17.

Niemand wagte sich mehr in meine Nähe. Ich konnte nicht anders. Ich lebte nur noch für eines: für die täglichen Berichte über O’Shea. Alles andere langweilte und ärgerte mich.

Eines Abends war der Liste folgende Bemerkung hinzugefügt: Verbraucher, weiblich, um die dreißig, etwa einssechzig groß, Gewicht ca. 110 Pfund, rothaarig, Augenfarbe nicht erkannt, billig gekleidet. Besagte Person betrat Hash Heaven (Restaurant) um 18.37 Uhr, nachdem sie vierzehn Minuten draußen gewartet hatte, und ging sofort an den Tisch, den die neue Kontaktperson bediente, Tisch wurde unmittelbar vorher frei. Mutmaßung: Besagte Person zeigte sich in erster Linie an der Kellnerin interessiert.

Bestellte Haschee, aß sehr wenig, wechselte ein paar Worte mit der Kellnerin. Es könnten Papiere ausgetauscht worden sein, auf die große Entfernung hin nicht genau zu erkennen. Detektivin hat Kontakt aufgenommen.

Etwa dreißig, einssechzig, hundertzehn Pfund. Es könnte sein. Ich rief meine Spezialtruppe an und sagte: »Kümmern Sie sich um diese Person. Halten Sie mich unmittelbar auf dem laufenden. Wie war’s, wenn Sie sich das Restaurant einmal näher anschauten?«

Man erklärte mir bestürzt, daß man es selbstverständlich tun würde, wenn ich darauf bestünde, technisch jedoch sei es nicht ratsam. Gewöhnlich erführe die beschattete Person davon und…

»Gut«, sagte ich. »Erledigen Sie es auf Ihre Weise.«

»Einen Augenblick, Mr. Courtenay, bitte. Unsere Detektivin hat sich gerade gemeldet – die neue Kontaktperson ist ins Tauntongebäude zurückgegangen. Sie hat die Stufen 17-18 im fünfunddreißigsten Stock.«

»Für wen ist der fünfunddreißigste?« fragte ich mit schwerem Herzen.

»Für Ehepaare.«

»Ist sie…?«

»Sie ist allein, Mr. Courtenay. Unsere Detektivin tat so, als interessiere sie sich für den freien Platz. Man sagte ihr, Mrs. 17 halte 18 für die Ankunft ihres Mannes frei. Er hilft augenblicklich bei der Ernte.«

»Wann werden die Treppen bei Taunton geschlossen?« fragte ich.

»Um 22 Uhr, Mr. Courtenay.«

Ich blickte auf die Uhr. »Rufen Sie Ihren Detektiv zurück«, sagte ich. »Das war’s für heute.«

Ich stand auf und sagte zu meinen Leibwächtern: »Ich gehe ohne Sie aus, meine Herren. Bitte warten Sie hier. Leutnant, leihen Sie mir Ihre Pistole?«

»Natürlich, Mr. Courtenay«, sagte er und reichte mir eine 2561. Ich überprüfte das Magazin und ging allein zu Fuß aus dem Gebäude.

Als ich die Halle des Schocken-Hochhauses verließ, löste sich ein junger Mann von der Wand und folgte mir wie ein Schatten. Ich durchkreuzte seine Pläne, indem ich auf die leere Straße trat, ein dunkler Spalt zwischen den mächtigen Gebäuden der Innenstadt. Monoxyd und Smog hingen schwer in der Luft, aber ich trug Anti-Ruß-Stöpsel. Er nicht. Ich hörte ihn in beträchtlichem Abstand hinter mir keuchen. Ein einsames geschlossenes Taxi glitt an uns vorbei, der Fahrer schnaufte und keuchte, als er in die Pedale trat.

Ohne mich umzuschauen, bog ich um die Ecke des Schocken-Hochhauses und drückte mich gegen die Mauer. Mein Schatten trieb vorbei und blieb verblüfft stehen, schaute angestrengt in den Nebel.

