Acht

Sie hatten sich dem Sprungpunkt in einem steilen Winkel genähert und dabei die Flotte eine Kurve fliegen lassen, damit die Kriegsschiffe der Allianz auf einen Vektor einschwenken konnten, der genau auf den Sprungpunkt hinführte.

»Wir sehen noch immer nichts«, meldete eine angespannt klingende Lieutenant Castries.

Jeder erwartete, irgendetwas zu sehen oder zu entdecken. Nach den Attacken unmittelbar nach Verlassen des Hypernet-Portals rechneten alle damit, dass die Syndiks spätestens am Sprungpunkt einen weiteren Anlauf unternehmen würden.

»Minen sind immer noch am ehesten anzunehmen«, meinte Desjani. »Aber falls die sich genau vor dem Sprungpunkt befinden, sind wir jetzt noch zu weit entfernt, um etwas zu erkennen.«

Geary verfolgte aufmerksam die Flugbahn eines einzelnen Schiffs, das sich vor der Flotte befand. Bei der Annäherung an den Sprungpunkt wurde es deutlich langsamer. »Werden wir dieses Handelsschiff überholen?«

»Es sollte eigentlich zum Sprung ansetzen, wenn wir noch zehn Minuten von unserem Ziel entfernt sind, Admiral«, erwiderte Lieutenant Castries.

»Interessantes Timing«, kommentierte Desjani.

»Allerdings.« Er tippte die notwendigen Befehle ein, um sich anzusehen, auf welchem Kurs der Frachter hergekommen war. »Wer zum Argwohn neigt, dem dürfte auffallen, dass dieses Schiff eine Einrichtung auf einem der äußeren Planeten verlassen hat, nachdem wir wieder auf eine Flugbahn zum Sprungpunkt gegangen sind. Das Ganze hat er zeitlich so gelegt, dass er dicht vor uns in den Sprungpunkt hineinfliegen wird.«

»Das lässt den Weg zum Sprungpunkt zwar gefahrlos erscheinen«, gab Desjani zu bedenken, »aber es ist kein nennenswertes Ablenkungsmanöver. Wir können den Frachter beobachten, ohne dass wir uns von irgendetwas ablenken lassen müssen.«

Gearys Aufmerksamkeit wurde auf eine Bewegung in seiner Flotte aufmerksam. Die Tänzer. Deren Schiffe hatten ihren Platz in der Nähe der Invincible verlassen und schossen durch die Formation, als könnten sie es nicht erwarten, den Sprungpunkt vor der Allianz-Flotte zu erreichen. »Gesandter Charban! Machen Sie den Tänzer so eindringlich wie möglich klar, dass wir eine Bedrohung in der unmittelbaren Nähe des Sprungpunkts vermuten! Sie sollen nicht vor unseren Schiffen herfliegen!«

»Ja, Admiral«, erwiderte Charban mit besorgter und zugleich resignierter Miene. »Die hören nicht immer auf das, was man ihnen sagt. Ich werde sie informieren, aber unerwähnt lassen, dass es nur eine Vermutung ist. Vielleicht bewirkt es ja etwas, wenn wir behaupten, wir wüssten, dass da eine Gefahr lauert.«

»Und was machen wir«, warf Desjani ein, »wenn die Tänzer dorthin vorausfliegen, wo wir das Minenfeld vermuten?«

»Beten«, gab Geary zurück.

Mit wachsender Angst verfolgte er mit, wie die Tänzer sich immer mehr den führenden Schiffen seiner Flotte näherten. Was immer Charban ihnen mitteilte, schien nicht überzeugend genug zu sein. Ich sollte Charban rufen und ihm sagen, er soll den Tänzern sofort solche Angst machen, dass sie ihre Aktion beenden. Aber was, wenn er damit gerade beschäftigt ist und ich ihn dabei unterbreche, was dann dazu führt, dass die dringende Aufforderung erst mit Verzögerung bei ihnen eintrifft? Verdammt, verdammt, verdammt …

Die Tänzer-Schiffe hatten soeben die Allianz-Formation hinter sich gelassen, sie kreisten beharrlich umeinander, während sie sich dem Syndik-Transporter näherten, der unverändert auf den Sprungpunkt zuhielt.

Plötzlich ertönte ein gellender Alarm, der Geary und alle anderen auf der Brücke zusammenzucken ließ, da jeder mit Bestürzung die komplexen Flugmanöver der Tänzer mitverfolgte.

»Wir empfangen einen Notruf«, meldete Lieutenant Castries.

Geary schaute auf sein eigenes Display und entdeckte ein neues Signal, das über dem Frachter aufgetaucht war. »Von dem Handelsschiff vor uns?«

»Ja, Admiral. Sie melden Schwankungen in ihrer Antriebseinheit.«

»Was sagen unsere Sensoren?«, wollte Desjani wissen.

»Die beobachten Fluktuationen, die zum Versagen der Kontrollmechanismen einer Antriebseinheit passen.«

War das der Trick, auf den sie gewartet hatten? Oder hatte das Schiff tatsächlich ein Problem? Und dann waren da ja auch noch die Tänzer, die sich bedenklich dem Gefahrenradius näherten, der soeben von den Steuersystemen der Flotte rings um den Syndik-Frachter errechnet worden war und nun angezeigt wurde.

»Bei unseren Vorfahren, Gesandter Charban! Lassen Sie die Tänzer wissen, dass der Frachter hochgehen wird!«

Charbans von Anstrengungen gezeichnetes Gesicht tauchte gerade lange genug auf, um mit einem Nicken zu reagieren. »Professor Shwartz und ich schreien uns schon die Lunge aus dem Hals, um die Tänzer zu warnen. Auf diese Gefahr werden wir sie auch noch schnell hinweisen.«

»Vielleicht fliegt er ja gar nicht in die Luft«, warf Desjani ein und zuckte leicht zusammen, als sie Gearys gar nicht amüsiertes Gesicht sah. »Tut mir leid, Admiral, aber … etwas anderes können wir momentan nicht unternehmen.«

Die Tänzer befanden sich mittlerweile deutlich im möglichen Explosionsradius des Frachters, auf einmal teilten sie sich auf und schwirrten zu allen Seiten an ihm vorbei, um unverändert auf den Sprungpunkt zuzuhalten.

Mit betrübter Miene sah er dem Geschehen zu. »Diese freundlichen Aliens machen mir im Augenblick genauso viel Angst wie die feindseligen Aliens«, grummelte er vor sich hin.

»Die Fluktuationen auf dem Schiff werden stärker«, ließ Lieutenant Castries ihn wissen und klang unüberhörbar beunruhigt.

»Warnschüsse?«, überlegte Desjani und hörte sich nicht weniger ratlos an.

