Drei

»Steuerdüsen auf allen Schiffen gezündet«, rief Lieutenant Yuon. »Vektoren ändern sich und werden auf das Hypernet-Portal ausgerichtet.«

»Na bitte«, sagte Desjani erfreut und prophezeite: »Mit der Zündung der Hauptantriebseinheiten wird er ebenfalls bis zur letzten Sekunde warten.«

»Und wenn er sich dabei verrechnet?«, warf Geary ein.

»Dann schießen wir ihm ein paar Löcher in den Rumpf seines Schlachtschiffs, damit er sich für die Zukunft merkt, seinen Maschinen und Leuten etwas mehr Spielraum zu gewähren.« Sie lächelte Geary an. »Stimmt’s?«

»Ja, stimmt. Übrigens, wer immer unseren ›gecharterten‹ Schweren Kreuzer lenkt, leistet verdammt gute Arbeit.«

Der einzelne Schwere Kreuzer beschleunigte weiter und baute seinen Vorsprung vor den Verfolgern kontinuierlich aus. Die Syndik-Kreuzer und -Jäger drehten sich leicht zu einer Seite, um den herannahenden Raketen die Zielerfassung so schwer wie möglich zu machen. Gearys Blick zuckte zu der Midway-Flotte, die sich von der Seite näherte, von der aus sie die Schweren Kreuzer der Syndik-Einheit attackieren konnte, die sich an die Verfolgung des einzelnen Kreuzers gemacht hatte. »Die täuschen nichts vor, die wollen diese Syndik-Kriegsschiffe wirklich unter Beschuss nehmen.«

Desjani sah ihn von der Seite an. »Die Midway-Schiffe sind den Syndiks bei den Schweren Kreuzern im Verhältnis drei zu sechs unterlegen. Dass sie ein paar Leichte Kreuzer an ihrer Seite haben, kann das auch nicht wettmachen. Wenn deren Kommodor schnurstracks in die andere Formation hineinfliegt, wird die Midway-Flotte ordentlich Prügel einstecken müssen.«

»Vermutlich ja«, stimmte Geary ihr zu. »Hoffen wir, dass sie nicht so dumm sind.«

Etwas anderes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, da die Tänzer-Schiffe ihren bisherigen Orbit verließen und Kurs auf die Allianz-Schiffe nahmen. »Ich würde zu gern wissen, was die Tänzer denken, während sie das hier beobachten.«

»Wenn sie uns wirklich schon so lange heimlich beobachtet haben, wie wir es vermuten, dann werden sie jetzt wahrscheinlich denken: Das sehen wir bei den Menschen auch nicht zum ersten Mal«, meinte Charban nachdenklich. »Es muss noch vieles geben, was sie über uns nicht wissen, aber ich bin mir sicher, dass die Tänzer jede unserer Aktionen sehr aufmerksam mitverfolgen und von dem hier nicht allzu überrascht sein werden.«

Zur Abwechslung klang Rione diesmal amüsiert, als sie ergänzte: »Es wäre interessant zu erfahren, wie sie interpretieren, was sie gerade sehen.«

Geary antwortete nicht, da sein Blick wieder gebannt auf die rückwärts laufende Zeitanzeige gerichtet war. Wenn die Syndik-Flotte nicht innerhalb weiterer zwanzig Sekunden die Hauptantriebseinheiten aktivierte, würde Gearys Flotte definitiv in Feuerreichweite kommen, bevor die Syndiks durch das Hypernet-Portal fliehen konnten.

»Er lässt nicht viel Spielraum für mögliche Fehler«, stellte Desjani fest. »Selbst wenn er … oh, jetzt. Endlich.« Sie klang ein wenig enttäuscht.

»Die Hauptantriebseinheiten sind auf allen Syndik-Kriegsschiffen aktiviert worden«, gab Lieutenant Castries bekannt. »Sie gehen auf maximale Beschleunigung.«

»Viel knapper geht es kaum noch«, murmelte Desjani. »Ich frage mich …«

»Was?«, wollte Geary sofort wissen.

»Vielleicht geht es hier gar nicht um Boyens’ Stolz. Möglicherweise will er uns nur ein letztes Mal ärgern, indem er ganz besonders knapp vor uns herfliegt und eben so durch das Hypernet-Portal entwischt, bevor wir ihn in Stücke schießen können.«

»Ein riskantes Spiel bleibt das dennoch. Wenn er so auf den Sekundenbruchteil exakt handelt, dann genügt eine kleine Fehlberechnung, und er kann sich vor Treffern kaum noch retten.«

Eine wellenartige Bewegung huschte über sein Display, da eine ganze Reihe von Daten aktualisiert wurde. »Was ist das?«

»Eine taktische Datenverbindung zur Midway-Flotte«, erklärte Desjani. »Ich habe meinen Systemleuten gesagt, dass sie die Daten nicht in Echtzeit durchlaufen lassen sollen, sondern sie erst gründlich säubern müssen. Aktualisierungen sollen sie dann von Zeit zu Zeit vornehmen.«

Mich wundert, dass du überhaupt Datenübertragungen von einer Flotte aus ehemaligen Syndik-Kriegsschiffen zulässt, überlegte er, auch wenn er erkennen konnte, dass diese taktischen Verbindungen einige nützliche Informationen über den Bereitschaftsstatus der Midway-Schiffe und über den einzelnen Schweren Kreuzer lieferten, der vor den Syndiks floh. Dieser Kreuzer wurde nun als die Manticore benannt. Die auf die Manticore abgefeuerten Raketen hatten ihre Vektoren verändert, um den Abfangkurs zu korrigieren, nachdem der Kreuzer beschleunigt und eine Kursänderung vorgenommen hatte.

Die Projektile rückten nach wie vor näher und näher, aber dank der geringen relativen Geschwindigkeit gaben sie für den massiv bewaffneten Kreuzer leichte Ziele ab. Geary sah zu, wie eine Salve aus Höllenspeeren die Spitzengruppe traf und vier Raketen ausschaltete. Damit blieben allerdings immer noch zwanzig übrig.

Auf einmal änderte sich der Vektor der Manticore, da die Hauptantriebseinheit abgeschaltet wurde und die Steuerdüsen dafür sorgten, dass sich das Schiff um seine eigene Achse drehte, bis der Bug auf die Raketen gerichtet war, während der Kreuzer selbst immer noch vor den Geschossen davonflog.

Ich kenne dieses Manöver. Als Nächstes folgt …, dachte Geary flüchtig, aber die Ereignisse überholten ihn bereits.

Der Hauptantrieb der Manticore wurde wieder aktiviert und ging sofort auf maximale Leistung, sodass der Schwere Kreuzer abrupt abgebremst wurde. Die herbeieilenden Raketen konnten ihre eigene Geschwindigkeit nicht annähernd so schnell bremsen, stattdessen ließen sie die Steuerdüsen mit maximaler Leistung arbeiten, um auf diese Weise doch noch schnell genug eine Kursänderung vorzunehmen. Das war die einzige Möglichkeit, wie sie ihren Auftrag noch erfüllen und den Schweren Kreuzer abfangen konnten, während ihre Näherungsgeschwindigkeit rasch anstieg. Die Manticore kam ihnen dabei deutlich schneller näher, als die Lenksysteme der Raketen es eingeplant hatten.

