1.

Als ich mich an jenem Morgen anzog, ging ich im Geiste die lange Liste von Statistiken, Ausflüchten und Übertreibungen durch, die man in meinem Bericht erwartete. Meine Abteilung – Produktion – hatte sich mit einer Serie von Krankheitsfällen und Kündigungen herumschlagen müssen, und die Arbeit läßt sich nicht erledigen, wenn keine Leute da sind. Für die Direktion allerdings würde das kaum als Entschuldigung gelten.

Ich rieb mein Gesicht mit Enthaarungsseife ein und spülte es anschließend unter dem kümmerlichen Rinnsal aus dem Frischwasserhahn ab. Bevor die letzten Stoppeln fortgespült waren, versiegte das Süßwasser. Ich fluchte vor mich hin und beendete meine Reinigungsprozedur mit Salzwasser. Das war in letzter Zeit häufiger vorgekommen; einige Leute machten Natschu-Saboteure dafür verantwortlich. Überall in New York fanden Überfälle auf die Wasserversorgungsgesellschaft statt.

Einen Augenblick lang fesselten mich die Nachrichten im Fernseher über dem Rasierspiegel… die Ansprache des Präsidenten vom vergangenen Abend, ein kurzer Blick auf die Venusrakete, die gedrungen und silbern im Sand von Arizona kauerte, Aufstände in Panama… ich schaltete den Apparat ab, als das viertelstündliche Signal ertönte.

Es sah so aus, als würde ich mich verspäten. Und das würde gewiß nicht zur Besänftigung der Direktion beitragen. Ich sparte fünf Minuten ein, indem ich das Hemd vom Vortage noch einmal anzog, anstatt mir ein sauberes fertigzumachen, und ließ meinen Frühstückssaft auf dem Tisch warm und klebrig werden. Aber ich verlor die fünf Minuten wieder, weil ich versuchte, Kathy anzurufen. Sie ging nicht ans Telefon und ich würde zu spät ins Büro kommen. Glücklicherweise – und das war noch nie dagewesen – verspätete sich auch Fowler Schocken.

Bei uns im Büro ist es üblich, daß Fowler einmal die Woche fünfzehn Minuten vor dem regulären Arbeitsbeginn eine Direktorenkonferenz abhält.

Heute hatte ich allerdings noch Zeit genug, um die Berichte durchzusehen, die meine Sekretärin auf den Schreibtisch gelegt hatte. Als Fowler Schocken mit einer höflichen Entschuldigung für seine Unpünktlichkeit eintrat, saß ich so entspannt und sicher an meinem Platz am Ende des Tisches, wie es nur ein Gesellschafter von Fowler Schocken sein kann.

»Guten Morgen«, sagte Fowler, und wir elf gaben das übliche idiotische Gemurmel von uns. Er setzte sich nicht. Er blieb stehen und starrte uns eineinhalb Minuten väterlich an. Dann schaute er sich mit dem Gesichtsausdruck eines Touristen in Xanadu langsam und aufmerksam im Raum um.

»Ich habe über unser Konferenzzimmer nachgedacht«, sagte er, und wir alle blickten uns um. Der Raum ist nicht groß, aber auch nicht klein; etwa zehn mal zwölf Meter. Doch er ist kühl, gut beleuchtet und höchst eindrucksvoll möbliert. Die Klimaanlage ist geschickt hinter Friesen versteckt; der Teppich ist dick und weich; jedes Möbelstück besteht ganz und gar aus fachmännisch ausgewähltem makellosen Holz.

Fowler Schocken sagte: »Wir haben wirklich ein hübsches Konferenzzimmer. Und das ist auch richtig, denn schließlich ist Fowler die größte Werbeagentur der Stadt. Wir setzen jährlich eine Million mehr um als jede andere in der Gegend. Und«, er blickte uns alle an, »ich glaube, Sie werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß wir alle davon profitieren. Ich glaube nicht, daß sich in diesem Zimmer auch nur ein einziger befindet, der nicht wenigstens ein Zwei-Zimmer-Apartment bewohnt.« Er zwinkerte mir zu. »Sogar die Junggesellen. Und was mich selbst betrifft, so kann ich nicht klagen. Mein Sommersitz grenzt direkt an einen der größten Parks von Long Island. Seit Jahren esse ich kein Protein, sondern echtes frisches Fleisch, und wenn ich eine kleine Spritztour mache, steht mir ein Cadillac zur Verfügung. Ich kann nicht klagen, und ich glaube, Sie alle können von sich dasselbe sagen, stimmt’s?« Die Hand unseres Marktforschungsdirektors schoß in die Höhe, und Fowler nickte ihm zu: »Ja, Matthew?«

Matt Runstead weiß, woher seine Brötchen kommen. Er warf einen angriffslustigen Blick in die Runde. »Ich wollte nur meine Zustimmung ausdrücken, Mr. Schocken – meine hundertprozentige Zustimmung!« sagte er knapp und kurz.

