15.

Runstead war nicht da, als unsere kleine Prozession das Angestelltenterritorium des Schocken-Hochhauses erreichte. »Wir«, das waren Fowler, ich, Jack O’Shea, Sekretärinnen – und die Leibwache, die ich gefordert hatte.

Runsteads Sekretärin sagte, er sei unten in der Halle und so warteten wir… und warteten. Nach einer Stunde sprach ich die Vermutung aus, er käme vielleicht nicht mehr zurück. Nach einer weiteren Stunde erfuhren wir, daß man auf einem Sockel des Hochhauses, ein paar hundert Meter weiter unten, einen zerschmetterten Körper gefunden hätte. Er sei kaum zu identifizieren.

Die Sekretärin weinte hysterisch und öffnete Runsteads Schreibtisch und den Safe. Schließlich fanden wir Runsteads Tagebuch aus den letzten Monaten vor seinem Tod.

Neben Einzelheiten über seine Arbeit seine Liebschaften und kurzen Abrissen für künftige Werbefeldzüge, Notizen über gute, entlegene Restaurants und so weiter fand wir Eintragungen wie: »Er war gestern abend wieder hier. Er sagte mir, ich solle härter rangehen, mehr schockieren. Er flößt mir Furcht ein… Er sagt, die Starrzeliuskampagne brauche mutige Leute. Ich habe Angst vor ihm. Habe erfahren, daß er jeden ängstigte, früher, als er noch lebte… G.W.H. war gestern abend wieder da… Sah ihn zum erstenmal bei Tageslicht. Hüpfte und schrie, aber niemand hat etwas bemerkt. Wünschte, er ginge fort… G.W.H.s Zähne scheinen heute größer und spitzer. Ich brauche Hilfe… Er sagte, ich tauge nichts, sei eine Schande für den Beruf…«

Nach einer Weile merkten wir, daß ›er‹ der Geist von George Washington Hill war, der Vater unserer Branche, Erfinder der gesungenen Werbung, des Schockeffekts und Gott weiß was noch alles.

»Armer Kerl«, sagte Schocken mit weißem Gesicht. »Der arme Kerl. Wenn ich doch nur davon gewußt hätte. Wenn er doch nur rechtzeitig zu mir gekommen wäre.«

Die letzte Eintragung hieß: »Sagte, ich tauge nichts. Ich weiß, daß ich nichts tauge. Wertlos für den Beruf. Sie alle wissen es. Kann es in ihren Gesichtern lesen. Jeder weiß es. Er hat es ihnen gesagt. Verfluchter Kerl. Verfluchter…«

»Armer, armer Mensch«, sagte Schocken und weinte fast. Er wandte sich an mich: »Sehen Sie? Überlastung unseres Berufes…«

Und ob ich sah. Ein vorgefertigtes Tagebuch und ein nicht zu identifizierender Protoplasmafleck. Das da unten auf dem Vorsprung konnten ebensogut 180 Pfund Chicken Little sein.

Aber ich hätte nur meinen Atem verschwendet. Also nickte ich kurz und ließ ihm seinen Willen.

Ich nahm wieder meine Position als Leiter der Venusabteilung ein.

Ich suchte täglich Fowlers Analytiker auf. Und ich behielt meine Leibwache. In qualvollen Sitzungen sagte mir der alte Mann bisweilen: »Sie müssen sich von dieser Symbolik freimachen. Das ist alles, was noch zwischen Ihnen und der Wirklichkeit steht, Mitch. Dr. Lawler sagte mir…«

Dr. Lawler sagte Fowler Schocken das, was ich Dr. Lawler sagte. Und das war der langsame Fortschritt meiner ›lntegrierung‹: Ich heuerte einen Medizinstudenten an, der Traumata ausarbeitete, die von der Annahme ausgingen, daß meine Zeit als Verbraucher eine Art Selbstflucht gewesen sei, und er ließ sich wirklich etwas einfallen. Einige Traumata mußte ich ablehnen, weil sie sich nicht ganz mit meiner Würde vereinbaren ließen, aber es blieben genug übrig, die dafür sorgten, daß Dr. Lawler hin und wieder seinen Bleistift sinken ließ. Ein Trauma nach dem anderen wurde ausgegraben, und ich habe mich niemals in meinem Leben derartig gelangweilt.

Nur eines konnte ich nicht überwinden, nämlich die Oberzeugung, daß das Leben von Fowler Schocken und mir in Gefahr war.