Deren Vektoren drehten so abrupt, während sie an der Manticore vorbeiglitten, dass viele der Geschosse die auf sie einwirkenden Kräfte nicht aushielten und, noch in der Drehung begriffen, zerstört wurden. Die überlebenden Raketen verbrannten ihren restlichen Treibstoff beim Versuch, wieder den Anschluss an die davonfliegende Manticore zu finden. Durch die Wendemanöver wurden die Raketen so stark abgebremst, dass sie nahezu zum Stillstand kamen, was sie zur idealen Zielscheibe machte.

Die sechs verbliebenen Raketen wurden in Stücke gerissen, als Höllenspeere ihre Hülle durchbohrten.

»Dieses Manöver sollte man allenfalls mit einem Leichten Kreuzer versuchen, aber nicht mit größeren Schiffen«, merkte Geary an.

»Diese Doktrin muss noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen«, gab Desjani zurück. »Ich habe das schon mit einem Schlachtkreuzer gemacht, und Bradamont ebenfalls. Sieht ganz so aus, als würde sie den ehemaligen Syndiks zeigen, wie man ein Raumschiff richtig fliegt.«

Während die Manticore allmählich langsamer wurde, richteten sich die Vektoren aller übrigen Streitmächte in der näheren Umgebung auf das Hypernet-Portal aus. Boyens beschleunigte mit seinem Schlachtschiff so schnell, wie es für diesen Schiffstyp möglich war, und wurde dabei von seinen vier Leichten Kreuzern begleitet. Gearys deutlich größere Formation flog dicht hinter Boyens her, doch der errechnete Abfangkurs führte hinter das Portal, sodass Boyens’ Schiffe bei gleichbleibender Geschwindigkeit ins Hypernet entwischen würden, bevor ihre Verfolger in Feuerreichweite kommen konnten.

Die sechs Schweren Kreuzer und die zehn Jäger, die von Boyens auf die Manticore angesetzt worden waren, hatten inzwischen gewendet und flohen nun von unten kommend, um mit dem Schlachtschiff zusammenzutreffen, kurz bevor die gesamte Flotte dann das Portal erreichen würde.

Die Midway-Flotte steuerte aus fast entgegengesetzter Richtung auf Gearys Formation zu, um die Schweren Kreuzer der Syndiks noch zu treffen, bevor die sich dem Rest von Boyens’ Flotte anschließen konnten.

Fünf verschiedene Gruppen von Schiffen, die zu drei unterschiedlichen Beteiligten gehörten, stellten nicht gerade eine einfache Situation dar, aber das alles nahm bei Weitem kein Ausmaß von Komplexität an, das Geary überfordert hätte. Solange die Syndiks ihre Vektoren beibehalten, muss ich mir momentan nur Gedanken darüber machen, ob Kommodor Marphissa einen sinnlosen Angriff auf eine Streitmacht durchziehen will, die doppelt so viel Kampfkraft besitzt wie ihre eigene. Sollte ich …

Geary zuckte verdutzt zusammen, als einer der Leichten Kreuzer der Syndiks plötzlich explodierte. »Was ist denn da passiert?«

Alle auf der Brücke Anwesenden waren so überrascht, dass es fast drei Sekunden dauerte, ehe überhaupt eine Reaktion kam.

»Auf diesen Leichten Kreuzer wurde nicht gefeuert«, stellte Lieutenant Yuon fest.

»Er ist einfach so explodiert?«, warf Desjani ungläubig ein.

»Er wurde jedenfalls nicht von irgendeiner Waffe getroffen, die wir hätten sehen können«, betonte Lieutenant Yuon. »Wir sind noch immer außer Feuerreichweite, die Midway-Flotte ebenfalls. Und von den Syndik-Schiffen hat auch niemand das Feuer eröffnet.«

»Könnte die Midway-Flotte das irgendwie anders bewerkstelligt haben? Durch eine umhertreibende Mine?«, wollte Desjani wissen.

Lieutenant Castries schüttelte den Kopf. »Unsere Sensoren zeigen an, dass es sich um eine Explosion im Inneren gehandelt hat, Captain. Das kann nicht durch eine Mine verursacht werden.«

»Captain«, meldete sich Lieutenant Yuon zu Wort. »Wir empfangen Hinweise, die auf eine Überladung des Antriebs schließen lassen. Allerdings sagen unsere Systeme auch aus, dass es keine Warnsignale gegeben hat, keinerlei Anzeichen für irgendwelche Probleme mit dem Antrieb. Er ist einfach explodiert.«

»Keinerlei Warnhinweise, dass es ein Problem gibt …«, überlegte Desjani und betätigte eine interne Komm-Kontrolle. »Chefingenieur, kann ein Antrieb explodieren, ohne dass er zuvor irgendwelche Anzeichen für eine Instabilität erkennen lässt?«

»Unmöglich, Captain«, antwortete der Chefingenieur. »Irgendetwas hätte auf jeden Fall auffallen müssen. In dem Fall veränderte sich der Zustand von einer Sekunde zur nächsten von ›Bestens‹ in ›Lebensgefährlich‹. Dafür kann es nur eine Erklärung geben.«

Desjani wartete einige Sekunden lang, dann hakte sie nach: »Und welche?«

»Oh. Entschuldigen Sie, Captain. Jemand hat den Antrieb absichtlich detonieren lassen, alles andere ergibt keinen Sinn.«

»Ein vorsätzlicher Akt?«, warf Geary ein. »Warum sollte jemand so etwas machen?«

»Wenn ich das wüsste, Admiral. Nicht mal Syndiks kommen normalerweise auf so dumme Ideen.«

»Admiral!« Das Gesicht des leitenden Geheimdienstoffiziers der Dauntless, Lieutenant Iger, war vor Geary in einem virtuellen Fenster aufgetaucht. »Wenn wir die Daten richtig interpretieren, dann hat dieser Leichte Kreuzer der Syndiks ungefähr drei Minuten vor der Explosion seine Verbindung zum Kommando- und Kontrollnetz der Syndiks getrennt.«

»Er hat was?« Geary sah zu Desjani und erkannte, sie war zum gleichen Schluss gekommen wie er. »Kommt das nicht einer Meuterei gleich?«

»Ja, Admiral«, pflichtete Iger ihm zögerlich bei. »Das könnte es bedeuten. Allerdings verfügen wir nicht über genügend Daten, um eine solche Schlussfolgerung zu bestätigen oder zu widerlegen.«

»Haben Sie eine andere Erklärung, wieso ein Schiff plötzlich explodiert? Haben wir vor der Explosion irgendwelche Signale aufgefangen, die vom Flaggschiff an diesen Leichten Kreuzer gesendet wurden?«

»Nein, Admiral, aber ein Impuls, der auf einer speziellen Frequenz gesendet wird, ist für uns nur sehr schwer feststellbar. Wir müssten sämtliche abgefangenen Signale vollständig durchsuchen, ob sich unter ihnen irgendwelche ungewöhnlichen Übermittlungen befinden.«

»Denken Sie, die haben ihr eigenes Schiff zerstört, um die Meuterer am Entkommen zu hindern?«, fragte Desjani an Geary gewandt.

