Wir haben einen Tip, daß sich der Mann an Bord der Vieruhrfünfmaschine aus New York befindet. War wohl eine Niete.«

»Was für ein Bombardement war es denn?«

»Du Pont Rohmaterialabteilung – wir sind für den Schutz der Firma verantwortlich, wissen Sie – eröffnete eine neue Kohlenader unter den Maisfeldern, die ihnen da draußen gehören. Sie haben eine hübsche kleine Feier daraus gemacht, und gerade als die hydraulische Bohrmaschine begann, die Muttererde beiseitezuschieben, warf jemand aus der Menge eine Bombe. Der Maschinenführer, sein Assistent und ein Vizepräsident wurden getötet. Der Täter entkam in der Menge, wurde jedoch identifiziert. Wir werden ihn in den nächsten Tagen fassen.«

»Viel Glück, Leutnant«, sagte ich und eilte in das Flughafenrestaurant. O’Shea wartete in einem Sessel am Fenster, offensichtlich verärgert, aber er grinste, als ich mich entschuldigte.

»Das kann jedem passieren«, sagte er, schwang seine kurzen Beine herum und rief den Kellner. Als wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, lehnte er sich zurück und sagte: »Nun?«

Ich stürzte mich hinein. »Wie ist es auf der Venus?« fragte ich.

»Sand und Rauch«, erwiderte er prompt. »Haben Sie meinen Bericht nicht gelesen?«

»Natürlich. Ich möchte mehr wissen.«

»Alles steht in dem Bericht. Du lieber Himmel, man hat mich ganze drei Tage lang ausgefragt, als ich zurückkam. Wenn ich etwas vergessen habe, dann ist es für immer verloren.«

Ich sagte: »Das meine ich nicht, Jack. Wer will schon sein Leben mit Berichtelesen verbringen? In der Forschungsabteilung habe ich fünfzehn Leute, die nichts anderes tun, als für mich Berichte zusammenzufassen, damit ich sie nicht zu lesen brauche. Ich möchte mehr wissen. Ich möchte wissen, was man auf dem Planeten fühlt. Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu erfahren, weil nur ein einziger Mensch dort gewesen ist.«

»Und manchmal wünsche ich, ich wäre nicht dort gewesen«, sagte O’Shea verdrießlich. »Gut, wo soll ich anfangen? Sie wissen wie man mich ausgesucht hat – den einzigen Zwerg der Welt mit Pilotenausbildung. Und Sie wissen alles über das Raumschiff. Sie haben die Untersuchungsberichte über die Bodenproben gelesen, die ich mitgebracht habe. Das besagt allerdings nicht viel. Ich habe nur an einer Stelle Proben aufgenommen, fünf Meilen weiter ist die Geologie möglicherweise völlig anders.«

»Das weiß ich alles. Sehen Sie, Jack, versuchen Sie, es einmal so zu sehen. Angenommen, Sie wollten erreichen, daß viele Menschen zur Venus fliegen. Was würden Sie ihnen von dem Planeten erzählen?«

Er lachte. »Ich würde ihnen eine verdammte Menge dicker Lügen auftischen. Fangen Sie doch mal von vorn an, ja? Worum geht’s eigentlich?«

Ich berichtete ihm, was die Schocken AG plante, währenddessen blickten mich seine runden kleinen Augen aus dem runden kleinen Gesicht an.

Als ich fertig war, wußte ich immer noch nicht, ob er auf meiner Seite war oder nicht, und darauf kam es an.

Er sagte: »Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen«, und das machte die Sache leichter.

»Das können Sie«, entgegnete ich. »Deshalb bin ich ja hier. Erzählen Sie mir, was die Venus zu bieten hat.«

»Gut«, sagte er, »beginnen wir von vorn. Bestellen Sie bitte noch etwas zu trinken?«

Der Kellner kam, nahm unsere Bestellung entgegen, und brachte den Alkohol. Jack trommelte mit den Fingern auf den Tisch, schlürfte seinen Rheinwein mit Selters und begann zu erzählen.

Er erzählte mir von seinem Vater, dem ein Meter achtzig großen Chemiker, und von seiner Mutter, der pummeligen lebhaften Hausfrau. Ich konnte ihre Verzweiflung und die innige Liebe für ihren Sohn, der einen Meter maß, nachempfinden. Er war elf Jahre alt, als man zum erstenmal über sein zukünftiges Leben sprach. Er erinnerte sich daran, wie unglücklich sie ausgesehen hatte, als er spontan vorschlug, zum Zirkus zu gehen. Es war größtenteils ihr Verdienst, daß man nie wieder über diese Sache sprach. Ihnen war es auch zu danken, daß Jacks Wunsch in Erfüllung ging; er lernte Raketentechnik und wurde Testpilot; sie bezahlten die Ausbildung und halfen ihm, jedes Hindernis und alle Demütigungen zu überwinden.

Durch den Flug zur Venus hatte sich natürlich alles ausgezahlt.

