6.

In New York verließ ich das Flugzeug; Hester wartete bereits auf mich. »Gut gemacht«, sagte ich zu ihr. »Wann geht die Rakete zum Pol?«

»In zwölf Minuten, von Landeplatz sechs, Mr. Courtenay. Hier sind Flug- und Platzkarte. Und ein bißchen was zu essen, falls…«

»Prima. Zum Essen bin ich bisher nicht gekommen.« Wir gingen zum Landeplatz sechs. Im Gehen kaute ich ein Brot mit künstlichem Käse. »Was gibt’s neues im Büro?« fragte ich unbestimmt.

»Große Aufregung darüber, daß Sie die Leute in San Diego gefeuert haben. Die Personalabteilung hat sich bei Mr. Schocken beschwert, und er hat Ihnen die Stange gehalten – etwa Windstärke vier.«

Das war nicht allzu gut. Windstärke vier klang etwa so: Meine Herren, ich bin sicher, daß Mr. Courtenay sehr gute Gründe für sein Handeln hatte. Die reinen Routinearbeiter unserer Organisation verlieren leicht das Gesamtbild aus den Augen…

Ich fragte Hester: »Ist Runsteads Sekretärin eine normale Angestellte oder…«, ich wollte gerade ›Handlanger‹ sagen, besann mich jedoch eines Besseren, »eine seiner Vertrauten?«

»Sie steht ihm ziemlich nahe«, sagte Hester vorsichtig.

»Wie hat sie auf die San Diego-Geschichte reagiert?«

»Ich habe gehört, sie hätte sich halbtot gelacht, Mr. Courtenay.«

Ich drang nicht weiter in sie ein. Es war legitim, daß ich versuchte herauszufinden, wie meine Situation aussah. Sie jedoch um Hilfe zu bitten, hieße, sie aufzuhetzen. »Ich rechne damit, sofort wieder zurückzufliegen«, sagte ich zu ihr. »Ich will lediglich eine Angelegenheit mit Runstead ins reine bringen.«

»Ihre Frau begleitet Sie nicht?« fragte sie.

»Nein. Sie ist Ärztin. Ich werde Runstead in fünf oder sechs Stücke zerreißen; wenn Dr. Nevin dabei wäre, würde sie möglicherweise versuchen, ihn wieder zusammenzuflicken.«

Hester lachte höflich und sagte: »Guten Flug, Mr. Courtenay.«

Es war kein angenehmer Flug; es war eine miserable Fahrt in einer miserablen engen Touristenrakete. Wir flogen niedrig, und alle Sitze hatten Prismenfenster, bei denen mir sowieso immer übel wird. Man wendet den Kopf, blickt hinaus und geradewegs nach unten. Noch schlimmer war, daß alle Anzeigen von Taunton stammten. Man blickt aus dem Fenster, und hat seinen Magen kaum davon überzeugt, daß alles in bester Ordnung sei, und redet sich gut zu, daß da unten ein interessantes Land liege – und schon verdunkelt eine billige sexüberladene Tauntonanzeige für irgendein lausiges Produkt das Fenster, und einer ihrer dämlichen Verse dröhnt einem in die Ohren.

Über dem Amazonastal wurde es interessant; ich betrachtete gerade Electric Three, den größten Energiestaudamm der Welt, und schon ging es wieder los:

Straff-BH, Straff-BH,


Strafft den Busen prall;


keine Falten und kein Hängen,


die Figur ist drall!

Die dazugehörigen ›vorher- und nachher‹-Bilder waren ungewöhnlich schlecht, und ich ertappte mich dabei, wie ich dem lieben Gott wieder einmal dafür dankte, daß ich für Fowler Schocken AG arbeitete.

Über Tierra del Fuego war es dasselbe. Wir machten einen Bogen, so daß man die Walfischerei betrachten konnte; unter uns erstreckte sich ein weites Seegebiet, das von Schleusen eingefaßt war, durch die Plankton hereinkam, ohne daß die Wale heraus konnten. Ich beobachtete fasziniert, wie eine Walkuh ihr Junges säugte, und mußte dabei unweigerlich an das Auftankmanöver eines Flugzeuges in der Luft denken – als sich plötzlich das Fenster verdunkelte, und ich erneut von Tauntons Schockbehandlung bearbeitet wurde:

Susi, riechst du auch so für dein G’spusi?

Geruch strömte durch die Kabine; es war wirklich das allerletzte. Ich mußte die Tüte benutzen, während es weiterging:

Kein Wunder, daß du ihn nicht kriegst.


wenn du so nach Schweiß riechst;


nimm Duftan und er beißt an.

und sofort dudelte ein schnulziges Trio eine flotte Weise dazu:

Transpirieren muß sein.