»Wenn ich bedenke«, erwiderte er, »was ich über die Syndik-Führer und darüber weiß, wie viele von ihren eigenen Schiffen sich abgesetzt haben, nachdem sie an Bord alle Agenten der Inneren Sicherheit ausgeschaltet haben, dann würde ich sagen, dass die Syndik-Führer sich irgendeine zusätzliche Schutzmaßnahme ausgedacht haben.«

Iger hatte dem Austausch aufmerksam zugehört und nickte zustimmend. »Admiral, dieses gesamte Sternensystem ist übersät mit Satelliten, die Daten sammeln und weiterleiten. Wenn ein Signal gesendet wurde, das so wichtig ist, dann werden wir es auch finden.«

»Für die Syndiks ist es wichtig«, sagte Geary. »Wollen Sie sagen, es ist auch für uns wichtig?«

»Ja, Sir. Wenn wir dieses Signal finden und analysieren können, dann sollten wir in der Lage sein, es zu kopieren und es selbst zum Einsatz zu bringen, falls sich die Notwendigkeit dazu ergeben sollte.«

Desjani beugte sich grinsend rüber. »Sie meinen, wir können ihre Schiffe explodieren lassen, indem wir deren eigene Vorsichtsmaßnahme nutzen? Mir gefällt Ihre Denkweise, Lieutenant.«

»Es gibt keine Garantie dafür, dass uns das möglich sein wird, Captain. Selbst wenn wir das Signal herausfiltern können, sind möglicherweise für jedes Kriegsschiff spezifische Codes und Authentifizierungserfordernisse zu beachten. Aber falls die Syndiks ein paar Abkürzungen genommen haben, um ein solches System schnell auf ihren Schiffen zu installieren, dann könnten sie die eine oder andere Tür sperrangelweit offen gelassen haben.«

»Captain?«, warf Lieutenant Castries ein. »Die Midway-Flotte hat ihren Vektor geändert.«

Geary sah wieder auf sein Display und stellte fest, dass die Midway-Schiffe nun eine weitere Kurve flogen, die sie näher an den Stern heranbrachte und den Abstand zu den Schweren Kreuzern der Syndiks vergrößerte. Als er diese Flugbewegung betrachtete, kam ihm auf einmal die Erklärung dafür in den Sinn.

»Die wollten nicht angreifen.«

»Was?«, fragte Desjani verwundert.

»Die Midway-Flotte. Die wollten keinen von den Schweren Kreuzern attackieren. Sie wollten nur für den Fall nahe genug an die Formation herankommen, dass irgendein Kreuzer oder Jäger sich zur Meuterei entschließen sollte. Dann hätten sie sich von ihrer Position aus schützend vor das jeweilige Schiff schieben können.«

Rione lachte wie eine Lehrerin, deren Lieblingsschüler soeben auf die richtige Antwort gestoßen war. »Ja, Admiral, das war vermutlich ihre Absicht. Präsidentin Iceni hat mir gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie und Drakon den Syndik-Schiffen wiederholt Mitteilungen geschickt haben, um sie zur Meuterei zu bewegen.«

»Und nachdem sie gesehen haben, wie der Leichte Kreuzer explodiert ist«, meldete sich Charban zu Wort, »wussten sie, dass die Syndiks vorgesorgt haben, damit keine Crew sich mit ihrem Schiff absetzen kann.« Er schüttelte den Kopf. »Haben deren Anführer immer noch nicht begriffen, dass kurzfristige Maßnahmen das eigentliche Problem nicht aus der Welt schaffen können?«

»Immerhin haben sie ein Schiff am Überlaufen gehindert«, betonte Desjani.

»Und dafür einen Leichten Kreuzer geopfert«, sagte Charban. »Das Schiff haben sie so oder so verloren, und jetzt werden sich die Mannschaften auf anderen Schiffen damit beschäftigen, wie sich diese Schutzmaßnahme der Anführer überlisten lässt. Das wird ihnen auch gelingen, denn die Leute finden immer einen Weg, wie sie die genialen Pläne ihrer Vorgesetzten durchkreuzen können, und dann werden Meutereien erfolgreich verlaufen. Auf kurze Sicht ist es natürlich einfacher, etwas in die Luft zu sprengen, anstatt sich auf Fehlersuche zu begeben und diese Fehler zu korrigieren. Aber es ist keine Lösung. Es ist nur ein Versuch, etwas vor sich herzuschieben, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sich ein Problem lösen lässt.«

»In zehn Minuten sind wir in Feuerreichweite der Syndik-Flotte«, warnte Lieutenant Yuon.

Geary betrachtete die noch verbleibende Strecke und hoffte darauf, dass Boyens sich nicht in letzter Sekunde noch für eine theatralische und selbstmörderische Geste entschied. Die Gefechtssysteme der Allianz-Formation waren bereits damit beschäftigt, Ziele auszuwählen und sie bestimmten Waffengattungen zuzuteilen, um feuerbereit zu sein, wenn sie die Syndiks erreichten und der Befehl erteilt wurde. Geary beschloss, noch eine Nachricht zu senden. »CEO Boyens, sollten Sie oder eine andere Formation der Syndikatwelten noch einmal ohne Genehmigung in dieses System eindringen, dann sollten Sie auch darauf gefasst sein, die Konsequenzen Ihres Handelns zu tragen. Geary Ende.«

»Nicht dass ich etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn Sie den Syndiks drohen«, sagte Desjani. »Aber warum glauben Sie, dass sie davon noch Notiz nehmen werden?«

»Wegen einer anderen Sache, an der ich Captain Smythes Ingenieure habe arbeiten lassen. Das Licht von diesem Ereignis sollte jetzt jeden Moment zu sehen sein. Mir wäre es zwar früher lieber gewesen, aber das muss so auch genügen.«

Die Sirenen der Gefechtssysteme an Bord der Dauntless gellten los, auf den Displays wurde in der Ferne eine Bewegung angezeigt. An der Midway-Werft, die um einen weit entfernten Gasriesen kreiste, tauchte das neue Schlachtschiff Midway auf. Nach allen Sensoranzeigen zu urteilen, war die Midway voll einsatzfähig und gefechtsbereit.

»Ihr neues Schlachtschiff ist fertig?«, fragte Desjani und klang, als wüsste sie nicht, ob sie sich freuen oder Sorgen machen sollte.

»Nicht mal annähernd. Vieles ist nur Fassade, um das Schiff in vollem Umfang einsatzbereit erscheinen zu lassen. Boyens wird glauben, dass Midway nun über ein eigenes Schlachtschiff verfügt, das sich dem nächsten Syndik-Angriff in den Weg stellen wird.«

»Und er wird diese Neuigkeiten seinen Vorgesetzten überbringen«, warf Rione ein. »Sehr schön, Admiral.«

»Und wenn die Syndiks in nächster Zeit einen erneuten Angriff unternehmen?«, fragte Charban.