Die Konstrukteure der Venusrakete standen damals vor einem entscheidendem Problem. Es war leicht gewesen, eine Rakete zu dem eine Viertelmillion Meilen entfernten Mond zu schicken; theoretisch war es nicht wesentlich schwerer, eine Rakete durch den Weltraum zum nächsten Planeten, der Venus zu schießen. Es war eine Frage der Umlaufbahnen und der Zeit; das Raumschiff müßte gesteuert, kontrolliert und wieder zurückgebracht werden. Darin lag das Problem. Man hätte das Raumschiff zwar innerhalb weniger Tage zur Venus schießen können, aber mit einem derartigen Brennstoffverbrauch, daß zehn Raumschiffe nicht gereicht hätten, ihn zu transportieren. Oder man hätte es gemütlich auf den natürlichen Umlaufbahnen zur Venus ziehen lassen wie eine Barke, die gemächlich den Fluß hinuntertreibt – so sparte man zwar Brennstoff, die Reise jedoch würde um Monate verlängert. In achtzig Tagen ißt der Mensch das Doppelte seines Gewichts, atmet neunmal soviel Luft und trinkt Wassermengen, die ausreichen, eine Jolle darauf schwimmen zu lassen. Jemand sagte: destilliert doch einfach das Wasser aus den Abfallprodukten und rezirkuliert es; macht dasselbe mit der Nahrung; macht dasselbe mit der Luft! Verzeihung.

Eine derartige Apparatur wiegt mehr als Nahrung, Luft und Wasser zusammen. Ein menschlicher Pilot kam also offensichtlich nicht in Frage.

Ein Konstruktionsteam ging daran, einen automatischen Piloten zu entwerfen. Als er fertig war, funktionierte er vorzüglich. Und wog viereinhalb Tonnen – trotz der gedruckten Stromkreise und Relais, die unter dem Mikroskop entstanden waren.

An diesem Punkt blieb das Projekt stecken, bis jemand an den perfektesten aller Servo-Maschinen dachte: an einen sechzig Pfund schweren Zwerg. Jack O’Shea wog ein Drittel eines normalen Mannes, aß ein Drittel, atmete ein Drittel. Mit seinem Fliegengewicht und den für ihn erforderlichen Wasser- und Luftgeneratoren, lag Jack gerade unterhalb der Grenze und errang auf diese Weise unsterblichen Ruhm.

Er brütete vor sich hin, ein wenig benommen vom Alkohol. »Sie haben mich in die Rakete gestopft, wie einen Finger in den Handschuh. Sie wissen vermutlich, wie das Schiff aussah. Aber wußten Sie auch, daß man mich mit einem Reißverschluß im Pilotensitz festmachte? Es war nämlich gar kein richtiger Sitz, mehr eine Art Taucheranzug; die einzige Luft des Raumschiffs befand sich in diesem Anzug; das Wasser gelangte durch einen Schlauch an meine Lippen. So sparte man Gewicht…«

Und die nächsten achtzig Tage verbrachte er in diesem Anzug, der ihn mit Essen und Trinken versorgte, seine Ausdünstungen der Luft entzog und die Ausscheidungen entfernte. Im Notfall hätte der Apparat sogar Novocain in einen gebrochenen Arm spritzen, eine zerschnittene Oberschenkelarterie zusammenpressen oder anstelle einer geplatzten Lunge Luft pumpen können.

Dreiunddreißig Tage hin, einundvierzig Tage zurück. Die sechs dazwischenliegenden Tage waren der eigentlich Grund der Reise.

Jack hatte sein Raumschiff völlig blind gesteuert. Gaswolken verdeckten die Sicht und brachten das Radarnetz durcheinander, er landete mit dem Fahrzeug auf der Oberfläche einer unbekannten Welt. Er war bereits auf dreihundert Meter herunter, als er in dem wirbelnden Gelb etwas erkennen konnte. Dann landete er.

»Ich konnte natürlich nicht aussteigen«, sagte er. »Aus hundert Gründen wird ein anderer Mensch als erster seinen Fuß auf die Venus setzen. Jemand, dem das Atmen nicht besonders wichtig ist, nehme ich an. Ich war jedenfalls da und habe mich umgesehen.

Ein starker Wind bläst auf der Venus und zerstört die Felsen. Der weiche Fels wird abgetragen, und Staubstürme entstehen. Der harte Kern – ja, der ragt in eigenartigen Formen und Farben bizarr in die Luft. Einige Felsen bilden fantastische, gigantische Monumente. Es ist die zerklüftetste Gebirgslandschaft, die man sich vorstellen kann. Es ist so ähnlich wie in einer Höhle, allerdings heller. Das Licht ist – seltsam. Kein Mensch hat auf der Erde jemals solches Licht gesehen. Orangebraun leuchtend, sehr leuchtend, ziemlich bedrohlich. So ähnlich wie der Himmel im Sommer bei Sonnenuntergang unmittelbar vor einem heftigen Gewitter, weil kein Tropfen Wasser vorhanden ist.« Er zögerte. »Es gibt Blitze. Eine Menge, aber niemals auch nur den geringsten Regen… Ich weiß nicht, Mitch«, sagte er abrupt. »Hilft Ihnen das überhaupt weiter?«

Ich ließ mir mit der Antwort Zeit. Ich blickte auf die Uhr und sah, daß mein Flugzeug gleich abfliegen würde. Ich beugte mich vor und stellte das Tonband in meiner Aktentasche ab. »Sie haben mir sehr geholfen, Jack«, sagte ich. »Aber ich brauche mehr. Ich muß jetzt gehen. Könnten Sie nicht nach New York kommen und eine Weile mit mir zusammenarbeiten?«

Wir vereinbarten gerade einen Termin für den folgenden Tag, als die Lautsprecheranlage verkündete, daß mein Flug fällig war.

