16.

»Kurzmeldung, Mr. Courtenay«, sagte die Stimme meiner Sekretärin. Ich drückte auf den Knopf. »Natschu in Albany auf Denunzierung des Nachbarn festgenommen. Soll ich ihn auf die Liste setzen?«

»Verdammt noch mal!« explodierte ich. »Wie oft soll ich Ihnen grundsätzliche Anweisungen wiederholen? Natürlich kommt er auf die Liste. Warum zum Teufel nicht?«

Sie sagte unglücklich: »Es tut mir leid, Mr. Courtenay – ich dachte, Albany sei ein bißchen weit weg…«

»Dann hören Sie eben auf zu denken. Veranlassen Sie seine Überführung.« Vielleicht hätte ich nicht so grob sein sollen – aber ich wollte Kathy finden, und wenn ich jede einzelne Natschu-Zelle des Landes auf den Kopf stellen müßte. Ich hatte Kathy ins Versteck getrieben – sie befürchtete, ich würde sie anzeigen, jetzt wollte ich sie zurückhaben.

Eine Stunde später war ich im Hauptquartier der Upstate Mutual Protective AC. Es war ein lokales Unternehmen, das viele Verträge in dieser Gegend, vor allem in Albany, hatte. Der Präsident begrüßte mich und meine Leibwache persönlich am Aufzug.

»Eine Ehre«, murmelte er. »Eine große Ehre, Mr. Courtenay. Was kann ich für Sie tun?«

»Meine Sekretärin bat Sie, Ihren Natschu-Verdächtigen in Ruhe zu lassen, bis ich käme. Haben Sie sich daran gehalten?«

»Natürlich, Mr. Courtenay! Einige der Angestellten sind vielleicht ein bißchen grob mit ihm umgesprungen, aber er befindet sich in recht guter Verfassung.«

»Ich will ihn sehen.«

Eifrig ging er voran. Er hätte gern ein Gespräch angebahnt und beiläufig einfließen lassen, daß er gern mit Fowler Schocken ins Geschäft kommen würde, wagte aber nicht, das Wort zu ergreifen.

Der Verdächtige saß auf einem Schemel unter der üblichen Blendlampe. Er war ein Verbraucher der gehobenen Klasse, etwa dreißig Jahre alt. Sein Gesicht zeigte Spuren von Mißhandlung.

»Knipsen Sie das Ding aus«, befahl ich.

Ein grobschlächtiger Vorarbeiter sagte: »Aber wir haben immer…«

Einer meiner Leute schob ihn ohne ein Wort zu verschwenden beiseite und schaltete die Lampe aus.

»Schon gut, Lombard«, sagte der Präsident hastig. »Sie werden diese Herren unterstützen.«

»Stuhl«, sagte ich und setzte mich dem Verdächtigen gegenüber.

Ich sagte: »Ich heiße Courtenay. Wie heißen Sie?«

Er blickte mich mit Pupillen an die sich allmählich weiteten.

»Fillmore«, erwiderte er korrekt. »August Fillmore. Können Sie mir sagen, was das hier zu bedeuten hat?«

»Sie stehen unter dem Verdacht, ein Natschu zu sein.«

Alle Angestellten im Raum blickten mich sprachlos an. Dadurch, daß ich den Angeklagten über die Art des ihm zur Last gelegten Verbrechens informierte, hatte ich eines der Grundprinzipien des Rechtswesens verletzt. Ich wußte das alles, doch scherte ich mich den Teufel darum.

»Völlig absurd«, sagte Fillmore aufgebracht. »Ich bin ein unbescholtener Bürger, verheiratet, Vater von acht Kindern, das neunte ist unterwegs. Wer, um Himmels willen, hat diesen Unsinn aufgebracht?«

»Sagen Sie ihm, wer es war«, sagte ich zum Präsidenten.

Er starrte mich fassungslos an, unfähig zu glauben, was er gehört hatte. »Mr. Courtenay«, sagte er schließlich, »bei allem Respekt, ich kann die Verantwortung für ein derartiges Vorgehen nicht übernehmen! Das ist unerhört. Die Rechtsprechung respektiert grundsätzlich das Recht des Informanten…«

»Ich übernehme die Verantwortung. Soll ich es Ihnen schriftlich geben?«

»Nein, ich bitte Sie! Doch nicht schriftlich! Bitte Mr. Courtenay – genügt es, wenn ich Ihnen den Namen des Informanten nenne und dann den Raum verlasse? Wir wissen, daß Sie sich im Recht auskennen und ein verantwortungsbewußter Mensch sind.«

»Mir ist es einerlei, wie Sie es machen.«

Er grinste besänftigend und flüsterte mir ins Ohr: »Eine Mrs. Worley. Die beiden Familien teilen sich einen Raum. Bitte seien Sie vorsichtig, Mr. Courtenay…«

»Danke«, sagte ich. Er senkte die Augen und zog sich beunruhigt mit seinen Angestellten zurück.