Aber Schweiß riecht gemein.

Dann folgte ein kurzer, medizinisch gefärbter Prosatext:

VERSUCHEN SIE NICHT, DIE TRANSPIRATION ZU STOPPEN.


DAS IST SELBSTMORD.


DIE ÄRZTE RATEN ZU EINEM DEODORANT,


BENUTZEN SIE KEIN ADSTRINGENT.

Dann wiederholte sich die erste Zeile samt Geruch. Diesmal machte es mir nichts weiter aus; ich hatte nichts mehr im Magen.

Tauntons große Masche war der knappe, scheinbar objektive, medizinische Text. Man könnte fast meinen, das sei deren ureigene Erfindung.

Wir wurden über Klein-Amerika aufgehalten, weil einige andere Touristenmaschinen landeten. Eine davon kam aus Indien, bei ihrem Anblick wurde mir ganz warm ums Herz. Vom Bug bis zur Heckflosse war das Fahrzeug ein Produkt von Indiastry. Die Mannschaft war von Indiastry ausgebildet und angestellt. Die Passagiere leisteten Tag und Nacht, im Wachen und Schlafen, jede einzelne Minute Tribut an Indiastry. Und Indiastry wiederum leistete der Fowler Schocken AG Tribut.

Ein Schlepper zog uns in den großen doppelwandigen Plastikpfannkuchen – Klein-Amerika geheißen. Es hat nur eine einzige Kontrollstelle. Klein-Amerika ist eine fantastische Geldquelle – eine Dollarfalle für Touristen aus aller Welt, ein Gebiet ohne jeden militärischen Aspekt. (Es gibt zwar militärische Polarbasen, aber sie sind klein, und liegen tief unter dem Eis.) Ein kleiner Thorium-Reaktor beheizt den Ort und versorgt ihn mit Energie. Selbst wenn eine Nation, auf der verzweifelten Suche nach spaltbarem Material, Klein-Amerika eroberte, würde sie keine militärischen Werte erbeuten. Es gibt ein paar Servopropeller, die den Thorium-Reaktor unterstützen und eine ›Hitzepumpen‹-Vorrichtung, deren Funktion ich nicht ganz verstehe, die aber mit den Propellern zusammenhängt.

An der Kontrollstelle fragte ich nach Runstead. Der Beamte schlug nach und sagte: »Er ist auf einer zweitägigen Tour, die von New York aus gebucht wurde. Über Thomas Cook und Sohn. Er wohnt in III-C-22O5.« Er zog einen Stadtplan hervor und zeigte mir, was diese Adresse bedeutete: dritter Rang von innen, dritter Korridor, fünfter Sektor, Zimmer 22. »Sie können es gar nicht verfehlen. Ich kann Ihnen ein Zimmer in der Nähe geben, Mr. Courtenay.«

»Vielen Dank. Später.« Ich ging davon und bahnte mir einen Weg durch die Menge, die in einem Dutzend Sprachen durcheinanderschnatterte und erreichte schließlich III-C-22O5. Ich läutete. Nichts rührte sich.

Ein netter junger Mann sagte zu mir: »Ich bin Mr. Cameron, Leiter der Touristenorganisation. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Wo ist Mr. Runstead? Ich muß ihn geschäftlich sprechen.«

»Ach du liebe Güte. Und wir versuchen gerade, von all dem fortzukommen – ich werde mal nachschauen, wenn Sie einen Augenblick warten wollen.«

Er nahm mich mit in seine Büro-Schlafzimmer-Bad-Kabine, die einen Sektor höher lag, und blätterte in einem Register. »Die Starrzelius-Gletscher-Wanderung«, sagte er.

»Du großer Gott. Er ist allein unterwegs. Ging um 7 Uhr morgens, holte sich den Elektroanzug mit Radioanlage und Verpflegung. Er müßte in fünf Stunden zurück sein. Haben Sie sich schon eine Unterkunft besorgt. Mr…?«

»Noch nicht. Ich will Runstead nachgehen. Es ist dringend.« Und das war es in der Tat. Ich würde einen Schlaganfall bekommen, wenn ich ihm nicht bald an die Kehle gehen konnte.