»Die sind bereits außer Reichweite«, sagte Geary. »Und wenn sie schon eine Nachricht nicht begreifen wollen oder können, die sie vor einer gefährlichen Region warnt, wie sollen wir dann von ihnen erwarten, dass sie uns verstehen, wenn wir auf sie feuern?«

Wieder meldete sich Lieutenant Castries zu Wort: »Admiral, der Frachter hat soeben den Alarm gesendet, dass das Schiff aufgegeben wird. Die Crew ist auf dem Weg in ihre Rettungskapsel.«

Geary sah zu Desjani, die mit versteinerter Miene ihr Display betrachtete. »Denken Sie das Gleiche wie ich?«

»Wahrscheinlich«, entgegnete sie. »Die stoßen ihre Kapsel aus und werden einen Notruf mit der Bitte senden, sie an Bord zu nehmen. Dann wird ihr Frachter explodieren. Wenn wir dann dadurch abgelenkt sind und unsere Sensoren von den Nachwirkungen der Explosion nur eingeschränkt arbeiten, dann geraten wir auf einmal in die Minen. Vorausgesetzt, wir werden nicht auch noch davon abgelenkt, dass die Tänzer-Schiffe in die Minen hineinfliegen.«

»Ja, genau. Ein weiteres Ablenkungsmanöver, wie Master Gioninni es vorausgesagt hat. Da kommt die Rettungskapsel.«

»Und kommt der Notruf.«

»Die Frachtercrew bittet um Hilfe«, sagte Lieutenant Castries. »Sie berichten von Schwerverletzten. Energieschwankungen auf dem Frachter befinden sich im gefährlichen Bereich. Wir sind weit genug vom Gefahrenradius des Frachters entfernt, falls er explodieren sollte. Die Tänzer …«

»… befinden sich deutlich im Radius«, führte Desjani den Satz zu Ende. »Aber sie sind im Begriff … oh verflucht!«

Geary empfand ganz genauso, als er mitansah, wie die Tänzer-Schiffe kurz vor Erreichen des Frachters eine abrupte Kursänderung vornahmen und auf die eben erst gestartete Rettungskapsel zuflogen. »So dumm können die doch gar nicht sein!«, platzte er heraus. »Selbst wenn Charban und Shwartz ihnen kein Wort gesagt hätten, müssen die Tänzer doch in der Lage sein, die Energiefluktuationen in der Antriebseinheit des Frachters festzustellen. Ihnen muss doch klar sein …« Er unterbrach sich, als ihm ein Gedanke durch den Kopf ging.

»Was denn?«, fragte Desjani.

»Wollen die uns bloß auf den Arm nehmen?«, fragte er sich. »Begeben sie sich absichtlich in Gefahr, damit sie …«

»Sie fliegen mit hoher Geschwindigkeit auf ein Minenfeld zu«, fiel Desjani ihm ins Wort, als ihr mit einem Mal etwas bewusst wurde. »Sie verfügen über eine bessere Tarntechnologie als wir. Das dürfte bedeuten, dass sie auch den Einsatz von Tarntechnologie leichter aufspüren können.«

»Das heißt, sie sehen Minen, die für uns noch unsichtbar sind? Aber warum sind sie dann …« Geary schlug so fest auf seine Armlehne, dass ihm einen Moment lang die Hand wehtat. »Sie wollen uns warnen.«

»Oder sie wollen uns verrückt machen!«

Die Tänzer, die ihre Schiffe auf eine Weise manövrierten, mit der die Allianz-Flotte nicht annähernd mithalten konnte, hatten inzwischen fast die Rettungskapsel erreicht.

»Augenblick!«, kam Geary Desjani zuvor, gerade als die zu einer Bemerkung ansetzen wollte. Zu vieles lief hier gleichzeitig ab, zudem überschlugen sich auch noch seine eigenen Gedanken. »Ich muss mich auf all diese Dinge konzentrieren und sie ordnen. Da haben wir das Minenfeld, von dem wir annehmen müssen, dass es existiert und dass es sich jenseits der Position des Frachters befindet. Der Frachter ist im Begriff zu explodieren, aber wir sind weit genug von ihm entfernt, um nicht davon betroffen zu sein.«

»Natürlich nicht«, stimmte Desjani ihm zu. »Die wollen schließlich nicht, dass wir eine Kursänderung vornehmen.«

»Warten Sie bitte noch, Tanya. Die Tänzer. Außerhalb unserer Formation, innerhalb der Gefahrenzone des Frachters und auf dem Weg zur Rettungskapsel. Wenn sie in der Nähe der Kapsel bleiben, werden sie sich außerhalb des Gefahrenbereichs befinden.« Er hielt inne und schaute auf sein Display, um festzustellen, ob er irgendetwas vergessen hatte. »Lieutenant, befinden sich irgendwelche Syndik-Einrichtungen in der Nähe, die die Rettungskapsel erreichen können, solange deren Lebenserhaltungssysteme noch arbeiten?«

»Ähm … ja, Sir«, erwiderte Castries. »Da sind mindestens zwei Syndik-Schiffe unterwegs, die die Rettungskapsel rechtzeitig erreichen können.«

»Dann müssen wir uns also keine Gedanken um die Kapsel machen, auch wenn sie einen Notruf abgesetzt haben.«

»Ziemlich dumm von ihnen, dass sie darauf nicht geachtet haben«, merkte Desjani an.

»Es musste eben so realistisch wie möglich wirken«, erwiderte Geary. »Es wäre aufgefallen, wenn sich im Umkreis von einer Lichtstunde kein anderes Schiff aufgehalten hätte. Gut, dann stellen der Frachter und seine Crew für uns kein Problem dar. Wir müssen einfach davon ausgehen, dass die Tänzer die Warnsignale des Frachters empfangen und dass sie auch in der Lage sind, sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Und zudem können die Tänzer auch viel besser als wir alle Minen ausfindig machen, die die Syndiks rings um den Sprungpunkt platziert haben.«

»Richtig«, stimmte Desjani ihm zu. »Damit bleiben nur noch unsere Schiffe, auf die wir aufpassen müssen.«

»Aber … Captain … die Frachtercrew sprach von Schwerverletzten«, warf eine sehr verwunderte Lieutenant Castries ein.