Fowler Schocken neigte den Kopf. »Danke, Matthew.« Und er meinte es so. Es dauerte einen Augenblick, bis er weiterspechen konnte. »Es ist uns allen klar«, sagte er, »warum wir es soweit gebracht haben. Wir erinnern uns an Starrzelius Verily Etat und daran, wie wir Indiastries aus dem Boden stampften. Der erste Sphärentrust. Die Verschmelzung eines ganzen Subkontinents zu einem einzigen Fabrikationskomplex. Schocken AG leistete Pionierarbeit. Niemand kann sagen, wir seien lahm. Aber das ist vorbei. Leute! Ich möchte eines wissen. Sagt es mir ehrlich – lassen wir nach?« Er ließ sich Zeit und schaute jedem von uns prüfend ins Gesicht, ignorierte den Wald von ausgestreckten Händen. Du lieber Himmel, auch ich hatte die Hand erhoben. Dann nickte er dem Mann zu seiner Rechten zu. »Du zuerst, Ben«, sagte er.

Ben Winston erhob sich und begann mit tiefer Stimme: »Von der Abteilung Industrieanthropologie aus betrachtet ist das nicht der Fall! Hören Sie sich den heutigen Fortschrittsbericht an – Sie werden ihn mittags ohnehin bekommen, ich möchte ihn jetzt kurz zusammenfassen: nach den Tabellen von Mitternacht zu urteilen, benutzen mittlerweile alle Grundschulen östlich des Mississippi unsere Verpackung für die Schulspeisung. Sojaburger und künstliches Steak« – es gab nicht einen am Tisch, den es bei dem Gedanken an Sojaburger und künstliche Steaks nicht schauderte – »sind in Behältern verpackt, die denselben Grünton haben wie die Universal Produkte. Bonbons, Eiskrem und Kiddiebuttzigaretten jedoch sind in leuchtendes Starrzelius Rot eingewickelt. Wenn diese Kinder heranwachsen…«, er hob die Augen triumphierend von seinen Notizen. »Gemäß unserer Extrapolation sind die Universal Produkte in fünfzehn Jahren bankrott und völlig vom Markt verschwunden!«

Er setzte sich unter allgemeinem Applaus. Auch Schocken klatschte in die Hände und strahlte uns an. Ich beugte mich vor, nachdem ich Ausdruck Nummer Eins auf mein Gesicht gezaubert hatte – Eifer, Intelligenz, Fähigkeit – aber ich hätte mir die Mühe sparen können. Fowler deutete auf den hageren Mann neben Winston. Harvey Bruner.

»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es im Verkauf ganz spezielle Probleme gibt«, sagte Harvey und blähte seine eingefallenen Wangen auf. »Ich schwöre, diese verdammte Regierung ist durch und durch von Natschus infiltriert! Sie wissen ja, was die fertiggebracht haben! Unterschallgeschwindigkeit in unserer Auralwerbung wurde verboten – aber wir haben mit einer ganzen Liste semantischer Schlüsselwörter zurückgeschlagen, die jedes Trauma und jede Neurose des modernen amerikanischen Lebens ansprechen. Man hat auf die Sicherheitsvorschriften hingewiesen und uns verboten, Reklame auf den Fenstern der Luftbusse anzubringen – aber wir ließen uns nicht unterkriegen. Ich habe vom Labor erfahren«, er nickte unserem Forschungsdirektor zu, der auf der anderen Seite des Tisches saß, »daß wir in Kürze ein System testen werden, das direkt auf die Netzhaut des Auges überträgt. Und das ist nicht alles, wir machen Fortschritte. Als Beispiel möchte ich nur Coffiest nen…« er hielt inne. »Entschuldigen Sie, Mr. Schocken«, flüsterte er, »ist dieses Zimmer vom Sicherheitsdienst überprüft worden?«

Fowler Schocken nickte. »Absolut sauber. Nur die üblichen Abhörmikrofone vom Auswärtigen Amt und vom Repräsentantenhaus. Für die spielen wir natürlich frisierte Playbackaufnahmen ab.«