»Nun, Fillmore«, wandte ich mich wieder an den Verdächtigen, »er sagt, es sei eine Mrs. Worley gewesen.«

Er begann zu fluchen, und ich schnitt ihm das Wort ab.

»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann«, sagte ich. »Ihnen ist natürlich klar, daß Sie geliefert sind. Sie wissen doch, was Vogt über den Naturschutz sagt?«

Der Name sagte ihm anscheinend gar nichts. »Wer ist das denn?« fragte er verwirrt.

»Macht nichts. Wechseln wir das Thema. Ich habe eine Menge Geld. Ich kann Ihrer Familie eine großzügige Pension aussetzen, während Sie fort sind, wenn Sie sich kooperativ zeigen und gestehen, daß Sie ein Natschu sind.«

Er dachte eine Weile angestrengt nach und sagte dann:

»Natürlich bin ich ein Natschu. Was soll’s? Schuldig oder nicht schuldig. Ich bin auf jeden Fall geliefert; warum soll ich dann nicht sagen, ich sei ein Natschu?«

»Wenn Sie ein so überzeugter Natschu sind, dann können Sie mir gewiß einige Passagen aus Osborne zitieren?«

Er hatte noch nie von Osborne gehört und faselte unsicher langsam drauf los: »Na ja, eine Stelle beginnt so: ›Die erste Pflicht eines Natschu ist, hm, ist, einen allgemeinen Aufstand vorzubereiten…‹ an den Rest erinnere ich mich nicht mehr genau, aber so fängt es jedenfalls an.«

»Ja, so ähnlich«, sagte ich. »Und nun zu den Versammlungen Ihrer Zelle. Wer gehört dazu?«

»Ich kenne die Namen nicht«, sagte er etwas gesprächiger. »Wir haben Nummern. Ein dunkelhaariger Bursche ist der Chef…«

Es war eine bemerkenswerte Vorstellung. Keinesfalls jedoch hatte sein Bericht etwas mit den halbmythischen Helden der Naturschutzbewegung Vogt und Osborne zu tun, deren Bücher in allen Zellen gelesen werden mußten – sofern Ausgaben zur Verfügung standen.

Wir verließen den Raum.

Ich sagte zu dein Präsidenten, der ängstlich auf dem Gang wartete: »Ich glaube nicht, daß er ein Natschu ist.«

Ich war Präsident der Fowler Schocken AG, und er war eigentlich nur Vorsitzender einer örtlichen Polizeistelle, doch das war einfach zuviel für ihn gewesen. Er gab sich einen Ruck und sagte würdevoll: »Wir sind Hüter des Gesetzes, Mr. Courtenay. Und ein altes Grundprinzip der Rechtssprechung lautet: ›Lieber sollen tausend Unschuldige Unrecht erdulden, als daß ein Schuldiger entkommt‹.«

»Diesen Grundsatz kenne ich«, sagte ich. »Guten Tag.«

Mein Leibwächter stöhnte, als ihm das Dringlichkeitssignal ins Ohr tönte und reichte mir das Telefon. Es war meine Sekretärin im Schocken-Hochhaus, die mir von einer neuen Verhaftung berichtete, diesmal in Pile City Three, bei Cape Cod.

Wir flogen nach Pile City Three, das sich auf Säulen über dem Wasser in der Bucht erhob. Ich hasse Pfeilerstädte, denn wie ich bereits erwähnte, leide ich unter Kinetose.

Es stellte sich heraus, daß dieser Natschu ein Berufsverbrecher war. Er hatte einen Raubüberfall auf einen Juwelenladen begangen, dabei mehrere Nadeln aus Eiche und Mahagoni entwendet und einen Drohbrief hinterlassen, in dem alles mögliche über die Machtergreifung und die Rache der Natschus stand: Sobald sie an die Regierung kämen, würde ein großer Sturm losbrechen und alle reichen Leute würden getötet werden. Damit wollte er von der Spur ablenken.

Es war sehr dumm.