»Lieutenant«, erwiderte sie. »Die Chancen stehen gut, dass sich an Bord keine Schwerverletzten befinden. Es würde mich nicht mal wundern, wenn sich niemand an Bord befinden sollte. Was wir sehen und hören, wurde vermutlich lange im Voraus so programmiert, und dann hat man einen unbemannten Frachter auf die Reise geschickt.«

»Sehr wahrscheinlich«, stimmte Geary ihr zu. Dieses Ablenkungsmanöver hätte beinahe Erfolg gehabt, was aber nur daran lag, dass die Tänzer eine unerwartete Variable ins Spiel gebracht hatten, die die Situation unnötig kompliziert gemacht hatte. Er berührte die Komm-Kontrollen. »An alle Einheiten der Ersten Flotte: Verringern Sie sofort die Geschwindigkeit auf 0,003 Licht.« Der Finger wanderte zur nächsten Taste: »Gesandter Charban …«

Der sonst so beherrschte Charban sah aus, als wollte er vor Wut explodieren. »Sie wiederholen ständig alles!«, schnaubte er. »Wir melden: ›Gefahr voraus‹, und sie antworten mit ›Gefahr voraus‹, egal wie oft wir das machen.«

»Ich würde sagen, die Tänzer versuchen uns zu warnen«, erwiderte Geary. »Sie wiederholen nichts, sie stimmen Ihnen zu.«

»Sie … was?« Charban rang sichtlich um seine Fassung. »Das heißt, dann kann ich aufhören, es ständig zu wiederholen.«

»Ja. Aber Sie müssen ihnen etwas anderes mitteilen. Lassen Sie die Tänzer bitte wissen, dass wir unser Tempo drastisch reduziert haben, weil sich vor uns eine Bedrohung für die Flotte befindet. Sagen Sie ihnen, sie dürfen auf keinen Fall unserer Formation zum Sprungpunkt vorauseilen.«

»Drastisch reduzierte Geschwindigkeit?«, wiederholte Charban. »Und welche Geschwindigkeit ist das? Ach, vergessen Sie’s. Selbst wenn Sie es mir sagen, kann ich es ihnen doch nicht vermitteln. Ich werde die Tänzer einfach bitten, dass sie sich an unsere momentane Geschwindigkeit anpassen sollen. Das ist das Einfachste.«

Die Steuerdüsen der Dauntless wurden gezündet, der Bug drehte sich zur Seite, dann wurde der Hauptantrieb abgeschaltet, sodass das Schiff schnell an Geschwindigkeit verlor. Die Struktur der Dauntless ächzte deutlich hörbar angesichts der Belastung, doch Desjani hatte ihren Blick auf die Anzeigen gerichtet, die Auskunft über die Hüllenbelastung gaben, und ließ sich nicht die mindeste Beunruhigung anmerken.

»Neunhundert Kilometer in der Sekunde?«, fragte sie. »Ich könnte ja schneller durchs All schwimmen. Warum werden wir so extrem langsam? Ich dachte, Sie wollten das Minenfeld umfliegen.«

»Zu schwierig«, erklärte er. »Wir müssen davon ausgehen, dass sich das Minenfeld genau vor dem Sprungpunkt befindet. So nahe an einem Sprungpunkt kann man ein Minenfeld nicht allzu lange aufrechterhalten, aber nach den vorangegangenen Angriffen zu urteilen, müssen sie gewusst haben, dass wir bald hier in Sobek eintreffen würden. Wir werden jetzt so langsam, dass wir uns im Schneckentempo vorwärtsbewegen. Auf diese Weise können unsere Sensoren jede Mine aufspüren, und unsere Waffe zerstören eine nach der anderen. Unsere Kriegsschiffe werden einfach ein Loch in das Minenfeld schießen, das groß genug ist, um hindurchzufliegen und uns zum Sprungpunkt gelangen zu lassen.«

»Während die Syndiks uns dabei zusehen?«, meinte Desjani grinsend. »Das wird ihnen aber gar nicht gefallen, wenn wir ihnen die Zunge rausstrecken und dann von hier verschwinden.«

»Und bei Simur werden wir den Sprungpunkt mit entsprechend niedriger Geschwindigkeit verlassen«, fügte Geary an. »Das ist wichtig. Die Syndiks richten ihre Fallen nach der Vorgehensweise aus, die sie bislang bei uns beobachten konnten. Wenn bei Simur eine Falle auf uns wartet, dann wird sie wohl darauf ausgerichtet sein, dass wir in aller Eile von hier verschwinden müssen und entsprechend schnell in das System eindringen. Sie dürften sich dann auch auf die Gegenmaßnahmen eingestellt haben, die wir unter solchen Umständen ergreifen würden. Aber niemand rechnet damit, dass wir ins System geschlichen kommen, weil wir das noch nie getan haben.«

»Bis jetzt jedenfalls nicht«, stimmte Desjani ihm zu.

»Überladung des Hauptantriebs steht unmittelbar bevor«, meldete Lieutenant Castries.

Die Tänzer befanden sich ebenso wie die Rettungskapsel immer noch innerhalb des Explosionsradius, doch noch während Geary sein Display betrachtete, machten die sechs Tänzer-Schiffe auf einmal einen Satz nach vorn und schossen an der Rettungskapsel vorbei.

Gleich darauf verging der nicht mal mehr eine Lichtminute von der Flotte entfernte Frachter in einer gleißenden Explosion, Trümmer von der Größe von Staubkörnern bis hin zu großen Wrackteilen wurden in alle Richtungen geschleudert und behinderten die Sensoren der Flotte in ihrer Funktionstüchtigkeit. Als sich der Feuerball der Explosion rasch ausdehnte, erreichte die Rettungskapsel soeben den Rand des Gefahrenbereichs. Sie entging zwar der Zerstörung, aber sie wurde stark genug beschädigt, um diese Schäden an der Hülle ausmachen zu können.

»Das haben sie wirklich gut gemacht«, musste Desjani zähneknirschend zugeben. »Sie haben es so perfekt abgestimmt, dass die Kapsel überlebt und eine Rettungsaktion umso dringender wird.«

»Und es sieht ganz danach aus, als hätten die Tänzer die ganze Zeit über gewusst, was sie tun. Wir haben uns das Gehirn zermartert, wie wir sie beschützen können, dabei wollten sie uns nur vor einer Bedrohung warnen, die sie lange vor uns entdeckt hatten.«

Desjani verzog den Mund. »Wenn es um die Tänzer geht, würde ich mich eigentlich gern wie der Seniorpartner fühlen, aber offenbar halten sie sich selbst dafür. Älter und klüger als wir dumme Menschen.«

»Ich werde Charban darauf ansprechen«, sagte Geary, dem bei ihren Worten klar geworden war, dass ihn dieser Punkt ebenfalls störte. Es ist eine Sache, Mächte zu akzeptieren, die über den menschlichen Verstand hinausgehen und die mehr wissen als wir. Aber es ist etwas völlig anderes, ein anderes Lebewesen als uns in jener Hinsicht überlegen zu akzeptieren. Hat Charban bei den Tänzern irgendwelche Hinweise darauf entdeckt, dass sie sich uns überlegen fühlen? Oder sind wir gar nicht in der Lage, eine solche Einstellung bei einer Lebensform zu erkennen, die sich so grundlegend von uns unterscheidet?