»Ich tue was ich kann«, sagte Geary und sah zu Desjani, »mit dem, was mir zur Verfügung steht.«

»Sie versuchen, mit der Realität klarzukommen?«, merkte Charban an. »Wie haben Sie es mit dieser Einstellung zu einem so hohen Posten gebracht?«

»Das frage ich mich auch jeden Tag aufs Neue.« Auf seinem Display war die Syndik-Flotte nun wieder geschlossen unterwegs, alle Schiffe hielten auf das Hypernet-Portal zu und waren weniger als eine Minute von dem Punkt entfernt, an dem Geary den Feuerbefehl geben konnte.

Desjani sah ihn fragend an, ihre Hand befand sich in der Nähe ihrer Waffenkontrollen. Jeder auf der Brücke schaute erwartungsvoll zu ihm, da sie alle seine nächsten Worte hören wollten.

In diesem Moment verschwand die Syndik-Flotte im Hypernet-Portal.

Erleichtert atmete er auf. »An alle Einheiten der Formation Alpha: Verringern Sie Ihre Geschwindigkeit auf 0,02 Licht, und drehen Sie bei Zeit drei null um eins neun null Grad nach Backbord. Alle Einheiten kehren zu normalem Bereitschaftsstatus zurück.«

Desjani wirkte gedankenverloren, als sie die Befehle weiterleitete. »Sind Sie unzufrieden, dass es geklappt hat?«, fragte er sie lächelnd.

Sie blieb ernst. »Wir hätten ihn eliminieren sollen. Jetzt werden wir es irgendwann wieder mit ihm und diesem Schlachtschiff zu tun bekommen.«

»Das könnte passieren«, räumte er ein. »Aber ich wollte nicht hier und jetzt den Krieg wiederaufleben lassen.«

»Das kann man so auslegen, dass Sie davon ausgehen, den Krieg an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wiederaufleben zu lassen.«

Er wollte das sofort leugnen, aber er war von großer Ungewissheit erfasst, die dafür sorgte, dass ihm seine Widerworte gar nicht erst über die Lippen kamen.

Das Einzige, was die Erste Flotte jetzt noch bei Midway verharren ließ, waren abschließende Reparaturarbeiten und der Transfer von Personal zwischen den Schiffen. Letzteres geschah natürlich nicht als Nachgedanke. Einige Menschen, die bis vor Kurzem von den Enigmas gefangen gehalten worden waren, sollten den Behörden vor Ort überstellt werden. Es waren Leute, die aus Midway und den umliegenden Systemen stammten und die jetzt nichts lieber wollten, als endlich heimzukehren. Dr. Nasr und Geary waren beide der Ansicht, dass die Heimkehr für diese ehemaligen Gefangenen nicht ganz so sehr die Erfüllung eines Traums sein würde, wie diese Leute es sich erhofften und wünschten, doch diese Individuen besaßen natürlich das Recht, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden.

Die Reparaturen waren nur in dem Sinn abschließend, dass es sich um alle Arbeiten handelte, die sich hier erledigen ließen. Nur bei ein paar von Gearys Schiffen würde es nach der Heimkehr nicht nötig sein, noch irgendwelche weiteren Defekte zu beheben. Außerdem kam es nach wie vor zum wahllosen Ausfall von Schiffssystemen, die ihre geplante Lebenserwartung erreicht hatten. Kurios war dabei, dass solche Ausfälle immer dann gehäuft auftraten, wenn Geary gerade das Gefühl bekam, dass es um den Zustand seiner Flotte doch nicht so schlecht bestellt war.

»Wir könnten noch die nächsten sechs Monate hier verbringen«, erläuterte Captain Smythe, dessen Abbild in Gearys Quartier an Bord der Dauntless stand, während der Mann selbst sich nach wie vor auf der Tanuki befand, »und trotzdem würde ich den Wettlauf nicht gewinnen. Nicht, wenn ich nur acht Hilfsschiffe habe und mich um so viele alte Schiffe kümmern soll.«

Alte Schiffe. Damit bezeichnete er Schiffe, die erst vor zwei oder drei Jahren in Dienst gestellt worden waren und die man mit der Erwartung in den Krieg geschickt hatte, dass sie ohnehin in den nächsten Jahren zerstört werden würden. »Sie und Ihre Ingenieure haben wahre Wunder bewirkt«, betonte Geary. »Bei einigen Schiffen hätte ich nicht gedacht, dass sie so lange durchhalten würden.«

»Man muss schon schwere Geschütze auffahren, um ein Schlachtschiff der Guardian-Klasse kleinzukriegen, Admiral«, machte Smythe ihm klar. »Es ist die Panzerung, die sie in einem Stück zusammenhält, auch wenn sie eigentlich längst in ihre Einzelteile zerfallen müssten. Außerdem ist es ja nicht so, dass ein Raumschiff sinkt, nur weil es ein paar Löcher im Rumpf hat.«

»Sinkt?«

»Sie wissen schon«, redete Smythe weiter. »Wenn ein Schiff oder ein Boot auf einem planetaren Ozean schwimmt und es hat ein Loch im Rumpf, dann strömt Wasser ins Innere, und wenn es zu viel Wasser ist, dann versinkt es im Wasser. Es gibt allerdings auch Boote, die sind extra so konstruiert, dass sie versinken. Unterseeboote nennt man die, glaube ich. Aber die tauchen auch wieder auf. Ein Schiff dagegen, das sich auf der Wasseroberfläche bewegen soll, ist ein Totalverlust, wenn es versinkt. So hat man Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer auf Ozeanen vernichtet. Man musste nur genug Löcher in den Rumpf schießen, dann sind sie gesunken. Ich schätze, ein paar hat man auch in die Luft gesprengt, aber meistens ging es darum, sie zu versenken.«

Geary sah Smythe verdutzt an. »Warum konnten die Besatzungen ihre Schiffe nicht weiter bedienen? Wieso hat das so viel ausgemacht, dass sie unter Wasser waren?«

»Sie hatten keine Schutzanzüge, Admiral. Sie konnten nicht atmen! Und die Maschinen arbeiteten nicht unter Wasser. Das waren Verbrennungsmotoren und … ähm … Dampfmaschinen und … na ja … und auch noch andere Antriebsmethoden, die Sauerstoff und Feuer benötigten … und anderes Zeugs.«

»Zeugs?«, gab Geary amüsiert zurück. »Ist das ein technischer Fachbegriff?«

Smythe grinste ihn an. »Zeugs, Kram, Krempel. Alles technische Fachbegriffe vom Feinsten. Aber mal ernsthaft: Wenn ein Schiff untergeht, das auf dem Wasser schwimmen soll, dann ist das in etwa mit einem Raumschiff zu vergleichen, das nur für den Einsatz im All bestimmt ist, das aber unkontrolliert in eine Atmosphäre eintaucht. Schiffe sind nicht so konstruiert, dass sie etwas derart Gravierendes überleben könnten.«

»Okay, der Vergleich leuchtet ein. Hatten Sie schon Zeit, sich irgendwelche Daten von der Invincible anzusehen? Diese Unterhaltung hat mich gerade auf die Frage gebracht, ob die Kiks ihr Schiff nicht vielleicht für einen Verwendungszweck gebaut haben könnten, der uns nie in den Sinn käme.«

»Möglich wäre das«, sagte Smythe und beschrieb eine hilflose Geste. »Dieses Schiff hat so viel zu bieten, das einem irgendwie vertraut vorkommt, obwohl es hier an Bord einem ganz anderen Zweck zu dienen scheint. Für einen Ingenieur ist das alles faszinierend und frustrierend zugleich. Es wäre natürlich hilfreich, wenn wir irgendeinen Teil der Komponenten an Bord einschalten können, um uns näher damit zu befassen.«

»Nein.«

»Irgendetwas Kleines? Etwas Harmloses?«

»Woher wollen Sie wissen, was harmlos ist und was nicht?«, fragte Geary.