Ich schlug ihm den langen Pistolenlauf in den Nacken – ein gezielter, gekonnter Schlag – und ging weiter. Vermutlich war er einer meiner eigenen Leute; aber ich wollte allein sein. Gegen 21.59 Uhr erreichte ich den Eingang für die Nachtbewohner des Taunton-Gebäudes. Hinter mir wurde die Tür durch das Zeitschloß verriegelt. Es gab einen kleinen Aufzug. Ich steckte eine Münze in den Schlitz, drückte auf 35 und las, während der Aufzug ächzend hinauffuhr.


»NACHTBEWOHNER SIND VERANTWORTLICH FÜR SICH SELBST. DAS MANAGEMENT HAFTET NICHT FÜR DIEBSTAHL, ÜBERFALL ODER RAUB!

DIE SPERRE WIRD UM 22.10 UHR GESCHLOSSEN! NATÜRLICHE BEDÜRFNISSE SIND ENTSPRECHEND EINZURICHTEN. DIE MIETE IST PRO NACHT IM VORAUS ZU ENTRICHTEN, ZAHLBAR AM AUTOMATEN.

DAS MANAGEMENT BEHÄLT SICH DAS RECHT VOR, STARRZELIUSKUNDEN DIE AUFNAHME ZU VERWEIGERN.«


Die Tür öffnete sich zum Treppensatz des fünfunddreißigsten Stockwerks. Die Treppe glich einem Käse voller Maden. Die Männer und Frauen wanden sich unbehaglich, versuchten eine bequeme Lage zu finden, bevor sich die Sperren schlössen. Ich blickte auf die Uhr, es war 22.08 Uhr. Ich stieg sehr vorsichtig und sehr langsam unter vielen Entschuldigungen im Dämmerlicht über die Glieder und Körper; ich zählte… Auf der siebzehnten Stufe stieg ich über eine zusammengekauerte Gestalt hinweg, als meine Uhr gerade auf 22.10 Uhr rückte.

Mit rostigem Klirren fielen die Sperren zu und schlossen die Stufen 17-18; in dem winzigen Käfig waren ich und…

Sie richtete sich auf; sie sah verängstigt und ärgerlich aus, in der Hand hielt sie eine kleine Pistole.

»Kathy«, sagte ich.

Sie senkte die Pistole. »Mitch. Du Narr.« Ihre Stimme klang leise und eindringlich. »Was tust du hier? Man hat dich noch nicht aufgegeben, sie wollen dich noch immer umbringen…«

»Das weiß ich«, sagte ich. »Ich bin trotzdem gekommen, Kathy. Ich lege meinen Kopf in den Rachen des Löwen, um dir zu beweisen, daß ich es ernst meine, wenn ich sage, daß du recht hattest und ich mich geirrt habe.«

»Wie hast du mich gefunden?« fragte sie mißtrauisch.

»O’Shea roch nach deinem Parfüm. Ménage à Deux.«

Sie schaute sich in dem überfüllten Quartier um und kicherte. »Stimmt, nicht wahr?«

»Ich habe mich abgekühlt, Kathy«, sagte ich. »Ich bin nicht hier, um dich anzufassen, mit oder ohne deine Zustimmung. Ich bin hier, um dir zu sagen, daß ich auf deiner Seite stehe. Nenn den Preis und ich zahle.«

Sie blickte mich aus schmalen Augenschlitzen an und fragte: »Die Venus?«

»Sie gehört dir.«

»Mitch«, sagte sie, »wenn du lügst…«

»Wenn wir hier lebendig herauskommen, wirst du es morgen wissen. Bis dahin läßt sich nichts weiter darüber sagen, nicht wahr? Heute nacht sitzen wir fest.«

»Ja«, sagte sie. »Heute nacht sitzen wir fest.« Dann fügte sie plötzlich leidenschaftlich hinzu: »Mein Gott, habe ich dich vermißt!«

Der Weckruf ertönte um sechs Uhr. Diese Unterschalltöne sprengten einem fast den Schädel; doch sie stellten immerhin sicher, daß kein Langschläfer die morgendliche Evakuierung behinderte.