Fowler und ich kamen einander immer näher. Er glaubte, mich überzeugt zu haben. Ich schämte mich, weil ich ihm etwas vormachte. Er war sehr gut zu mir. Aber es ging um Leben und Tod. Alles andere war nebensächlich.

Eines Tages sagte Fowler Schocken freundlich: »Mitch, ich fürchte, jetzt müssen heldenhafte Maßnahmen stattfinden. Ich verlange nicht, daß Sie diesen Schutz vor der Wirklichkeit, soweit es Sie betrifft, selbst niederreißen. Ich jedoch werde meine Leibwache entlassen.«

»Man wird Sie umbringen, Fowler!« entfuhr es mir.

Er schüttelte freundlich den Kopf. »Sie werden sehen. Ich habe keine Angst.« Argumente waren sinnlos. Abschließend sagte er dem Leutnant der Wache: »Ich brauche Sie nicht mehr. Bitte melden Sie sich mit Ihren Leuten beim Fabrikschutz für einen neuen Einsatz. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Loyalität und Aufmerksamkeit in diesen Wochen.«

Der Leutnant salutierte, doch er und seine Männer sahen nicht gerade glücklich aus. Sie verließen einen angenehmen Posten und würden nun wieder auf Patrouille geschickt werden, um als Postenwache oder Boten zu gottloser Stunde eingesetzt zu werden. Sie verließen den Raum, und ich wußte, daß Fowler Schockens Stunden gezählt waren.

Am gleichen Abend wurde er auf dem Heimweg von jemandem erdrosselt, der den Chauffeur überfallen und sich in Fowler Schockens Cadillac gesetzt hatte. Der Mörder, offenbar ein Irrer, widersetzte sich der Festnahme und ließ sich kichernd zu Tode prügeln. Seine Tätowierung war vernichtet; er war nicht zu identifizieren.

Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was am nächsten Tag im Büro alles los war. Eine Gedächtnissitzung wurde einberufen und Resolutionen gingen herum, in denen stand, es sei eine Schande, und diesen großartigen Mann würde man nie vergessen können und so weiter. Beleidsbotschaften von anderen Agenturen trafen ein, auch eine von Taunton. Man sah mich mit Befremden an, als ich das Schreiben von Taunton in der geballten Faust zerknitterte und ein paar Schimpfworte ausstieß.

Aber kein Mitglied der Geschäftsleitung machte sich ernsthaft Gedanken darüber. Sie alle dachten nur an eines: an das Schockenpaket der Stimmanteile.

Der erste Mann am Konferenztisch war vermutlich Harvey Bruner. Er war Schockens ältester Gesellschafter und hatte im Laufe der Jahre .83X1013 Anteile gesammelt. Nominell stand er damit über Fowler – aber er wußte natürlich, daß notfalls für die restlichen 3.5X1013 + 1 Anteile waggonweise Beauftragte einlaufen und mit geheimnisvoller Einstimmigkeit Fowler unterstützen würden. Außerdem war er loyal. Er schien sich für den Erben zu halten und einige naivere Leute aus der Forschungs- und Entwicklunggabteilung hängten sich bereits an ihn, ausgemachte Narren. Bruner war ein äußerst unkreativer, ungemein ehrlicher Karrengaul. Unter seiner schwerfälligen Regie würde ein so kompliziertes Unternehmen wie die Fowler Schocken AG innerhalb eines Jahres zusammenbrechen.

Wäre ich eine Spielernatur gewesen, so hätte ich mich an Sillery gehängt, den Medium-Chef, dem gab ich die größten Chancen, den Schocken-Block zu erben; ich selbst rangierte unter ›ferner liefen‹. Und dieser Meinung waren offenbar auch die meisten anderen, mit Ausnahme des wütenden Bruner und ein paar Begriffsstutziger. Sillery wurde umringt von einem ehrerbietigen kleinen Gefolge, das sich zweifellos an einige Bemerkungen Fowlers erinnerte, wie zum Beispiel: »Das Medium, meine Herren, ist die elementare Basis!« und »Für Media braucht man Grips, zum Texten Talent.« Ich wurde praktisch wie ein Aussätziger behandelt und saß am Ende des Tisches, während meine Leibwache schweigend das Geschehen beobachtete. Sillery warf meinen Leuten einen Blick zu, der mehr als eindeutig besagte: »Das hat nun ein Ende; dieser Exzentriker fliegt als erster.«

Diejenigen, auf die wir warteten, erschienen zuletzt. »Die Herren von der Amerikanischen Schiedgerichts-Gesellschaft, Abteilung Testamentseröffnung, sind da, meine Herren.«

Traditionsgemäß gaben sie sich, als wohnten sie einem Begräbnis bei. Entweder waren sie durch ihren Beruf sehr abgehärtet, oder aber es fehlte ihnen jeglicher Humor – jedenfalls verzogen sie keine Miene, als Sillery eine angemessene kleine Begrüßungsansprache hielt, von ihrer traurigen Pflicht sprach und davon, daß wir ihnen lieber unter glücklicheren Umständen begegnet wären.