»Ähm …« Smythe atmete schnaubend aus. »Jetzt haben Sie mich erwischt, Admiral. Aber wenn wir zumindest herausfinden könnten, wie ein einzelner Ausrüstungsgegenstand funktioniert, dann würde es uns vielleicht gelingen, diesem Aberglauben etwas entgegenzusetzen, der das Kik-Schiff umgibt.«

»Aberglauben?«

»Die Geister«, antwortete Smythe kleinlaut.

»Captain, waren Sie an Bord der Invincible?«

»Sie meinen … persönlich? Nein.« Smythe sah Geary forschend an. »Sie?«

»Ja.« Geary spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken laufen wollte. Bevor er weiterreden konnte, musste er erst schlucken. »Ich weiß nicht, was diese Geister sind, aber die Empfindung ist real und sehr eindringlich. Gibt es irgendein Gerät, mit dem man das Gefühl erzeugen kann, dass sich körperlose Tote an einen drängen?«

»Wenn sie körperlos sind, können sie sich nicht an einen drängen«, stellte Smythe mit der Präzision eines Ingenieurs richtig. Nachdenklich schürzte er die Lippen. »Das müsste ich mit einem medizinischen Fachmann besprechen. Vielleicht irgendwelche Unterschall-Schwingungen. Aber unsere Ausrüstung hat nichts in der Art feststellen können.«

»Es könnte etwas völlig Neues und Fremdartiges sein«, gab Geary zu bedenken.

»Ein Grund mehr, sich mit der Ausrüstung des Schiffs zu beschäftigen!«, argumentierte Smythe triumphierend.

»Aber wenn die Energieversorgung auf dem gesamten Schiff abgeschaltet worden ist und die Verbindungen zu allen Energiespeichern unterbrochen sind, wie kann dann immer noch etwas in Betrieb sein, das jeden auf dem Schiff nervös macht?«

Smythe lehnte sich nach hinten, legte eine Hand an den Mund und überlegte. »Vielleicht … nein. Oder … hmmm. Wenn es eine Art Schwingung ist, die so tief schwingt, dass wir sie nicht feststellen können, die aber von Menschen irgendwie wahrgenommen wird … nun, man könnte theoretisch etwas von der Größe eines Schiffs so konstruieren, dass es eine solche Schwingung allein durch seine Bauart erzeugt.« Er nickte und begann zu lächeln. »Das könnte eine Erklärung sein. Das ist natürlich reine Mutmaßung, aber wenn ein Schiff so konstruiert ist, dass es derartige Schwingungen erzeugt, und wenn es dann mit einem Gerät ausgerüstet wird, das Gegenschwingungen erzeugt, um die Wirkung aufzuheben, dann wird natürlich auch dieses Gerät abgeschaltet, wenn man das ganze Schiff stilllegt.«

»Ernsthaft?«, fragte Geary erstaunt.

»Theoretisch«, betonte Smythe. »Ich habe keine Ahnung, ob das auch nur ansatzweise zutrifft und wie man so etwas praktisch umsetzt. Aber ich bin ja auch kein Kik.«

»Mag sein, dass es nur wild drauflosgeraten ist, aber es ist die erste rational klingende Erklärung, die ich für das höre, was ich auf der Invincible erlebt habe.«

»Admiral«, wandte Captain Smythe scheinbar pikiert ein. »Ich bin ein ausgebildeter Ingenieur. Ich rate nicht einfach wild drauflos, sondern ich rate wissenschaftlich wild drauflos.«

»Verstehe«, gab Geary lachend zurück und war froh, für einen Moment davon abgelenkt zu werden, dass es zu viele Probleme und zu wenige Lösungen gab. »Hat Lieutenant Jamenson schon irgendwelche neuen Erkenntnisse liefern können?«

»Nein, Sir. Aus dem, was wir haben, hat sie alles herausgeholt, was sich herausholen lässt. Wenn wir heimkehren und mehr Ressourcen bekommen, dann wird sie bestimmt die Art von Material produzieren, nach der wir suchen.«

»Danke, Captain«, sagte Geary abrupt, da ein Alarmsignal seine Aufmerksamkeit erforderlich machte. Er beendete dieses Gespräch und nahm das nächste an, das von der Brücke der Dauntless kam.

Tanya Desjani warf ihm einen von diesen Blicken zu, die so viel sagten wie: »Ich toleriere das, aber gefallen tut es mir nicht.«

»Der Frachter, den die Einheimischen für die ehemaligen Enigma-Gefangenen geschickt haben, passt sich den Bewegungen der Haboob an.«

Die ehemaligen Enigma-Gefangenen. Menschen, die über Jahrzehnte hinweg entführt worden waren – manche von Syndik-Schiffen, die unter rätselhaften Umständen verschwunden waren, andere von Planeten in den Sternensystemen, die die Enigmas sich angeeignet hatten. Über dreihundert befanden sich an Bord der Haboob. Dreihundertdreiunddreißig, um genau zu sein. Die Gefangenen selbst hatten davon berichtet, dass ihre Zahl immer genau dreihundertdreiunddreißig betragen hatte, eine Zahl, die für die Enigmas irgendetwas bedeuten musste, da sie immer genau diese Anzahl Gefangene beibehalten hatten. Die Frage, was er mit diesen Leuten anfangen sollte, bereitete Geary Kopfzerbrechen, seit er ihre Befreiung veranlasst hatte. Achtzehn von ihnen wollten nach Midway gebracht werden, weil sie entweder hier oder im Nachbarsystem Taroa beheimatet waren.

Sich damit einverstanden zu erklären, war aber auch keine leichte Entscheidung gewesen. Die neuen Herrscher über Midway behaupteten zwar von sich, nicht länger despotische Syndiks zu sein, aber es war immer noch möglich, dass sie Geary nur etwas vormachten, weil sie sich davon Vorteile erhofften. »Wo ist Dr. Nasr?«

»Persönlich an Bord der Haboob«, erwiderte sie.