Der leicht indignierte Reiseleiter brauchte etwa fünf Minuten, um mich davon zu überzeugen, daß es am einfachsten sei, wenn ich bei ihm buchte; er würde dann schon alles für mich regeln. Sonst müßte ich erst von Pontius zu Pilatus rennen, um nur die notwendige Ausrüstung zu leihen; dann würde ich wahrscheinlich am Kontrollpunkt zurückgewiesen werden. Und fände anschließend die Verleiher nicht wieder, und würde so meinen Urlaub vertrödeln. Ich unterschrieb, und er strahlte. Er gab mir ein Zimmer im gleichen Sektor – ungemein luxuriös. Der Raum war fast zwölf mal achtzehn Meter groß, lief allerdings ein wenig keilförmig zu.

Innerhalb von fünf Minuten übergab er mir bereits meine Ausrüstung. »Netzgerät – das wird so angeschnallt. Das ist das einzige, womit etwas schiefgehen kann; wenn das Funkgerät ausfällt, nehmen Sie eine Schlaftablette, und machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden zwar frieren, aber wir finden Sie, bevor Gewebeschäden eintreten. Stiefel. Die werden so angezogen. Handschuhe. So befestigen. Overall. Kapuze. Schneebrille. Peilfunk. Sie sagen der Wache am Kontrollpunkt lediglich ›Starrzelius-Gletscher‹, dann stellt er das Gerät ein. Zwei einfache Schalter mit der Aufschrift ›Hin‹ und ›Zurück‹. Hin ist ›piep-piep‹ – steigend. Zurück ›piep-piep‹ – fallend. Sie brauchen nur daran zu denken: den Gletscher hinauf, und der Ton steigt; den Gletscher hinunter, und der Ton sinkt.

Notsignal – ein großer roter Griff. Sie brauchen nur daran zu ziehen, schon senden Sie. Hier sind Schneeschuhe. Kreiselkompaß. Verpflegung. Mr. Courtenay, Sie sind ausgerüstet. Ich bringe Sie zum Kontrollpunkt.«

Die Kontrolle war sehr gründlich. Erst wurde mein Herz untersucht, und dann ging man die gesamte Ausrüstung durch; besonders sorgfältig wurde das Funkgerät geprüft. Ich bestand die Prüfung, man stellte das Peilgerät auf den Starrzelius-Gletscher ein, und entließ mich mit vielen Mahnungen, nicht zu übertreiben.

Es war nicht kalt, wenigstens nicht in dem Anzug. Einen Augenblick nur öffnete ich das Visier, klappte es aber blitzschnell wieder zu. Vierzig Grad unter Null hatte man mir gesagt – eine leere Zahl, bis meine Nase für den Bruchteil einer Sekunde mit der Realität in Berührung kam. Am Fuße des aufragenden Kunststoffpfannkuchens brauchte ich die Schneeschuhe noch nicht; meine Nagelschuhe knirschten im verharschten Schnee. Ich stellte mit Hilfe des kleinen Kreiselkompasses und der Karte die Richtung fest und stapfte schwerfällig durch die weiße Landschaft. Von Zeit zu Zeit drückte ich auf den Knopf des Peilgerätes an meinem linken Ärmel, und hörte ein fröhliches, beruhigendes »Piep-piep. Piep-piep. Piep-piep.«

Ich hielt die Richtung ein, indem ich Orientierungspunkte wählte und auf sie zuhielt; einen merkwürdig zurückgebogenen Eishügel zum Beispiel, oder einen blauen Schatten in einer Schneesenke. Das Peilgerät bestätigte die Richtigkeit meines Kurses. Ich war stolz darauf, daß ich die Wildnis meisterte, und nach zwei Stunden hatte ich plötzlich einen fürchterlichen Hunger.

Ich mußte mich niederkauern und eine Glocke aus Silikongewebe öffnen, in die ich genau hineinpaßte. Von Zeit zu Zeit steckte ich vorsichtig prüfend die Nase aus meinem Anzug, und nach fünf Minuten war es warm genug. Gierig verschlang ich ein selbsterhitztes Eintopfgericht und Tee und versuchte, eine Zigarette zu rauchen. Beim zweiten Zug war das kleine Zelt voller Rauch und mir standen Tränen in den Augen. Reumütig drückte ich die Zigarette an meinem Schuh aus, schloß die Gesichtsmaske, verstaute das Zelt und reckte mich zufrieden.

Nachdem ich mich noch einmal davon überzeugt hatte, daß die Richtung stimmte, machte ich mich wieder auf den Weg. Teufel auch, sagte ich zu mir. Diese Geschichte mit Runstead ist nur eine Frage des Temperaments. Er kann die offenen Flächen, das weite Land, einfach nicht sehen. Er meint es nicht böse. Er hält das Projekt für eine verrückte Idee, weil er nicht merkt, daß es Menschen gibt, die so etwas gut finden. Man muß es ihm nur erklären.