Wir kehrten wieder nach New York zurück, wo man gerade einen anderen Natschu verhaftet hatte. Ich sah ihn mir an und hörte ihn ein paar Minuten lang toben. Er war ganz gut informiert und konnte Vogt und Osborne mit Seitenangabe zitieren. Er behauptete, Gott habe ihn erwählt, damit er Mutter Erde von den Verschwendern und Ausbeutern befreie. Er behauptete natürlich auch, Mitglied der regulären Natschu-Organisation zu sein, und daß er lieber sterben wolle, als ein einziges Geheimnis zu verraten. Und ich wußte, daß er es ernst meinte, weil er keines kannte. Die Natschus hätten niemanden aufgenommen, der so labil war, selbst wenn sie nur noch drei Mitglieder gehabt hätten, von denen eines am Ertrinken wäre.

Bei Sonnenuntergang kehrten wir zum Schocken-Hochhaus zurück, und meine Leibwache wechselte. Es war ein schlimmer Tag gewesen. Was die Ergebnisse betraf, so unterschied er sich in nichts von all den anderen Tagen, seit ich das Erbe der Firma angetreten hatte.

Eine Konferenz war angesetzt. Ich hatte zwar keine Lust, doch mein Gewissen plagte mich bei dem Gedanken an den Stolz, das Vertrauen und die Zuversicht, die Fowler Schocken dazu bewegt haben mußten, mich zu seinem Erben einzusetzen. Bevor ich mich aufraffte, den Konferenzraum zu betreten, unterhielt ich mich kurz mit dem Leiter einer Sonderabteilung der Industrie-Spionage, den ich mit einem speziellen Auftrag auf diesen Posten gesetzt hatte.

»Nichts, Sir«, sagte der Mann. »Keinerlei Spuren von Ihrer – von Dr. Nevin. Der Mann, den wir bei Chlorella hatten, ist fort. Sollen wir es weiterhin versuchen?«

»Versuchen Sie es weiter«, sagte ich. »Wenn Sie ein größeres Budget brauchen oder mehr Leute haben wollen, zögern Sie nicht. Sie müssen nur gute Arbeit leisten.«

Er beteuerte seine Loyalität und legte auf; vermutlich hielt er seinen Chef für einen alten Narren, der einer Frau nachtrauerte, mit der er nicht einmal richtig verheiratet gewesen war, und die es vorgezogen hatte, von der Bildfläche zu verschwinden.

Konferenz.

»Es tut mir leid, meine Herren, daß ich mich verspätet habe. Ich verzichte auf die Eröffnungsworte. Charlie, wie kommt die Forschungs- und Entwicklungsabteilung mit dem Venus-Projekt voran?«

Er stand auf. »Mr. Courtenay, meine Herren, ohne unbescheiden sein zu wollen, glaube ich inoffiziell sagen zu können, daß die Abteilung gut vorankommt, und daß meine Leute der Fowler Schocken AG alle Ehre machen. Insbesondere sind wir mit dem Treibhauseffekt fertig geworden. Die auf Theorie und Mathematik basierenden Thesen unserer fähigen Abteilung für Physikalische Chemie und Thermodynamik haben sich durch unsere Experimente jetzt als richtig erwiesen. Eine ca. 1,5 mm dicke, sich selbst regulierende, selbständige CO2-Hülle in einer Höhe von etwa 12000 m würde die Oberflächentemperaturen pro Jahr um fünf Grad senken. Wir erforschen augenblicklich die verschiedenen Methoden, wie man dieses ungeheure Gasvolumen erhalten und mit hoher Geschwindigkeit in die Stratosphäre der Venus schleudern kann. Grob gesagt, ließe sich das CO2 sowohl finden als auch herstellen. Ich würde sagen, wir finden es. Es gibt zwar vulkanische Tätigkeit auf der Venus, aber die typischen oberflächlichen Venuseruptionen scheinen eher flüssiges NH4 zu sein, das durch die Schwerkraft in Spalten gedrückt wird, durch Risse und porösen Fels in schwächere Formationen sinkt und dann hervorbricht. Wir sind jedoch sicher, daß man durch Tiefenbohrungen auf beträchtliche Vorkommen an flüssigem CO2 stoßen wird.«

»Wie sicher?« fragte ich.