»Gut. Können Sie in den Konferenzraum kommen, damit wir das gemeinsam hinter uns bringen können? Ich möchte eine Verbindung zu Dr. Nasr herstellen.«

»Wir können das doch auch auf der Brücke erledigen«, wandte Desjani unwillig ein. »Ach so, Sie wollen das lieber nicht vor viel Publikum erledigen, falls sich irgendwelche hässlichen Szenen abspielen, wenn wir versuchen, ein paar von den Verrückten zu überstellen, die die Enigmas eingesperrt hatten.«

»Ja, Captain«, erwiderte er geduldig. »Doch es sind Verrücktgewordene, weil die Enigmas sie eingesperrt hatten. Das sollten wir nicht vergessen.«

»Aye, Admiral. Ich bin in zehn Minuten im Konferenzraum.«

Er brauchte deutlich weniger als zehn Minuten, doch als er den Konferenzraum erreichte, war Tanya bereits eingetroffen. »Haben die Syndik –, ich wollte sagen: Haben die Midway-Shuttles schon angedockt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das wüsste ich, wenn ich noch auf der Brücke wäre …«

»Sie wissen es so auch.«

»Verdammt, Sie kennen mich einfach zu gut.« Desjani winkte ihn durch, dann folgte sie in den Raum. »Das erste Midway-Shuttle hat vor zwei Minuten angedockt.« Sie setzte sich hin und tippte die Befehle ein, die das Display über dem Konferenztisch zum Leben erweckten. Virtuelle Fenster öffneten sich, eines zeigte das Hangardeck des Sturmtransporters Haboob.

Auf dem Hauptdisplay zoomte das Bild der Haboob heran, die Außenansicht wurde von den Sensoren all jener Schiffe der Flotte zusammengesetzt, die Sicht auf den Transporter hatten. Der Midway-Frachter hing nahe der Haboob im All, beide Schiffe schienen vor dem Hintergrund des unendlichen Weltraums mit seinen unendlich vielen Sternen völlig reglos zu verharren, während sie in Wahrheit mit hoher Geschwindigkeit ihrem Orbit um den Stern Midway folgten. Es lag nur an den gewaltigen Entfernungen und dem Mangel an stationären Objekten in der unmittelbaren Umgebung, dass der Eindruck einer erstarrten Szene entstand.

Vier Shuttles flogen vom Frachter zum Allianz-Transporter, was Desjani stutzig machte. »Ich dachte, wir setzen nur achtzehn ehemalige Enigma-Gefangene hier ab. Für achtzehn Passagiere sind das aber viele Shuttles.«

»Es sind ungewöhnliche Passagiere«, konterte Geary. Er überprüfte das Manifest für jedes Shuttle und fand eine lange Liste des medizinischen und technischen Personals vor, außerdem waren jedem Shuttle zwei Wachleute zugeteilt. »Nur zwei Aufpasser pro Shuttle? Ich hätte mehr erwartet.«

»Besonders für Syndiks«, stimmte sie ihm zu und warf ebenfalls einen Blick auf die Manifeste.

»Vielleicht sind ja die Mediziner und Techniker gleichzeitig auch Bewacher.«

»Wäre möglich.« Desjani traute den Leuten hier nicht über den Weg, und auch Geary war nicht restlos von ihrer Ehrlichkeit überzeugt. Er konnte nur hoffen, dass diese ehemaligen Gefangenen nach ihrer Rückkehr von den eigenen Leuten besser behandelt wurden als zuvor von den Enigmas.

Dr. Nasr tauchte in einem separaten Fenster auf. »Admiral«, grüßte er Geary und sah zu Desjani. »Captain.«

»Was haben Sie bei der Sache für ein Gefühl?«, wollte Geary wissen.

»Es ist immer noch die beste Option unter vielen noch schlechteren«, gab Nasr zurück. »Das ist immer noch meine Meinung zu dem Thema.«

Desjani verzog das Gesicht. »Ich kann mir nicht erklären, wie man sich freiwillig wieder der Kontrolle durch die Syndiks unterstellen will.«

»Es sind Syndiks«, machte der Doctor deutlich. »Ihre Familien leben hier oder ganz in der Nähe, und Midway wird zudem nicht mehr von den Syndiks beherrscht. Deshalb wollen jetzt sogar die zu ihren Heimatsternen zurückkehren, die sich bislang noch zögerlich verhalten hatten. In der letzten Stunde habe ich mich mit jedem der achtzehn noch einmal unterhalten, und ich bin davon überzeugt, dass sie uns wirklich völlig aus freien Stücken verlassen wollen.«

»Dann werden wir ihren Wunsch respektieren«, sprach Geary. Damit blieben nur noch dreihundertfünfzehn ehemalige Enigma-Gefangene, die sie irgendwo unterbringen mussten. »Ich wünschte, wir hätten herausgefunden«, redete er an Tanya Desjani gewandt weiter, »warum die Enigmas immer genau dreihundertdreiunddreißig Gefangene festgehalten haben.«

»Schreiben Sie das mit auf die lange Liste offener Fragen«, schnaubte sie. »Wir haben über die Enigmas so gut wie nichts herausgefunden, außer dass sie schon krankhaft besessen sind, keine Informationen über sich nach außen dringen zu lassen. Und jetzt machen wir ihnen ihr kleines Zahlenspiel auch noch kaputt. Ich möchte wetten, es würde sie wahnsinnig machen, wenn sie das wüssten.« Tanya fügte das in einem Tonfall an, der keinen Zweifel daran ließ, dass es ihr nichts ausmachte, die Enigmas geistig zu quälen. »Sind Sie sich sicher, dass diese Leute hier die ehemaligen Gefangenen, die wir ihnen überlassen, nicht wie Versuchskaninchen behandeln werden?«

»Nein.«

Das einzelne Wort hätte Desjani einen weiteren Kommentar entlocken können, doch die Art, wie er es aussprach, ließ sie nur kurz einen Blick in seine Richtung werfen, dann wandte sie sich wieder schweigend dem Display zu. Sie kannte ihn inzwischen auch sehr gut.

Die Videoverbindung zum Sturmtransporter Haboob lieferte gestochen scharfe Bilder, die die gesamte Gruppe ehemaliger Gefangener zu zeigen schien, wie sie sich an Steuerbord im vorderen Ladebereich des Transporters drängten. Nachdem sie so viele Jahre in ihrer kleinen Welt zusammengepfercht gelebt hatten, wollte es ihnen offenbar seit ihrer Befreiung nicht gelingen, dieses Verhalten abzulegen. Auch jetzt bildeten sie eine kompakte Gruppe, in der die achtzehn, die nach Midway wollten, nur anhand der Allianz-Taschen auszumachen waren, in denen sie ihre wenigen Habseligkeiten bei sich trugen, die sie entweder aus ihrem Gefängnis auf dem Asteroiden mitgenommen hatten oder die seitdem in ihren Besitz gelangt waren.

Die Marines, die das Geschehen im Auge behalten sollten, standen am Rand des Ladebereichs, unterhielten sich untereinander und wirkten entspannt. Seit ihrer Ankunft auf der Haboob hatten die Befreiten keinerlei Probleme bereitet, als fürchteten sie, dass man sie in ihr altes Gefängnis zurückschicken würde, wenn sie nur ein falsches Wort sagten. Diese Angst hatte dem medizinischen Flottenpersonal sehr viel Arbeit bereitet, da sie immer wieder versucht hatten, ihre Patienten davon zu überzeugen, dass niemand etwas Derartiges mit ihnen machen würde. Den Marines, die an Bord der Haboob für Ordnung und Disziplin sorgen sollten, hatte dieser Umstand die Arbeit hingegen ganz erheblich erleichtert.