Kathy begann geschwind, das Bettzeug unter die Stufe zu schieben. »In fünf Minuten werden die Sperren eingezogen«, sagte sie kurz. Sie öffnete die Schublade von Treppe siebzehn und holte eine flache Schachtel heraus, die sich als Schminkgarnitur entpuppte. »Stillhalten.«

Ich schrie auf, als sie mit einem Rasiermesser über meine rechte Augenbraue fuhr. »Stillhalten!« und schon hatte ich einen Verband über der linken Augenbraue. Geschwind betupfte sie hier und dort mein Gesicht mit geheimnisvollen Bürsten.

»Flopp!« sagte ich, als sie mir ein Kunststoffplättchen unter die Oberlippe schob. Zwei kleine Pflaster klebten meine abstehenden Ohren fest an den Kopf, dann sagte sie: »Da«, und hielt mir den Spiegel vors Gesicht.

»Gut«, sagte ich. »Es ist mir schon einmal gelungen, morgens mit der Menschenmenge hier herauszukommen. Vielleicht klappt es noch einmal.«

»Die Sperren werden geöffnet«, sagte sie angespannt; sie kannte die Geräusche, die diesen Vorgang ankündigten, meinen unerfahrenen Ohren waren sie entgangen.

Die Sperren verschwanden. Wir waren die einzigen Schläfer, die sich noch im fünfunddreißigsten Stock befanden. Aber wir waren nicht allein. B. J. Taunton und zwei seiner Leute standen vor uns. Taunton schwankte ein wenig; auf seinem geröteten Gesicht lag ein Grinsen. Seine beiden Leute hatten ihre Maschinenpistolen auf mich gerichtet.

Taunton hatte einen Schluckauf und sagte: »Dies war der denkbar schlechteste Ort, sich eine Puppe zu suchen, Courtenay. Für ungebetene Gäste wie Sie haben wir nämlich ein Fotoregister. Süße, könntest du wohl einen Schritt beiseitegehen…«

Sie machte keinen Platz. Sie ging geradewegs auf Taunton zu und rammte ihm ihre Pistole in den Magen. Sein rotes Gesicht wurde aschfahl. »Sie wissen ja, was Sie zu tun haben«, sagte sie drohend.

»Jungs«, sagte er schwach, »laßt die Waffen fallen. Um Himmels willen, werft sie fort!«

Sie blickten sich an. »Werft sie fort!« bat er flehend. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die Maschinenpistolen auf die Erde legten, aber sie taten es. Taunton begann zu schluchzen.

»Dreht euch um«, sagte ich, »und legt euch hin.« Ich hatte meine geliehene Pistole herausgeholt. Es war ein wunderbares Gefühl.

Den Aufzug hätte man zu leicht mit Gas füllen können. Also stiegen wir zu Fuß die Treppe hinunter. Es war eine langwierige, anstrengende Sache, obgleich alle Schläfer bereits vor Stunden das Haus hatten räumen müssen um B.J.s Plan nicht zu behindern. Er schluchzte und jammerte vor sich hin. Im zehnten Stockwerk wimmerte er: »Ich brauche etwas zu trinken, Courtenay. Ich sterbe. Hier ist eine Bar, Sie können mich mit der Pistole begleiten…«

Kathy lachte bitter bei dem bloßen Gedanken daran, und wir setzten unseren langsamen Abstieg fort.

Am Ausgang für Nachtbewohner legte ich meinen Mantel über Kathys Hand, damit man die Pistole nicht sah; vergaß dabei allerdings, daß Winter war. »Alles in Ordnung!« rief B. J. zitternd einem mißtrauischen Wachtposten zu, der auf uns zukam. »Diese Leute sind Freunde von mir. Es ist alles in Ordnung!«

Wir gingen mit ihm zur Bahnstation, stiegen ein und ließen ihn schwitzend, mit grauem Gesicht auf der Straße stehen. Jetzt waren wir sicher. Seine einzige Chance wäre, die gesamte Bahnstation in die Luft zu jagen, und darauf war er nicht vorbereitet.