»Ziemlich sicher, Mr. Courtenay«, sagte er, und es gelang ihm nicht ganz, ein Lächeln zu unterdrücken, das soviel besagte wie das: »man kann schließlich nicht erwarten, daß Sie das verstehen«, ein Lächeln, das Leute, die sich mit technischen Dingen beschäftigen, Laien gern entgegenbringen. »Eine Phasenanalyse des O’Shea-Berichtes…«

Ich unterbrach ihn erneut. »Würden Sie auf Grund dieser Gewißheit zur Venus fliegen?«

»Gewiß«, sagte er ein wenig beleidigt. »Soll ich jetzt in die technischen Details gehen?«

»Nein, vielen Dank, Charlie. Fahren Sie fort wie vorher.«

»Ja, also, augenblicklich beschäftigen wir uns in zweifacher Hinsicht mit dem Treibhaus-Effekt. Wir erstellen eine Karte von Bohrstellen mit maximalen Erfolgschancen und entwerfen eine automatische Standardmaschine für Tiefenbohrungen. Bei der Konstruktion berücksichtige ich geringen Kostenaufwand, Eigenenergie und Fernsteuerung. Ich hoffe, das genügt?«

»Hat noch jemand etwas Besonderes zum Venusprojekt beizusteuern, bevor wir weitergehen?«

Bernhard, unser Revisor, erhob die Hand, und ich nickte. »Eine Frage bezüglich Mr. O’Shea«, polterte er. »Wir führen ihn als Berater, und zwar mit einem recht gepfefferten Gehalt. Ich habe herumgehorcht – und hoffe, ich habe damit meine Kompetenzen nicht überschritten, Mr. Courtenay, aber das ist schließlich meine Aufgabe – ich habe die Leute gefragt und dabei festgestellt, daß wir von ihm verdammt wenig beraten worden sind. Auch sollte ich vielleicht erwähnen, daß er in den letzten Wochen einen ziemlich hohen Vorschuß genommen hat, der noch nicht fällig war. Wenn wir – wenn wir heute unsere Verbindungen mit ihm abbrächen, würde er uns noch Geld schulden.

Außerdem – na ja, das ist nebensächlich, vielleicht aber ganz aufschlußreich. Die Mädchen in meiner Abteilung beschweren sich darüber, daß er sie belästigt.«

Ich hob die Augenbrauen. »Ich glaube, wir sollten uns darum nicht weiter kümmern, Ben, obgleich seine Beliebtheit zu schwinden scheint. Weigern Sie sich, ihm weitere Vorschüsse zu geben. Und was die Mädchen betrifft – so bin ich überrascht. Mir ist, als hätten die sich früher nicht gerade beschwert, wenn er ihnen Anträge machte.«

»Haben Sie ihn in letzter Zeit mal gesehen?« fragte Bernhard.

»Nein.« Ich hatte ihn wirklich lange nicht mehr gesehen. Die Konferenz ging schnell zu Ende.

Als ich wieder in meinem Büro war, fragte ich meine Nachtsekretärin, ob O’Shea im Gebäude sei, und sagte ihr, sie solle nach ihm schicken.

Er kam, roch nach Alkohol und beschwerte sich lautstark.

»Verdammt, Mitch, was zuviel ist, ist zuviel! Ich bin gerade gekommen, um mir eine Puppe für die Nacht zu besorgen, und schon packst du mich. Nimmst du die Sache nicht ein bißchen zu ernst? Ihr könnt meinen Namen verwenden; was wollt ihr noch mehr?«

Er sah jämmerlich aus. Eine Miniaturausgabe des fetten, heruntergekommenen Napoleon I. auf Elba. Aber kaum war er eingetreten, mußte ich plötzlich nur noch an Kathy denken. Es dauerte eine Weile, bis ich wußte, warum.

»Nun?« fragte er, »was gibt es so zu starren? Ist etwa mein Lippenstift verschmiert?«

Der Duft war unverkennbar, wenn auch von Alkoholdunst etwas überlagert; Ménage à Deux, das Parfüm, das ich für Kathy, für sie allein, geschaffen hatte, als wir in Paris waren; das Parfüm, das sie liebte, und von dem sie manchmal etwas zuviel nahm. Ich hörte sie sagen: »Ich kann nichts dafür, Liebster; es riecht so viel schöner als Formalin, und danach rieche ich gewöhnlich nach einem Arbeitstag im Krankenhaus…«

»Tut mir leid, Jack«, sagte ich freundlich. »Ich wußte nicht, daß Sie etwas vorhatten. Viel Spaß.«

Er schnitt eine Grimasse und ging hinaus, mir kam es vor, als schwanke er auf seinen kurzen Beinen.

Ich nahm den Hörer ab und rief meine Sonderabteilung in der Industrie-Spionage an. »Heften Sie sich an Jack O’Sheas Fersen«, stieß ich hervor. »Er verläßt in Kürze das Gebäude. Verfolgen Sie ihn und jeden, mit dem er Kontakt aufnimmt. Tag und Nacht. Wenn etwas Positives dabei herauskommt, werden Sie und Ihre Leute befördert, und Sie erhalten einen Bonus. Aber Gott stehe Ihnen bei, wenn Sie versagen.«

Загрузка...