Lichter leuchteten über den vier Hauptschleusen des Ladebereichs auf, da die Midway-Shuttles den Andockvorgang beendeten und ihre Luken mit denen des Transporters versiegelt wurden. Die Allianz-Marines versteiften sich und spielten mit ihren Waffen.

Die Midway-Shuttles waren von den Syndikatwelten gebaut worden, bemannt und gesteuert wurden sie von Männern und Frauen, die noch vor Kurzem für die Syndikatwelten gekämpft hatten. Niemand an Bord der Haboob würde auch nur einen Moment lang in seiner Wachsamkeit nachlassen, solange die Shuttles angedockt waren und sich deren Personal an Bord befand.

Die zivilen Spezialisten von Midway kamen als Erste an Bord. Irgendjemand war umsichtig genug gewesen, in dieser Situation kein militärisches Personal vorzuschicken. Eine von Dr. Nasr angeführte Gruppe kam ihnen entgegen. Geary machte sich nicht die Mühe, das Bild heranzuholen oder den Ton dazu zu schalten, da auch aus der Ferne betrachtet deutlich war, dass dies eine routinemäßige Begrüßung unter Fachleuten war.

Stattdessen sah Geary sich die Zivilisten genauer an und stellte fest, dass keiner von ihnen die übliche Syndik-Standardkleidung trug, die auf den verschiedenen Ebenen der Organisationshierarchien der Syndikatwelten vorgeschrieben gewesen war. »Wenigstens ist man so schlau gewesen, die Leute nicht in Syndik-Anzügen herzuschicken.«

Nachdem auch noch die letzten Ärzte und Techniker an Bord gekommen waren, folgten die vier Piloten der Shuttles, die in der Nähe der Schleusen eine Gruppe bildeten, während die Midway-Zivilisten mit dem medizinischen Personal der Allianz zusammentrafen.

Desjani nickte. »Und die Piloten tragen auch keine Syndik-Uniformen. Was die Offiziere der Kriegsschiffe tragen, sieht nach leicht veränderten Syndik-Beständen aus, aber diese Shuttle-Piloten hat man komplett neu eingekleidet.« Desjanis Stimme gab keinen Hinweis darauf, ob sie das guthieß oder ob sie es nur für einen weiteren Syndik-Trick hielt.

Die ängstlichen Ex-Gefangenen musterten die Leute von Midway, als suchten sie nach vertrauten Gesichtern. Die Marines hielten die Spezialisten von Midway und die Gefangenen unter Beobachtung. Eine Gruppe von Allianz- und Marine-Offizieren betrat den Ladebereich, alle blieben stehen und sahen neugierig die Anwesenden an. Gaffer. Sobald sich auf einem Schiff etwas Ungewöhnliches ereignete, kam jeder, der gerade keine anderen Aufgaben hatte, vorbei und riskierte einen Blick.

»Admiral?«, meldete sich Dr. Nasr ungewöhnlich schroff. »Der verantwortliche Offizier möchte wissen, ob es seine Richtigkeit hat, dass Personen anwesend sind, die mit dem eigentlichen Vorgang nichts zu tun haben.«

»Sie meinen die Spanner?«, gab Geary zurück. »Ja, warum nicht?«

»Das war auch meine Meinung, aber die Offiziere hier möchten dazu Ihre Meinung hören.«

»Ah, verstehe. Sagen Sie ihnen, der Admiral genehmigt und befürwortet die Anwesenheit von unbeteiligtem Personal, das Zeuge dieses Ereignisses werden möchte.«

So ungewöhnlich dieser Vorgang auch war, hatte der übereifrige Versuch, alles nichtautorisierte Personal wegschicken zu lassen, für Geary etwas beruhigend Routinemäßiges. Aber als er sich zu Desjani umdrehte, bemerkte er ihre irritierte Miene. »Was ist los?«

»Was machen die da?«

»Die Spezialisten von Midway? Die tragen alle Informationen zusammen, die sie über die Leute bekommen können, die sie mitnehmen werden. Dr. Nasr hat mir gesagt, dass die Übermittlung der Daten lange vor diesem Treffen geregelt worden ist. Medizinische Unterlagen, Aufzeichnungen über Behandlungen, die seit ihrer Befreiung durchgeführt wurden, über vorgenommene Tests, mit denen sichergestellt wurde, dass die Enigmas ihnen keine Gifte oder Seuchen implantiert haben. Alles solche Dinge.«

»Sieht aus«, sagte sie erstaunt, »wie eine ganz normale Menschenansammlung.«

»Natürlich ist das …« Geary unterbrach sich, da ihm klar wurde, dass Desjani so etwas noch nie mitgemacht hatte. Kein lebender Mensch außer ihm selbst kannte solche Bilder. Vor dem Krieg hatte es friedliche Treffen zwischen der Allianz und den Syndikatwelten gegeben, und bei einigen war er sogar persönlich anwesend gewesen, wenn offizielle Delegationen beider Seiten zusammengetroffen waren. Aber solche Treffen waren lange her. Eine der Begleiterscheinungen des hundert Jahre währenden Kriegs war eine kontinuierliche Verschlechterung der Beziehungen gewesen, bis beide Seiten jegliche Kommunikation eingestellt hatten. Wenn sie sich begegnet waren, dann im Gefecht, oder wenn die eine Seite Gefangene der anderen nahm. »So soll das ablaufen«, sagte er schließlich.

Desjani antwortete nicht, sondern zeigte auf eine Midway-Pilotin, die sich abrupt zu den Allianz-Offizieren und -Marines umdrehte und mit entschlossener Miene zu ihnen ging. Selbst bei dieser Einstellung konnte Geary erkennen, dass die Atmosphäre auf dem Deck durch das Verhalten dieser Pilotin mit einem Mal angespannter war. Die Marines entsicherten ihre Waffen, auch wenn sie sie noch auf niemanden gerichtet hielten.

Doch ein paar Meter von den Allianz-Offizieren entfernt blieb die Pilotin stehen und sah die Männer verblüfft an. »Ich … entschuldigen Sie … Wie soll ich das ausdrücken? Können Sie … würden Sie … mir etwas sagen?«

»Kommt drauf an«, antwortete einer der Offiziere verhalten. »Um was geht es denn?«

»Waren Sie …«, redete sie stockend weiter. »War einer von Ihnen bei Lakota? Als diese Flotte dort gekämpft hat?«

Nach einer kurzen Pause nickte ein anderer Offizier. »Nicht auf diesem Schiff. Die Haboob gehörte damals nicht zur Flotte. Aber ich war dort.«

»Mein Bruder ist bei Lakota gefallen«, sagte die Pilotin abgehackt. »Ich weiß nichts darüber, aber ich hatte gehofft … dass Sie vielleicht wissen, wie er gestorben ist.«

Die Allianz-Offiziere wurden darauf sichtlich entspannter. »Es gab dort verschiedene Gefechte«, erwiderte der Allianz-Offizier.