Harvey entspannte sich wieder. »Also zu Coffiest«, sagte er. »Wir verteilen Proben in fünfzehn Schlüsselstädten. Unser normales Angebot – dreizehn Wochen kostenlos Coffiest, tausend Dollar in bar und ein Wochenendurlaub an der Ligurischen Riviera für jeden, der mitmacht. Aber – und aus diesem Grunde ist die Kampagne, jedenfalls meiner Meinung nach, wirklich fantastisch – jede Coffiestprobe enthält drei Milligramm einfaches Alkaloid. Nicht schädlich. Aber auf jeden Fall besteht Gewöhnungsgefahr. Nach zehn Wochen haben wir den Kunden lebenslänglich. Eine Kur würde mindestens fünftausend Dollar kosten, es ist also einfacher, weiterhin Coffiest zu trinken – drei Tassen zu jeder Mahlzeit und eine Kanne auf dem Nachtschrank, wie’s auf dem Glas steht.«

Fowler Schocken strahlte, und ich setzte wieder Ausdruck Nummer Eins auf. Neben Harvey saß Tildy Mathis, Personalchefin, von Schocken persönlich ausgesucht. Aber bei Direktionssitzungen erteilte er Frauen nicht das Wort, und neben Tildy saß ich.

Ich sortierte im Geiste gerade meine Eröffnungsworte, als mich Fowler Schocken mit einem Lächeln befreite. Er sagte: »Ich werde nicht jede Abteilung um Berichterstattung bitten. Wir haben keine Zeit. Aber ich habe Ihre Antwort, meine Herren. Eine Antwort, die mir gefällt. Bisher haben Sie jeder Herausforderung getrotzt. Und jetzt – biete ich Ihnen eine neue Herausforderung.«

Er drückte auf einen Knopf an seinem Schaltbrett und schwenkte seinen Drehstuhl herum. Das Licht ging aus; der projizierte Picasso hinter Schockens Sessel verschwand und die gefleckte Oberfläche des Bildschirms wurde sichtbar. Ein neues Bild begann sich zu formen.

Ich hatte an jenem Tage bereits etwas Ähnliches gesehen, und zwar in den Nachrichten, auf dem Bildschirm über meinem Rasierspiegel.

Es war die Venusrakete, ein dreihundert Meter langes Monstrum, das aufgedunsene Kind der schlanken V-2S und der untersetzten Mondraketen der Vergangenheit. Auf einem Gerüst aus Stahl und Aluminium wimmelte es von winzigen Gestalten, die mit winzigen, blauweißen Schweißflammen hantierten. Es war offensichtlich ein altes Bild; es zeigte die Rakete in einem früheren Konstruktionsstadium, das Wochen oder Monate zurücklag, nicht aufgerichtet und startklar, wie ich sie gesehen hatte.

Eine Stimme vom Bildschirm sagte triumphierend und ungenau: »Dieses Schiff wird eine Brücke zu den Sternen schlagen!« Ich erkannte die Orgelstimme eines Kommentators aus der Abteilung »Aurale Wirkung«, der Text stammte ohne Zweifel aus Tildys Büro. Diese geniale Schlampigkeit, die Venus mit einem Stern zu verwechseln, konnte nur aus Tildys Abteilung kommen.

»Dieses Schiff wird von einem modernen Kolumbus durch den Weltraum gesteuert«, sagte die Stimme. »Sechseinhalb Millionen Tonnen eingefangener Blitz und Stahl – eine Arche für achtzehnhundert Männer und Frauen und alles was sie brauchen, um sich eine neue Welt zur Heimat zu machen. Wer wird mitfliegen? Welche glücklichen Pioniere werden dem reichen, frischen Boden einer anderen Welt ein Imperium entreißen? Ich werde sie Ihnen vorstellen – ein Mann und seine Frau, zwei unerschrockene…«

Die Stimme sprach weiter. Ein neues Bild wurde eingeblendet, eine geräumige, gutbürgerliche Wohnkabine am frühen Morgen.