In schnellem, murmelndem Ton verlasen sie das Testament und verteilten Abschriften. Als erstes las ich: »Meinem lieben Freund und Gesellschafter Mitchell Courtenay hinterlasse und vermache ich meinen Ring aus Eichenholz mit Elfenbeineinlage (Vermögensverzeichnis Nr. 56.987) und meine fünfundsiebzig Aktien für das Institut zur Verkettung Psychoanalytischen Wissens, mit der Verfügung, daß er seine Freizeit der aktiven Teilnahme an dieser Organisation und der Förderung ihrer edlen Ziele widmet.«

»Na, Mitch«, sagte ich mir, »aus und vorbei«. Ich warf meine Abschrift auf den Tisch und lehnte mich zurück, um geschwind meine flüssigen Mittel zu überschlagen.

»Harte Worte, Mr. Courtenay«, sagte ein mutiger, mitleidiger Mann aus der Forschungsabteilung, den ich kaum kannte. »Mr. Sillery scheint mit sich zufrieden zu sein.«

Ich warf einen Blick auf das Erbe Sillerys – Paragraph eins. Er erbte Fowlers persönliche Anteile und ein beträchtliches Paket an Wertpapieren des Managend Investment Syndikats, der Underwriters Holding Gesellschaft und einiger anderer Firmen.

Der Mann aus der Forschungsabteilung studierte meine Abschrift des Testaments. »Wenn Sie gestatten, Mr. Courtenay, daß ich mich dazu äußere«, sagte er zu mir, »ich meine, der alte Herr hätte Sie besser behandeln können. Ich habe noch nie von diesem Institut gehört, und ich bin mit dem Gebiet der Psychoanalyse ziemlich vertraut.«

Ich glaubte Fowler neben mir kichern zu hören und richtete mich kerzengerade auf. »Dieser alte…«, keuchte ich. Es paßte nahtlos ineinander wie Schlüssel und Schloß, sein bizarrer Humor ölte die Mechanik.

Sillery räusperte sich, und plötzliche Stille senkte sich über den Konferenzraum.

Der Boß sprach. »Es ist ein bißchen voll hier, meine Herren. Mir wäre es lieb, jemand stellte den Antrag, daß alle Personen, die nicht zur Geschäftsleitung gehören, den Raum verlassen…«

Ich stand auf und sagte: »Ich werde Ihnen diese Mühe ersparen, Sillery. Kommt, Jungs. Sillery, wir sehen uns vielleicht noch einmal wieder.« Ich verließ mit meiner Leibwache den Raum.

Das Institut zur Verbreitung Psychoanalytischen Wissens, eine profitlose New Yorker Körperschaft, war – so stellte sich heraus – eine schäbige drei Zimmer-Wohnung in Yonkers. Im Empfang hackte ein müdes ältliches Mädchen auf einer Schreibmaschine herum. Die Atmosphäre ließ mich an Dickens denken. Auf einem schiefen Stand lagen gedruckte Broschüren voller Fliegendreck zur Ansicht aus.

»Ich komme von der Fowler Schocken AG«, sagte ich zu ihr. Sie sprang auf. »Verzeihen Sie, Sir! Ich habe Sie nicht bemerkt. Wie geht es Mr. Schocken?«

Ich erzählte ihr, was passiert war, und sie begann zu schluchzen. Er sei ein so guter Mensch gewesen und hätte so großzügig für ›Die Sache‹ gespendet. Was um alles auf der Welt sollten sie und ihr armer Bruder nun anfangen? Der arme Mr. Schocken! Das arme Mädchen! Der arme Bruder!