Jetzt war allerdings nicht der Zeitpunkt für eine solche Diskussion. Seine Aufmerksamkeit musste auf die Ereignisse rings um die Dauntless konzentriert bleiben. Außerdem hatte sich Charban eine Verschnaufpause verdient, nachdem die jüngste Kommunikation mit den Aliens beinahe in einem Fiasko geendet hätte.

An Bord der Dauntless fühlte sich nichts anders an, wenn sie mit 0,003 Licht unterwegs war. Das Weltall bot keinen Anhaltspunkt dafür, ob man sich sehr schnell oder sehr langsam von der Stelle bewegte, ganz anders als in einer Planetenatmosphäre, in der man Luftverwirbelungen spürte und Lärm hörte, und in der sich die relative Position anderer in Bewegung befindlicher Objekte veränderte, wenn man die eigene Geschwindigkeit veränderte. So aber kam ihm die Dauntless nicht anders vor, als würden sie mit 0,05 Licht oder 0,1 Licht oder sogar 0,2 Licht fliegen. Das unendliche All rings um die Hülle des Schlachtkreuzers sah immer gleich aus. Nur auf Gearys Display war der Balken, der den Geschwindigkeitsvektor anzeigte, auf einen winzigen Punkt zusammengeschrumpft. Die abrupte Verlangsamung der Flotte hatte zudem alle Berechnungen bei der Ausarbeitung dieser Falle über den Haufen geworfen. Die Bruchstücke des explodierten Frachters trieben weiter in alle Richtungen davon, und wenn die Allianz-Flotte mit der momentanen Geschwindigkeit die Unglücksstelle erreichte, würden sich dort kaum noch Überreste befinden, die die Sensoren stören konnten.

»Gut gemacht«, lobte Desjani ihn.

»Danke, Captain.«

»Aber werden Sie nicht unachtsam. In dieser Falle könnte sich noch eine Falle befinden.« Sie betätigte ihre Komm-Kontrolle. »Master Chief Gioninni, ich möchte Ihnen gratulieren.«

»Wie bitte, Captain?«

»Sie haben die Syndiks durchschaut, Master Chief. Jetzt müssen Sie mir nur noch verraten, welche zusätzliche Falle Sie für den Fall eingerichtet haben, dass es mit den Minen nicht geklappt hat.«

Gioninni sah sie zweifelnd an. »Reden Sie von einer zweiten Falle, falls die erste nicht zuschnappt?«

»Etwas in dieser Art, ganz genau.«

»Captain, ich habe keine Ahnung. Denen bleibt weder Zeit noch Platz, um in diesem Sternensystem noch etwas zu unternehmen. Ich würde im nächsten Sternensystem die Augen offen halten. Allerdings brauchen Sie jemand mit einem … ähm … einem strategischer arbeitenden Verstand, damit Sie vor dem Sprung noch erfahren, was sie da für uns vorbereitet haben könnten.«

Desjani lächelte, auch wenn es nicht zu erkennen war, ob das etwas mit Gioninnis Aussage oder damit zu tun hatte, dass die Schiffe der Flotte die ersten Minen entdeckt und begonnen hatten, sie mit Höllenspeeren zu vernichten. »Niemand ist bei solchen Strategien besser als Sie, Master Chief. Sie haben soeben die Syndiks ausgetrickst.«

»Das ist doch keine Kunst, Captain. Syndiks sind so dumm wie Stroh. Deshalb sind sie ja auch Syndiks.«

»Gutes Argument, Master Chief. Handeln Sie sich keinen Ärger ein«, beendete Desjani die Unterhaltung und lehnte sich in ihrem Sessel nach hinten, um zuzusehen, wie das Minenfeld immer schneller geräumt wurde, während die Flotte sich im Schneckentempo durchs All bewegte. »Ich hätte nichts dagegen, dieses System niemals wiederzusehen.«

»Wir werden auch keinen Grund haben, je wieder herzukommen«, sagte Geary.

»Wir hatten ursprünglich auch keinen Grund gehabt, überhaupt herzukommen«, betonte sie. »Hey, da fällt mir was ein.«

»Und das wäre?« Hektisch überlegte Geary, ob er irgendetwas übersehen hatte, irgendeine …

»Die Wetten«, erklärte sie. »Sie haben die Geschwindigkeit der Flotte so reduziert, dass die Wetten auf die Ankunftszeit völlig durcheinandergeraten sind.«

»Tanya …«, begann er verärgert, doch dann spürte er, wie sich seine Stimmung etwas besserte, als die Erste Flotte endlich das Sternensystem Sobek verließ.

Vier Tage bis Simur.

Vier Tage, um an jeder einzelnen Entscheidung zu zweifeln, die er seit dem Abflug von Varandal getroffen hatte.

Vier Tage, um über die Verluste nachzudenken, die die Flotte erlitten hatte, als sie das Gebiet der Enigmas durchquerte, als sie ins Territorium der Kiks vordrang und sich im Honor-Sternensystem eine Schlacht mit ihnen lieferte, ehe sie durch das Hoheitsgebiet der Tänzer in den von Menschen besiedelten Raum zurückkehrte, nur um bei Midway in einen erneuten Kampf mit den Enigmas verwickelt zu werden. Und nun auch noch die Verluste bei Sobek.

Er hatte gedacht, der Krieg sei vorüber. Er hatte gedacht, niemand, der seinem Kommando unterstellt war, müsse noch sterben, und er würde auch keine Schiffe mehr verlieren. Aber die Enigmas, die Kiks und sogar die Syndiks hatten ihm nachhaltig das Gegenteil bewiesen.

Die Enigmas waren schon einmal besiegt worden, und sie hatten ein klein wenig mehr über sie in Erfahrung bringen können. Es hatte jedoch keine erkennbaren Fortschritte hin zu einem gegenseitigen Verständnis und einer friedlichen Koexistenz gegeben. Wie viele seiner Entscheidungen hinsichtlich der Enigmas waren verkehrt gewesen und hatten nicht zu Lösungen, sondern nur zu neuen Problemen geführt?

Hatte er bei Midway die richtigen Entscheidungen getroffen oder hatte er zwei Diktatoren den Rücken gestärkt, die nicht besser waren als zu ihrer Zeit als Syndik-CEOs?

Die beiden noch lebenden Kik-Gefangenen schwebten ständig am Rande des Todes, während Dr. Nasr sie kontinuierlich ruhigstellte, damit sie nicht erwachen und sich allein mit Willenskraft selbst töten konnten. Die Berechnung für die Dosierung von Medikamenten für Menschen erwies sich manchmal als falsch und für die Patienten als tödlich. Um wie viel schwieriger war es da, Lebewesen versorgen zu müssen, über deren Körperfunktionen die Flottenmediziner rein gar nichts wussten.