Dieses Argument, aus dem Gefühl des Wohlbehagens geboren, fiel bei der ersten Berührung mit der Vernunft in sich zusammen. Auch Runstead war auf dem Gletscher. Ganz sicher hatte er Sinn für Raum und Weite, wenn er sich unter allen Orten der Erde gerade den Starrzelius-Gletscher als Erholungsort auswählte. Nun, in Kürze würde die Begegnung stattfinden. »Piep-piep.«

Ich sah auf den Kompaß und peilte einen schwarzen Gegenstand an, der sich genau auf meinem Kurs befand. Ich konnte nicht richtig erkennen, was es war, aber es war deutlich sichtbar und bewegte sich nicht. Ich fiel in einen schlürfenden Laufschritt, kam ins Keuchen und verlangsamte gegen meinen Willen das Tempo. Es war ein Mensch. Als ich noch zwanzig Meter entfernt war, blickte der Mann ungeduldig auf die Uhr, und ich begann wieder unbeholfen zu laufen.

»Matt!« sagte ich, »Matt Runstead!«

»Ganz richtig, Mitch«, sagte er, unhöflich wie immer. »Sie sind ja heute schwer in Form.« Ich betrachtete ihn sehr eingehend und sehr gründlich, während ich mir meine Eröffnungsworte zurechtlegte. Er hatte die zusammengeklappten Skier neben sich in den Schnee gesteckt.

»Was ist – was ist…«, stotterte ich.

»Ich habe zwar viel Zeit«, sagte er, »aber Sie haben bereits zuviel davon verschwendet. Auf Wiedersehen, Mitch.«

Während ich verblüfft dastand, nahm er die Skier, schwang sie durch die Luft und versetzte mir einen Schlag damit. Ich fiel nach hinten über; Schmerz, Bestürzung und ohnmächtige Wut drohten meinen Kopf zu sprengen. Ich spürte, wie er an meiner Brust herumfingerte, dann fühlte ich eine ganze Weile überhaupt nichts mehr.

Als ich erwachte, glaubte ich, meine Decke sei fortgeglitten und fand es ziemlich kalt für den Frühherbst. Dann schnitt mir der eisblaue antarktische Himmel wie ein Messer in die Augen, und ich spürte den körnigen Schnee unter mir. Die Wirklichkeit hatte mich wieder. Mein Kopf schmerzte fürchterlich, und mir war kalt. Ich tastete nach dem Funkgerät und merkte, daß es verschwunden war. Anzug, Handschuhe und Stiefel waren ungeheizt. Das Peilgerät funktionierte nicht mehr. Es hatte keinen Sinn, den Griff des Notsignals zu ziehen. Ich taumelte auf die Füße; die Kälte packte mich wie ein Schraubstock. Im Schnee waren Fußstapfen, die von mir fortführten – wohin? Da war auch die Spur meiner Skier. Steif machte ich einen Schritt zurück entlang der Spur, dann noch einen und noch einen.

Die Verpflegung. Ich konnte sie in den Anzug werfen, das Hitzesiegel erbrechen und mich auf diese Weise vorübergehend erwärmen. Schritt für Schritt stapfte ich mühsam voran und überlegte: soll ich anhalten und ausruhen, während ich mich wärme, oder lieber weitergehen? Du brauchst eine Verschnaufpause, sagte ich mir. Etwas Unmögliches ist geschehen, dein Kopf schmerzt. Du wirst dich wohler fühlen, wenn du dich jetzt einen Augenblick setzst, ein oder zwei Rationen öffnest und dann weitergehst.

Ich setzte mich nicht nieder. Ich wußte, was das bedeuten würde; langsam und unbeholfen holte ich mit schmerzenden, klammen Fingern eine Coffiest-Dose aus der Tasche und schob sie in meinen Anzug. Die Finger gehorchten mir kaum. Mein Daumen schien nicht einmal mehr kräftig genug, um das Siegel zu erbrechen, und ich sagte mir: setz dich einen Augenblick und sammle deine Kräfte. Du brauchst dich ja gar nicht hinzulegen, so angenehm das auch wäre… mein Daumen löste das Siegel, die kribbelnde Hitze tat weh.

Die Landschaft verschwamm mir vor Augen. Ich öffnete weitere Dosen, dann konnte ich sie nicht mehr aus ihrer Verpackung lösen. Ich setzte mich schließlich doch und stand wieder auf. Dann setzte ich mich wieder voller Schuld und Scham über meine Verweichlichung und beschloß, in der nächsten Sekunde um Kathys willen aufzustehen, noch zwei Sekunden für Kathy, drei Sekunden für Kathy. Aber ich tat es nicht.

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