»Vielleicht ist noch nicht alles verloren«, sagte ich zu ihr. »Wer leitet diesen Laden hier?« Sie brachte unter Schluchzen hervor, daß ihr Bruder hinten im Büro sei. »Bitte, bringen Sie ihm die Nachricht vorsichtig bei, Mr. Courtenay. Er ist so sensibel und empfindlich…«

Das versprach ich ihr und betrat das Zimmer. Der Bruder lag stockbetrunken quer über seinem Schreibtisch. Ich weckte ihn unsanft; er schaute mich aus trüben, zynischen Augen an. »Was ist los?«

»Ich komme von der Fowler Schocken AG und mochte mir die Bücher anschauen.«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Nur der alte Herr persönlich hat Einsicht in die Bücher.«

»Er ist tot«, sagte ich. »Hier ist das Testament.«

Ich zeigte ihm den entsprechenden Abschnitt im Testament und meinen Ausweis.

»Ja«, sagte er. »Die schönen Zeiten sind vorbei. Oder behalten Sie uns? Sehen Sie, was das heißt, Mr. Courtenay? Er fordert Sie auf…«

»Das habe ich durchaus verstanden«, sagte ich. »Die Bücher bitte.«

Er holte sie aus einem Geheimfach hinter einer ganz normalen Tür.

Innerhalb von drei Stunden harter Arbeit gelangte ich zu der Erkenntnis, daß die einzige Aufgabe der Stiftung darin bestand, sechsundfünfzig Prozent der Aktien einer gewissen Allgemeine Phosphat-Reduzierungs-Gesellschaft in Newark zu verwalten und Fowler Schockens Anweisungen entsprechend zu handhaben.

Ich ging hinaus in den Korridor und sagte zu meiner Leibwache. »Kommt, Jungs, jetzt geht’s nach Newark.«

Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen. Ober drei Stationen lief der Weg eingleisig, dann spaltete er sich. Eine Spur endete zwei Stufen weiter in der Frankfort Agentur für gebrauchte Maschinenwerkzeuge, die zweiunddreißig Prozent jener Aktien der Fowler Schocken AG besaß, die zur öffentlichen Versteigerung gekommen waren. Die andere Spur teilte sich eine Stufe weiter und endete schließlich bei der Vereinigten Konzessions-Corp. und dem Waukegan College für Zahnmedizin und Zahnorthopädie, die über die restlichen Anteile verfügten.

Zwei Wochen später betrat ich morgens mit meiner Leibwache den Konferenzraum.

Sillery präsidierte. Er sah hager und müde aus, als hätte er in den letzten Wochen nicht geschlafen, sondern krampfhaft nach etwas gesucht.

»Courtenay!« schnarrte er mich an. »Ich dachte, Sie wüßten, daß Ihr Regiment draußen zu bleiben hat!«

Ich nickte dem ehrlichen, naiven Harvey Bruner zu, den ich bereits eingeweiht hatte. Er war Schocken und mir gegenüber loyal und sagte: »Herr Präsident, ich stellte den Antrag, daß sich alle Mitglieder vom Betriebsschutz eskortieren lassen dürfen, sofern sie das für ihren persönlichen Schutz für angebracht halten.«

»Ich unterstütze den Antrag, Herr Präsident«, sagte ich.

»Holt sie herein, Jungs, ja?« Grinsend begannen meine Leibwächter kistenweise Aktien hereinzuschleppen.

Augen traten vor, Kiefer klappten herunter, während der Berg anwuchs. Es dauerte lange, bis die Aktien gezählt und für echt befunden waren. Zuletzt hieß es: 5.73X1013 gegen 1.27X1013. Und zwar für mich. Sillery hatte als einziger gegen mich gestimmt. Es gab keine Stimmenthaltungen. Die anderen sprangen auf meine Seite wie Katzen von einem heißen Backblech.

Der loyale alte Harvey stellte den Antrag, man solle mir den Vorsitz übertragen; der Antrag wurde einstimmig angenommen. Dann forderte er, man solle Sillery pensionieren, seine Aktien zum Nennwert verkaufen und im Bonusfond deponieren. Einstimmig angenommen. Dann stellte er den Antrag, einen Thomas Heatherby, einen jüngeren Mann aus der Abteilung ›Kunst‹, der sich zu auffällig an Sillerys Rockschöße gehängt hatte, zu degradieren und ohne Entschädigung seines unbedeutenden Aktienanteils zu entheben. Einstimmig angenommen. Heatherby wagte nicht einmal, dagegen aufzubegehren.

Das war erledigt. Ich war Chef der Fowler Schocken AG, und ich hatte gelernt, alles, was sie vertrat, zu verachten.

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