Und dann waren sie auch noch gezwungen gewesen, anzuerkennen, dass es gar kein Wunder war, wenn man an Bord der Invincible glaubte, von wütenden Geistern verfolgt zu werden. Es gab zwar eine mögliche rationale Erklärung für das Phänomen, trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, was solche Wahrnehmungen erzeugen sollte. Insgeheim hatte er sich mittlerweile schon einige Male gefragt, ob die Geister an Bord der Invincible nicht vielleicht doch genau das waren, wofür sie gehalten wurden.

Falls Charban mit seiner Überlegung recht hatte, war es möglich, dass sogar die Tänzer mit der Menschheit spielten.

Die Aussicht auf eine baldige Heimkehr bot auch nicht viel Grund zur Freude. Wenn er mit seinen Vermutungen richtiglag, arbeiteten in der Regierung und beim Allianz-Militär verschiedene Gruppierungen gegeneinander und auch gegen Geary und die Flotte.

In dieser Zukunft, die hundert Jahre von seiner eigenen Zeit entfernt war, kannte er keinen Menschen mehr. Alle, die die Allianz noch zu Friedenszeiten gekannt hatten, waren seit Langem tot. An ihre Stelle waren Menschen getreten, die von Geburt an mit einem Krieg konfrontiert gewesen waren, der schrecklichere Ausmaße angenommen hatte, als Geary es je für möglich gehalten hätte.

Er saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch, als überraschend Tanya sein Quartier betrat. »Was führt Sie denn her?«, fragte er. »Sie kommen doch sonst nie vorbei.«

»Ich komme nicht oft her, weil die Crew nicht auf den Gedanken kommen soll, ich würde mich mal zwischendurch mit meinem Admiral und Ehemann vergnügen«, erwiderte sie und musterte ihn. »Aber mein Admiral und Ehemann verkriecht sich jetzt schon so lange in seinem Quartier, dass meine Crew sich Gedanken zu machen und zu spekulieren beginnt. Jetzt bin ich hier und muss feststellen, dass Sie schrecklich aussehen. Was ist los mit Ihnen?«

Sein Widerwille zu reden zerbrach wie ein Damm, der unter zu hohem Druck stand. Zu seinem eigenen Erstaunen kamen die Worte förmlich aus ihm herausgesprudelt: »Ich bin nicht gut genug für das hier, Tanya. Ich habe es mir mit den Enigmas und den Kiks verdorben. Ich hätte diese Mission nie annehmen sollen, und ich hätte nicht das Kommando über diese Flotte übernehmen sollen.«

»Ach so. Weiter nichts?«

Sekundenlang starrte er sie ungläubig an, ehe er wieder einen Ton sagen konnte. »Wie können Sie es …«

»Admiral, ohne Sie wäre ich jetzt tot. Ohne Sie hätte ich bis zu meinem letzten Atemzug die Dauntless verteidigt, als die Syndiks bei Prime die Allianz-Flotte in eine Falle gelockt hatten. Daran können Sie sich doch sicher noch erinnern, oder? Was wäre geschehen, wenn wir Sie nicht gehabt hätten?«

»Verdammt, Tanya, darum geht es ni–«

»Sie müssen sich auf die positiven Dinge konzentrieren, Admiral. Ja, Sie werden Fehler machen. Und unter Ihrem Kommando werden Menschen sterben. Wissen Sie was? Sie könnten vollkommen sein, Sie könnten der großartigste, genialste und begabteste Befehlshaber der gesamten Menschheitsgeschichte sein, und trotzdem würden immer noch Menschen unter Ihrem Kommando sterben.« Sie sprach betont langsam und mit einem harten, fast schroffen Tonfall. »Glauben Sie, Sie sind der Einzige, der jemals jemanden verloren hat? Der sich gewünscht hat, er hätte irgendwas anders gemacht? Der das Gefühl hat, dass er jeden enttäuscht hat, der sich auf ihn verlassen hat? Wenn Sie sich an der Vollkommenheit orientieren, werden Sie immer verlieren. Aber streben Sie ruhig nach Vollkommenheit. Das mag ich an einem Vorgesetzten, weil mir das lieber ist als ein Vorgesetzter, der von seinen Untergebenen Vollkommenheit erwartet. Aber halten Sie sich nicht für einen Versager, nur weil Sie diese Vollkommenheit nicht erlangen. Sie können sie schließlich gar nicht erlangen. Denken Sie darüber nach, was alles hätte sein können. Sehen Sie sich an, wie viele Tote es zu beklagen gibt. Überlegen Sie, was Sie nicht hätten tun können. Wir brauchen Black Jack, weil er der schlechteste befehlshabende Offizier ist, den wir je hatten – ausgenommen lediglich jeder andere vorgesetzte Offizier, unter dem ich gedient habe.«

»Ist das alles?«, fragte er.

»Nein.« Sie beugte sich vor und sah ihm tief in die Augen. »Sie haben immer noch mich.«

Er spürte, wie sich die Dunkelheit zu lichten begann, die auf ihm gelastet hatte. Sie war ein Kind des Krieges, doch mit ihr verstand er sich besser als mit jedem anderen Menschen, den er hundert Jahre zuvor gekannt hatte. Er war nicht allein. »Es könnte also viel schlimmer sein.«

»Ganz genau.« Sie zog fragend eine Braue hoch. »Sonst noch was?«

»Sonst gibt es nichts.«

»Belügen Sie mich als mein Admiral oder in Ihrer Rolle als mein Ehemann?«

Geary schüttelte den Kopf. »Ich hätte wissen müssen, dass Ihnen nichts entgeht. Ich hatte mich schon gewundert.«

Nachdem sie eine Weile darauf gewartet hatte, dass er weiterredete, lächelte sie ihn unübersehbar unsicher an. »Danke, dass Sie mir das sagen.«

»Warum halsen Sie sich jemanden wie mich auf? Sie könnten es viel besser erwischen.«

Sie begann zu lachen, was er von ihr als Allerletztes erwartet hätte. »Sie haben mich durchschaut. Ich halte Sie nur bei mir, bis sich was Besseres ergibt.«

»Tanya, verdammt …«

»Wie können Sie mich so was fragen? Wie können Sie überhaupt so was sagen?« Sie atmete schnaubend aus, dann erlangte sie ihre Fassung zurück. »Wann haben Sie das letzte Mal der Krankenstation einen Besuch abgestattet?«