Der Mann schob gerade das Bett beiseite und ließ die Trennwände zur Kinderecke herunter; die Frau holte Frühstück und stellte den Tisch auf. Am Frühstückstisch (für jede Person selbstverständlich ein Becher dampfendes Coffiest) redeten sie beschwörend aufeinander ein, sprachen davon, wie klug und tapfer es doch sei, sich um einen Platz in der Venusrakete zu bewerben. Und die abschließende Frage der Jüngsten (Mammi, wenn ich groß bin, kann ich meine kleinen Jungen und Mädchen dann auch an einen so hübschen Ort wie die Venus bringen?) leitete über zu einem Bildschnitt und einer Reihe höchst fantasievoller Aufnahmen von der Venus, wie sie einmal aussähe, wenn das Kind erwachsen sein würde – grüne Täler, kristallene Seen, ein herrliches Gebirgspanorama.

Der Kommentator verschwieg die jahrzehntelange Wasserkultur und das Leben in hermetisch geschlossenen Kabinen, das die Pioniere in Kauf nehmen müßten, während sie in der Atmosphäre, in der man nicht atmen konnte, und an der wasserlosen Chemie der Venus arbeiteten, zwar nicht ausdrücklich, aber er ging auch nicht näher darauf ein.

Instinktiv hatte ich den Zeitnehmer auf meiner Uhr eingestellt, als der Film begann. Als er zu Ende war, schaute ich nach: neun Minuten! Dreimal so lang wie jeder normale Werbefilm. Eine volle Minute länger als uns normalerweise genehmigt wurde.

Erst als das Licht wieder eingeschaltet war, die Zigaretten brannten und Fowler Schocken wieder zu sprechen anhub, wurde mir allmählich klar, wie das hatte passieren können. Er begann in der umständlichen, langatmigen Weise, die zu unserer Branche gehört. Er lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Werbung – von der einfachen Aufgabe, fertige Waren zu verkaufen, bis zum gegenwärtigen Problem, neue Industrien zu schaffen und die Lebensweise der Welt neu zu gestalten, um den Bedürfnissen des Handels zu entsprechen. Mehr als einmal erwähnte er, was wir, die Fowler Schocken AG, geschaffen hatten. Und dann sagte er:

»Es gibt ein altes amerikanisches Sprichwort: ›Die Welt ist unsere Auster.‹ Wir haben es wahr gemacht. Doch wir haben die Auster gegessen.« Langsam drückte er seine Zigarette aus. »Wir haben sie gegessen«, wiederholte er. »Wir haben die Welt wirklich und wahrhaftig erobert. Wie Alexander weinen wir nach neuen Welten, die es zu erobern gibt. Und dort«, er deutete auf den Bildschirm hinter sich, »dort haben Sie gerade die erste dieser Welten gesehen.«

Während wir noch damit beschäftigt waren, das, was Fowler Schocken gerade verkündet hatte, zu verdauen, sprang Runstead auf.

»Meine Herren«, sagte er leidenschaftlich, »dies ist wahrlich das Werk eines Genies. Nicht einfach Indien. Nicht einfach eine Ware. Ein ganzer Planet wird verkauft. Ich gratuliere Ihnen, Fowler Schocken – der Clive, der Bolivar, der John Jacob Astor einer neuen Welt!«

Matt war, wie ich bereits sagte, der erste, aber wir alle erhoben uns und sagten nacheinander dasselbe. Ich auch.

Als wir alle durch waren, drückte Fowler Schocken auf einen anderen Knopf und zeigte uns eine Karte. Er erklärte sie sorgfältig, Stück für Stück; er zeigte uns Tabellen, Grafiken und Diagramme der gesamten neuen Abteilung der Fowler Schocken AG, die eingerichtet werden sollte, um die Entwicklung und Ausbeutung des Planeten Venus zu leiten. Er sprach über die langwierigen Vorarbeiten, die Lobby und das Freundschaftswerben beim Kongreß; auf diese Weise hatten wir das Exklusivrecht zur Nutzung des Planeten erlangt – und allmählich wurde mir klar, warum er ohne weiteres einen Werbefilm von neun Minuten Länge senden könnte.

Aber schließlich schaltete er den Projektor ab und sagte: »Das war’s. Das ist unser neuer Werbefeldzug. Und er beginnt sofort. Ich habe nur noch eines zu sagen, dann gehen wir alle an die Arbeit.«

Fowler Schocken ist ein guter Schauspieler. Er suchte umständlich nach einem Stück Papier, um einen Satz abzulesen, den der unfähigste unserer Texter aus dem Handgelenk geschüttelt hätte. »Präsident der Venus-Sektion«, las er vor, »ist Mitchell Courtenay.«

Und das war die allergrößte Überraschung, denn Mitchell Courtenay bin ich.

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