Eine Stunde lang fuhren wir kreuz und quer durch die Stadt, und ich rief von einer Telefonzelle aus mein Büro an. An einer anderen Station erwartete uns ein Kommando vom Fabrikschutz, und fünfzehn Minuten später waren wir wieder im Schocken-Hochhaus.

Das einzige, worüber wir an diesem Morgen lachen konnten, war die Zeitung, in der zu lesen stand, um drei Uhr nachts habe man im Treppenschacht des Taunton-Gebäudes ein Leck in der Klimaanlage entdeckt. B. J. Taunton persönlich habe unter Einsatz seines Lebens die Evakuierung der Nachtbewohner des Gebäudes überwacht, Unfälle habe es keine gegeben.

Ober den Frühstückstisch hinweg sagte ich zu Kathy: »Dein Haar sieht ja fürchterlich aus. Kann man das heraus waschen?«

»Genug der Komplimente«, sagte sie. »Du hast gesagt, ich könne die Venus haben. Mitch, ich meinte es ernst. Und die Venus gehört uns wahrhaftig. Wir sind die einzigen, die richtig damit umgehen können, außerdem war der erste Mensch, der dort gelandet ist, einer von uns. O’Shea gehört zu uns, Mitch.«

»Seit wann?«

»Seitdem seine Mutter und sein Vater feststellten, daß er nicht mehr wuchs, seither gehört er zu uns. Sie wußten, daß die W.N.O. bald Raumpiloten benötigen würde – und zwar je kleiner desto besser. Nicht die Erde hat die Venus entdeckt, sondern die Welt-Naturschutz-Organisation. Und wir fordern das Recht, sie zu besiedeln. Wie steht’s?«

»Ja«, sagte ich. »Du lieber Gott, das wird ein Durcheinander geben. Unsere Listen sind bereits voll – lauter eifrige Leute, die zur Venus wollen, die bereit sind, sich für die Erde und Fowler Schocken ausbeuten zu lassen. Na ja, dann mache ich eben einen eleganten Rückzieher.«

Ich drückte auf den Knopf und stellte eine Verbindung mit der Abteilung F. & E. her. »Charlie!« sagte ich. »Es handelt sich um die CO2 Ausschreibung mit hiesigen Produzenten. Vergessen Sie die Angelegenheit. Ich habe festgestellt, daß die meisten Hersteller mit Taunton zusammenarbeiten.«

»Geht in Ordnung, Mr. Courtenay«, sagte Charlie gutgelaunt. »Soweit wie die Vorarbeiten schon angelaufen sind, wird das denen einen ganz schönen Schlag versetzen.«

Ich fragte Kathy: »Kannst du Runstead für mich wieder zum Leben erwecken? Ich habe keine Ahnung, wo die W.N.O. ihn versteckt hält, aber wir brauchen ihn. Es wird eine harte Arbeit. Die Kunst des Texters besteht darin, die Menschen zu überzeugen, ohne sie merken zu lassen, daß sie überzeugt werden. Ich stehe vor einer schwierigen Aufgabe: ich muß meine Texter von dieser Überzeugung wieder abbringen, ohne daß Texter und Verbraucher erfahren, was geschieht. Ich brauche dringend ein paar gute Arbeitskräfte, jemanden, mit dem ich offen reden kann.«

»Das läßt sich arrangieren«, sagte sie und küßte mich flüchtig. »Das ist für das ›Wir‹.«

»Hmm?« fragte ich. »Habe ich ›wir‹ gesagt?« Dann begriff ich. »Oh, Liebling. Bitte, ich habe eben eine luxuriöse Wohnung, zwölf mal zwölf. Du hast eine harte Nacht hinter dir. Ich schlage vor, du gehst hinauf und schläfst ein bißchen. Ich habe eine Menge zu erledigen.« Sie küßte mich und sagte: »Arbeite nicht zu schwer.«

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