»Da war ich … das weiß ich nicht auswendig.«

»Sie sollten jedem anderen Offizier, Matrosen und Marine dieser Flotte als gutes Beispiel vorangehen, Admiral. Dazu gehört auch, dass Sie Ihren Kopf untersuchen lassen, wenn der Stress zu groß wird, um ihn zu bewältigen. Wenn die Männer und Frauen in dieser Flotte sehen, dass Sie nicht auf Ihre Gesundheit achten, dann werden sie glauben, sie müssen das auch nicht. Die Leute müssen sehen, dass Sie sich helfen lassen, damit sie sich auch helfen lassen, wenn sie Hilfe benötigen.«

Wieder nickte er. »Ja, Ma’am.«

»Und fangen Sie mir nicht damit an! Sie wissen, ich habe recht. Warum muss ich zu Ihnen kommen, um zu erfahren, dass etwas nicht stimmt? Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? Und wann haben Sie sich das letzte Mal ausführlich mit Ihren Vorfahren unterhalten? Mit unseren Vorfahren, schließlich sind wir jetzt verheiratet.«

»Vor ungefähr einer Woche. Um über die Orion zu reden.«

Sie biss sich auf die Lippe und brauchte einen Moment, ehe sie sagte: »Gut. Ich versuche schon die ganze Zeit, eine Nachricht an Shens Tochter zu formulieren.«

»Und ich war zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt, um dabei zu helfen.« Geary streckte ihr die Hand entgegen, berührte sie aber nicht. »Danke, Tanya, dass Sie mich an meine Verantwortung erinnert haben. Ich muss mich von meiner Verantwortung motivieren lasse, ich darf mich nicht von ihr überwältigen lassen. Ich werde die Krankenstation aufsuchen.«

»Wann?«

»Äh … etwas später.«

»In fünfzehn Minuten, Admiral. Mehr Zeit gebe ich Ihnen nicht. Dann treffen wir uns in meinem Quartier, und wir gehen gemeinsam zur Krankenstation. Und wenn wir da fertig sind, geht es weiter zu den Gebetskammern, wo wir dann mit unseren Vorfahren reden werden.«

»Ja, Ma’–« Als sie die Augen zusammenkniff und ihn drohend ansah, unterbrach Geary sich. »Ich wollte sagen, in Ordnung, Tanya.«

»Fünfzehn Minuten«, wiederholte sie ernst und verließ sein Quartier.

Er stand auf, um sich frischzumachen, dabei hielt er kurz inne und dankte den Lebenden Sternen dafür, dass er Tanya in seinem Leben hatte. Sogar Black Jack braucht ab und zu einen Tritt in den Hintern, und ich kann von Glück reden, dass ich jemanden habe, der das macht, wenn es notwendig ist.

In einer fließenden Bewegung spreizte Charban die Hände, zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, was die Tänzer von uns denken, ausgenommen die Tatsache, dass sie in uns nicht ihre Verbündeten zu sehen scheinen. Das ist mir aufgefallen, als ich meine eigenen Kommunikationsversuche analysiert und festgestellt habe, dass ich mit den Tänzern rede, als hätte ich es mit Kindern zu tun. Vielleicht, weil sie sich uns nicht klar und deutlich mitteilen können oder weil sie so unberechenbar sind. Womöglich auch bloß, weil es mir lieber ist, so über sie zu denken. Betrachten sie uns im Gegenzug als Kinder? Denkbar wäre es, aber ob das stimmt, dazu kann ich nichts sagen.«

»Hat Dr. Shwartz von ähnlichen Eindrücken gesprochen?«, wollte Geary wissen. Sie befanden sich in seinem Quartier, nichts wies mehr auf Gearys vorübergehende Depressionen hin. Dr. Shwartz befand sich auf einem der Sturmtransporter, und während der Zeit im Sprungraum war mit ihr nur einfachste und sehr knapp formulierte Kommunikation möglich. Es gab in der Flotte noch weitere sogenannte Experten für nichtmenschliche Intelligenzen, doch im Lauf der Zeit hatte Geary erkannt, dass die Überlegungen von Dr. Shwartz wesentlich ergiebiger waren als das, was die anderen Akademiker zustande brachten.

»Nein, hat sie nicht.« Charban lehnte sich nach hinten und sah zur Decke. »Admiral, was sehen Sie da oben?«

»An der Decke?« Geary legte den Kopf in den Nacken. Über ihm verliefen Kabelschächte, Rohre, Leitungen, so wie es überall auf den Dauntless und auch auf jedem anderen Kriegsschiff der Fall war. »Ausrüstung. Sozusagen der Blutkreislauf eines lebenden Wesens. Durch die Leitungen wird alles verteilt, was das Schiff benötigt, um zu funktionieren, und über ähnliche Leitungen laufen auch die Signale, die man als das Nervensystem des Schiffs bezeichnen könnte. Das wird nicht verkleidet, damit man leichter Reparaturen erledigen kann.«

Charban nickte. »Sehen Sie da Muster? Oder Bilder?«

»Manchmal ja. Geht das nicht jedem so?«

»Jedem Menschen, ja. Aber was sehen die Tänzer? Wir haben das Innere ihrer Schiffe noch nicht gesehen. Sind die ›Organe‹ ihrer Schiffe auch so frei zugänglich? Oder ist innen alles genauso glatt und stromlinienförmig wie außen? Wie würden die Tänzer beschreiben, was wir gerade sehen? Wäre es für sie ein obszönes Durcheinander? Würden sie Bilder sehen, und wenn ja, welche? Oder Muster? Wir wissen es nicht. Dabei wären es schon diese Dinge, die uns weiterhelfen würden, die Tänzer zu verstehen. Wir teilen diese Dinge mit anderen Menschen, wir bilden eine Verbindung, ein gemeinsames Verständnis, selbst mit Menschen, die wir verabscheuen. So ist es uns möglich, die Motivationen anderer Menschen einzuschätzen, ihre Beweggründe für alles, was sie tun. Aber die Tänzer? Aus welchem Grund tun sie etwas?«

Geary sah ihn eine Weile an, dann erwiderte er: »Was ist mit den Mustern? Mit der Art, wie sie zu denken scheinen?«