»Ich bringe Sie zum Flugzeug«, erbot sich Jack. Er glitt vom Stuhl und legte eine Banknote für den Kellner auf den Tisch. Wir strebten durch die engen Gänge der Bar hinaus ins Freie. Jack grinste, als Ahs und Ohs ertönten, weil man ihn erkannte. Das Flugfeld war fast dunkel, und der Lichtschein von Washington bildete einen rötlichen Hintergrund für die Silhouetten der Flugzeuge. Ein großer Transporthubschrauber, ein Fünfzigtonner, kam direkt auf uns zu, seine stromlinienförmige Kanzel glänzte vom Widerschein der Lichter in allen Farben. Das Flugzeug war kaum fünfzehn Meter hoch in der Luft, und ich mußte meinen Hut festhalten, sonst hätte ihn mir der Fallstrom der wirbelnden Propeller vom Kopf gerissen.

»Diese verdammten Busfahrer«, grunzte Jack und blickte zum Hubschrauber hinauf. »Man sollte so was melden. Bloß weil die Kisten leicht zu manövrieren sind, denken diese Idioten, sie könnten alles damit machen. Wenn ich mit einer Düsenmaschine so umginge… Weg! Weg!« Plötzlich schrie er mich an und stieß mich mit seinen kleinen Händen beiseite. Ich blickte ihn fassungslos an. Alles geschah zu plötzlich und unvermittelt, als daß ich einen Sinn darin hätte erkennen können. Er sprang auf mich zu, warf sich mit seinem kleinen Körper gegen mich, so daß ich ein paar Schritte vorwärts taumelte.

»Was zum Teufel?« Ich wollte mich beklagen, verstand jedoch meine eigenen Worte nicht. Sie gingen unter in einem mechanischen, schnappenden Ton und dem Vibrieren der Motoren, dann folgte ein irrsinnig lautes Krachen, als die Frachtkanzel des Hubschraubers einen Meter von uns entfernt den Betonboden berührte. Das Metall wurde aufgerissen und Kartons mit gewalzten Haferflocken von Starrzelius Verily fielen heraus. Einer der purpurnen Zylinder rollte mir vor die Füße, wie betäubt hob ich ihn auf und betrachtete ihn.

Über unseren Köpfen knatterte der um seine Fracht erleichterte Hubschrauber und flog auf und davon.

»Um Himmels willen, kommen Sie schnell!« schrie Jack und zerrte mich fort. Wir waren nicht allein auf dem Flugplatz. Aus dem verbogenen Aluminiumhaufen ragte ein Arm mit einer Aktentasche heraus und über den Lärm hinweg hörte ich Schmerzensschreie. Das also meinte er. Wir sollten den Mann befreien. Ich ließ mich widerstandslos zur Unglücksstelle zerren, und wir versuchten, das Metall zu heben. Ich verletzte mir die Hand, mein Jacket bekam einen Riß, dann erschienen die Leute vom Flugplatz und befahlen uns barsch, weiterzugehen.

Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich dorthin gekommen war, aber nach und nach wurde mir klar, daß ich auf einem Koffer saß und gegen die Mauer des Flugplatzgebäudes lehnte; Jack O’Shea sprach aufgeregt auf mich ein. Er verfluchte die gesamte Innung der Hubschrauberpiloten und beschimpfte mich, ich hätte wie ein Idiot dagestanden, als sich die Frachtkanzel des Hubschraubers öffnete; er sagte noch viel mehr, was ich nicht begriff. Nach Ansicht der Psychologen bin ich nicht übermäßig sensibel oder ängstlich, doch ich hatte einen Schock erlitten, der sich erst gab, nachdem Jack mich in mein Flugzeug gesetzt hatte.

Später erzählte mir die Stewardeß, fünf Menschen seien von dem Hubschrauber erfaßt worden.

Allmählich kam Klarheit in die ganze Geschichte; allerdings erst, als ich halbwegs wieder in New York war. Bis dahin war das einzig wichtige, woran ich mich erinnerte, daß Jack wieder und wieder mit einem Ausdruck von Bitternis und Wut in seinem Porzellangesicht gesagt hatte: »Zu viele Menschen, Mitch. Es sind zu viele Menschen. Ich bin auf Ihrer Seite. Wir brauchen die Venus, Mitch, wir brauchen Raum…«

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