»Da bin ich einer Meinung mit Dr. Shwartz. Die Tänzer denken sehr wahrscheinlich in Mustern. Sie sehen alles in Form von Komponenten, die ineinandergreifen und so irgendwelche Bilder zeigen, die sie auf ihre eigene Art verstehen können.« Charban spreizte abermals hilflos die Hände. »Aber welchen Platz nehmen wir in diesem Muster ein? Darüber können wir nur spekulieren. Ihr Verhalten mir gegenüber würde ich als … nun, höflich bezeichnen. Aber höflich sein kann man gegenüber einem gleichwertigen Partner, einem Vorgesetzten und genauso gegenüber jemandem, der gesellschaftlich weit unter einem steht. Noblesse oblige, wie man früher zu sagen pflegte. Aber es gibt noch eine andere Alternative. Das ist die Möglichkeit, dass die Tänzer selbst gar nicht so recht wissen, was sie von uns halten sollen, so wie wir uns ja auch nicht im Klaren darüber sind, was wir von ihnen halten dürfen. Bei uns erzeugt so etwas widersprüchliche Impulse. Wir begegnen den Tänzern mit Ehrfurcht, aber zugleich nehmen wir sie auch wie verantwortungslose Kinder wahr, die ständig beaufsichtigt werden müssen.«

»Wollen Sie damit sagen, die Tänzer überlegen sich im Einzelfall, wie sie reagieren sollen?«

»Es ist denkbar. Sie reagieren auf jedes einzelne Ereignis nicht so, als hätten sie ein in sich stimmiges und geschlossenes Bild von uns, sondern als würden sie das tun, was sie in der jeweiligen Situation für das Beste halten.« Charban schwieg einen Moment lang und dachte angestrengt nach. »Ich habe den Eindruck, dass … Admiral, wenn jemand irgendetwas Bestimmtes vorhat oder beabsichtigt, dann kann man ihm das anmerken. Es ist egal, wer das ist, man merkt es immer. Derjenige ist in Gedanken, er ist zielstrebig, wie immer Sie das auch bezeichnen wollen. Manchmal habe ich bei den Tänzern diesen Eindruck. Bevor wir Midway verließen, war das deutlicher zu spüren. Es war so, als wollten die Tänzer unbedingt aufbrechen und die Allianz erreichen, aber als wollten sie es nicht offen zugeben.«

Diesmal schüttelte Geary den Kopf. »Warum sollten sie darauf aus sein, die Allianz zu erreichen, es aber nicht offen aussprechen wollen?«

»Genau das weiß ich ja nicht. Wenn Sie die Antwort gefunden haben, würden Sie sie mir verraten?«

Geary reagierte mit einem flüchtigen Lächeln. »Was denkt die Gesandte Rione?«

»Die Gesandte Rione?«, wiederholte er. »Was sie denkt? Wenn Sie die Antwort gefunden haben, würden Sie sie mir verraten?«

Nicht jeder, der sich eigenartig verhielt, war auch zwangsläufig ein Alien. Nach dem Gespräch mit Charban wurde Geary noch eine Sache bewusst, die ihn gestört hatte, die aber unter dem Stress begraben worden war, der auf seinem Verstand gelastet hatte.

In diesem Fall ließen sich die Antworten vielleicht in der jüngsten Vergangenheit finden. Er rief verschiedene Aufzeichnungen und ließ sie über die Fenster vor ihm laufen, wobei er seinem Unterbewusstsein die Hinweise lieferte, die nötig waren, um herauszufinden, was eigentlich los war. Als die Türglocke betätigt wurde, ließ er gedankenverloren die Luke öffnen, aber erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass Desjani zurückgekehrt war und ihn finster ansah.

»Was ist?«, fragte er, als er von seinem Display aufsah.

»Ich dachte, Sie wollten sich nicht so schnell wieder in Ihre nutzlosen Überlegungen zur Vergangenheit vertiefen.«

»Was ist?«, wiederholte er, dann erst begriff er. »Tut mir leid, Tanya. War ich wieder zu lange nicht erreichbar?«

»Auffallend lange«, erwiderte sie und musterte ihn argwöhnisch. »Wenn Sie nicht wieder über vermeintliche Fehlentscheidungen nachgrübeln, was tun Sie dann? Das da ist eine Aufnahme des Angriff auf die Invincible bei Sobek.«

Geary rieb sich mit einer Hand über den Mund und sah sich aufmerksam die Bilder an, die zeigten, wie die getarnten Shuttles zerstört wurden und wie die Marines an Bord der Invincible zum Gegenangriff übergingen. »Etwas hat sich da verändert, und ich versuche dahinterzukommen, was es ist.«

Sie kam näher und sah ebenfalls auf das Display. »Der Angriff auf die Invincible war eine klassische Spezialoperation. Getarnte Annäherung, Tarnanzüge, unbemerktes Eindringen in ein Schiff; das kennen wir alles. Das haben wir bei den Syndiks ganz genauso gemacht. Allerdings macht es besondere Umstände notwendig, damit es funktioniert.«

»Aber die Selbstmordangriffe waren ungewöhnlich.«

»Richtig«, stimmte sie ihm zu. »Das Minenfeld war wiederum nichts Außergewöhnliches, ganz im Gegensatz zu der Methode, mit der man uns in die Falle locken wollte. Sie suchen nach einer Gemeinsamkeit?«

Er nickte und sah sich an, wie die Marines einmal mehr die Syndiks an Bord der Invincible eliminierten. »Das sind keine großangelegten Attacken, das ist eine Reihe von kleinen Angriffen. Sie ziehen nicht so viele ihrer Streitkräfte zusammen wie möglich, sie versuchen nicht, uns in einer offenen Schlacht zu besiegen.« Geary sah Desjani an. »Verwendet man noch diesen Ausdruck, dass man von Enten zu Tode geknabbert wird?«

»Von Enten zu …? Oh. Wir reden jetzt von Kühen«, sagte sie. »Dass man von Kühen zu Tode geleckt wird.«

»Das ist ja eklig.«

»Was ist daran ekliger, als wenn man von Enten zu Tode geknabbert wird?«

»Keine Ahnung.« Geary schaute finster auf sein Display. »Die Syndiks können nicht darauf hoffen, uns aufzuhalten oder zu besiegen. Stattdessen versuchen sie uns nach und nach aufzureiben, indem sie bei jeder Begegnung ein oder zwei Schiffe zerstören. Die Attacken aus heiterem Himmel scheinen dem Zweck zu dienen, uns in Verwirrung zu stürzen.«

Desjani nickte nachdenklich. »Kleine Hiebe an Stellen, an denen wir sie nicht erwarten. So wie beim Kampfsport. Anstatt mit voller Kraft auf den Gegner loszugehen, versucht man den Gegner abzulenken und zu irritieren, damit er Fehler begeht.« Sie hielt inne und sah ihn eindringlich an. »Die können Sie nicht schlagen.«

»Ich muss keine …«

»Das ist kein gutes Zureden, Admiral«, unterbrach sie und zeigte auf das Display. »Tatsache ist, die Syndiks verfügen derzeit nicht über genügend Kriegsschiffe, um uns in eine Schlacht zu verwickeln. Tatsache ist, selbst wenn sie so viele Schiffe zusammenholen könnten, wissen sie, dass Sie ihnen wieder die Hölle heißmachen würden. Die wissen, dass sie keinen Flottenbefehlshaber besitzen, der es mit Ihnen aufnehmen könnte. Tatsache ist, dass selbst Syndiks irgendwann begreifen, was sie falsch machen, wenn sie nur oft genug überrannt werden. Die haben sich einen neuen Plan ausgeheckt, Admiral. Sie werden eine direkte Konfrontation so lange vermeiden, bis diese Flotte so geschwächt ist, dass selbst Black Jack keine Chance mehr auf einen Sieg hat. Tut mir leid, eine von den alten Redewendungen. Also kämpfen sie jetzt auf eine Art, bei der Sie noch nicht bewiesen haben, wie gut Sie darin sind. Eine ständige Abfolge von unkonventionellen Überraschungsangriffen, die die Syndiks nicht zu viel Ressourcen kosten, aber alle darauf ausgerichtet sind, unsere Flotte zu dezimieren und uns geistig und moralisch zu zermürben.«

Ihm gefiel die Aussicht ganz und gar nicht, dass sie in Zukunft mit noch mehr von der Art dessen rechnen mussten, was sich bei Sobek abgespielt hatte. »Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Ich habe davon gehört, vor langer Zeit.« Desjani biss sich auf die Lippe und kniff kurz die Augen zusammen, während sie sich wegdrehte. »Von meinem Bruder. Als er noch ein Kind war, interessierte er sich sehr für die Bodenstreitkräfte. Er hielt uns ganze Vorträge darüber, welche Taktiken und Techniken es gibt. Guerilla-Krieg. Er träumte davon, dass die Syndiks einen Planeten besetzten, auf dem er sich gerade befand, und dann würde er den Widerstand organisieren und anführen, der schließlich die Syndik-Besatzer schlagen würde. Er hatte sich das alles bis ins Detail überlegt.«

Geary hatte sich mit Desjanis Familiengeschichte befasst, zumindest mit der offiziellen Seite. Er wusste, dass Tanyas jüngerer Bruder bei seinem ersten Kampf gegen die Syndiks gefallen war; als einer von tausend Soldaten der Allianz-Bodentruppen, die eine fehlgeschlagene Offensive gegen einen Syndik-Planeten unternommen hatten. Ihr Bruder hatte nicht lange genug gelebt, um zu dem Helden zu werden, der er als Kind hatte sein wollen. Ihm war es nicht vergönnt gewesen, all die detaillierten Pläne in die Tat umzusetzen, die er in seiner Kindheit seinen Eltern und seiner Schwester voller Stolz präsentiert hatte. Was konnte Geary in diesem Moment sagen?

Aber Tanya hatte sich schon wieder gefangen, so wie zahllose Male zuvor zweifellos auch. Sie sah ihn an, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Ihr Blick sprach eine deutliche Sprache, die er inzwischen nur allzu gut kannte: Fangen Sie gar nicht erst an. Es gibt nichts, was Sie jetzt dazu sagen könnten, also lassen Sie es einfach bleiben und vergessen Sie das Thema.

»Ich glaube«, sagte Geary schließlich bedächtig, damit ihm keine falsche Bemerkung rausrutschte, »damit könnten Sie recht haben. Ich habe bislang keinen Beweis dafür geliefert, dass ich diesen häufigen und unkonventionellen Angriffen etwas entgegensetzen kann. Vielleicht bin ich darin auch nicht allzu gut. Auf jeden Fall habe ich keinerlei Erfahrung, wie ich damit umgehen soll. Und das, wo unsere Flotte schon genug mit der Überalterung der Schiffe zu tun hat.«

»Die Syndiks spielen nach wie vor auf Sieg. Sie glauben noch immer, sie könnten mit uns fertigwerden. Zum Teil ist das vermutlich auch ein Versuch, uns zu einem Wiederaufleben des Kriegs zu verleiten, damit sie den Rest der Syndikatwelten so noch etwas länger zusammenhalten können. Aber selbst wenn es erneut zum Krieg kommen sollte, brauchen wir nicht damit zu rechnen, dass die Syndiks ihn zu unseren Bedingungen führen werden.«

»Wie lange könnte die Allianz einen Zermürbungskrieg wohl durchhalten?«, fragte sich Geary.

»Die Antwort darauf kennen Sie bereits, und in Jahren oder Monaten gerechnet ist das keine besonders große Zahl.«

Nachdem Tanya ihn nochmals mit viel Nachdruck darauf hingewiesen hatte, dass die Leute ihn unbedingt zu sehen bekommen mussten, war sie gegangen. Er saß noch eine Weile da und dachte nach, während er einfach vor sich hin starrte. Körperliche Wunden, die einen nicht auf der Stelle töteten, ließen sich heutzutage schnell heilen, sodass der Patient anschließend wieder so gut wie neu war. Doch geistige Verletzungen, die Erinnerungen und Ereignisse, die sich im Kopf abspielten, konnten nicht einfach geheilt werden, sondern man musste sie behandeln. Ein Entfernen der Erinnerungen richtete mehr Schaden an, als wenn man sie dem Betroffenen unversehrt überließ. Daher drehte sich die Behandlung auf diesem Gebiet im Grunde um ein Verwalten der Verletzung, nicht darum, sie zu beseitigen.

Während ihrer viel zu kurzen Flitterwochen hatte Tanya ihn einmal mit einem gellenden Schrei aus dem Schlaf geholt, nur um dann darauf zu beharren, dass sie nicht wusste, was den Albtraum ausgelöst hatte. Er selbst wachte von Zeit zu Zeit schweißgebadet auf, nachdem er im Schlaf irgendwelche Ereignisse durchlebt hatte, bei denen es oft um Versagen und den anschließenden Tod ging.

Offiziell war der Krieg zwar vorüber, aber was die Syndiks anging, schien er nur ein neues Erscheinungsbild angenommen zu haben. Was die Männer und Frauen anging, die in diesem Krieg gekämpft hatten, würden sie ihn niemals hinter sich zurücklassen können.

Seufzend stand Geary auf. Er musste mit den Offizieren und den Besatzungsmitgliedern der Dauntless reden, und er musste für eine Nachkontrolle in der Krankenstation vorbeischauen. Vielleicht war es ja wieder der Sprungraum, der an seinen Nerven zehrte. Menschen konnten sich an viele Dinge gewöhnen, aber er kannte keinen, der sich je an den Sprungraum gewöhnt hatte. Aber womöglich war er auch nur so nervös, weil sie bald den Sprungraum verlassen würden, ohne eine Ahnung zu haben, was sie dort erwartete.

Was hatten die Syndiks bei Simur für sie vorbereitet?

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