»Er diente auf einem Leichten Kreuzer. CL-901.«

»Tut mir leid«, sagte der Mann und schien es auch zu meinen. Es war eine Situation, mit der jeder mitfühlen konnte, der den Krieg mitgemacht hatte. »Wir kannten die Bezeichnungen der anderen Schiffe nicht.«

Die Pilotin biss sich auf die Lippe, blickte kurz zu Boden und sah den Mann wieder an. »Ich habe gehört, Sie haben Gefangene genommen. Unter dem Kommando von Black Jack. Es gab Gerüchte.«

»Das ist richtig, aber bei Lakota bekamen wir keine Chance dazu.« Der Offizier zögerte kurz, dann fragte er seinerseits: »Wissen Sie, was bei Lakota geschehen ist?«

»Nein. Aus Sicherheitsgründen. Von den üblichen Lügen abgesehen haben wir nie etwas von offizieller Seite erfahren.«

»Das Hypernet-Portal bei Lakota brach zusammen. Es wurde von einer Syndik-Flotte bewacht, und ich nehme an, sie hatte den Befehl, das Portal zu zerstören, wenn wir die übrigen Streitkräfte bei Lakota besiegen. Sie haben auf die Trossen gefeuert.«

Die Shuttle-Pilotin verzog den Mund und kniff die Augen zu, bis sie sich wieder im Griff hatte. »Sie wussten es nicht. Wir erfuhren erst davon, nachdem wir die Schlangen getötet hatten. Dann fanden wir heraus, was passiert, wenn ein Portal kollabiert. Sie wussten es nicht«, wiederholte sie.

»So etwas hatten wir uns schon gedacht. Es war Selbstmord. Auf den Schiffen wird vermutlich niemand lange genug überlebt haben, um zu begreifen, was sie angerichtet haben. Die Schockwelle raste durch ganz Lakota, sie löschte Shuttles und Handelsschiffe und alles aus, was nicht über ausreichende Schilde verfügte. Wir hatten noch Glück, weil wir weit genug entfernt waren und die Schockwelle uns nicht mehr mit voller Kraft erreichte. Aber sie hat das gesamte System verwüstet. Es tut mir leid, aber ich kann nichts dazu sagen, was mit Ihrem Bruder passiert ist.«

Die Pilotin nickte, ihr Gesicht war ein Wechselbad der Gefühle. »Ist schon gut. Ich weiß, wie das ist.«

»Sind Sie Shuttle-Pilotin auf einem Kriegsschiff?«

»Nein.« Mit dem Daumen zeigte sie auf das Schulterabzeichen an ihrer Uniform. »Bodentruppen. Luft-und Raumwaffe.«

»Regelmäßige Flüge in der Atmosphäre? Stürme, Wind und Nebel? Besser Sie als ich.«

Die Shuttle-Pilotin lächelte nur kurz. »Manchmal ist es brenzlig, aber nichts, womit wir nicht klarkommen könnten. Ich arbeite für General Drakon, und er schickt seine Mitarbeiter nirgendwohin, wo er nicht auch selbst hingehen würde.«

»Was genau machen Sie für General Drakon?«, wollte ein Marine wissen.

»Vor allem Unterstützung der planetaren Verteidigung und der Bodenstreitkräfte. Ich war auch beim Einsatz bei Taroa, wo wir dabei mitgeholfen haben, das Syndikat aus unserem Sternensystem zu vertreiben. General Drakon hat uns diesen Transport übertragen, weil die mobilen Streitkräfte … ich wollte sagen, die Midway-Kriegsflotte nicht über so viele Shuttles verfügt.«

Die Allianz-Offiziere sahen sich untereinander an, dann fragte einer von ihnen: »Was war das vorhin mit den Schlangen? Sie sprachen davon, Sie hätten die Schlangen getötet.«

»Ja, Schlangen. Agenten des Inneren Sicherheitsdienstes. Die Geheimpolizei des Syndikats.« Die Pilotin machte eine Miene, als wollte sie angewidert ausspucken, aber dann fuhr sie fort: »Die haben überall das Sagen gehabt. Sie haben alles beobachtet, jedem über die Schulter geschaut. Wenn man etwas falsch gemacht hatte oder wenn sie einen einfach nur verdächtigten, verschleppten sie ihn in ein Arbeitslager. Manchmal machten sie das einfach, weil sie Spaß daran hatten, völlig ohne Verdacht. Wir haben sie getötet. Wir haben dieses System von ihnen befreit.« Sie straffte die Schultern und erklärte mit Nachdruck: »Wir sind sie los. Lieber sterben wir, als dass wir ihnen noch einmal die Kontrolle überlassen. Niemand besitzt uns, kein Unternehmen, kein CEO, niemand. Niemals wieder.«

»Sie sind keine Syndiks?«, warf ein weiterer Offizier ein, der keinen Hehl aus seiner Skepsis machte.

»Nein! Nie wieder! Wir sind frei, und wir lassen uns nicht noch einmal vom Syndikat versklaven.« Sie wandte sich zum Gehen, sah aber die Allianz-Offiziere noch einmal an, wobei sie wieder etwas zögerlich wirkte. »Sie … Ich möchte Ihnen danken.«

»Tut mir leid, wenn wir Ihnen nichts dazu sagen können, was mit Ihrem Bruder geschehen ist.«

»Sie haben mir gesagt, was Sie wissen, und das ist sehr viel mehr als das, was ich bislang wusste.« Sie hielt kurz inne, dann salutierte sie auf die Syndik-Weise, indem sie die rechte Faust an die linke Brust legte. Ehe die Allianz-Offiziere sich entscheiden konnten, ob sie den Salut erwidern sollten oder nicht, hatte die Pilotin sich auch schon weggedreht und ging zurück zu ihren Kameraden.

»Hey«, rief in dem Moment ein Allianz-Offizier.

Die Pilotin zuckte zusammen, als hätte jemand auf sie geschossen, und wandte sich wieder zu der Gruppe um.

»Verraten Sie mir eines.« Der Tonfall des Offiziers war unüberhörbar feindselig, aber es schwang auch Verständnislosigkeit mit. »Eines habe ich nie begriffen. Warum? Warum um alles in der Welt haben Sie die Allianz angegriffen?«

»Wir? Sie angegriffen? Wir haben nichts …«

»Nicht jetzt, sondern damals. Vor hundert Jahren. Warum haben die Syndikatwelten diesen verdammten Krieg überhaupt angefangen?«

Diesmal stand die Pilotin da und starrte den Mann verdutzt an. Schließlich erwiderte sie mit erstickter Stimme: »Uns wurde gesagt, Sie haben angefangen. Die Allianz hat die Syndikatwelten angegriffen. Das hat man uns so beigebracht.«

»Aber wir haben nicht …«, wollte der Offizier aufgebracht widersprechen.

»Nein, nein. Ich glaube Ihnen jedes Wort! Unsere Regierung hat uns immer nur angelogen, warum sollte sie dann ausgerechnet in diesem einen Punkt die Wahrheit sagen?«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging mit unsicheren Schritten zurück zu den anderen Piloten.

Geary sah Desjani von der Seite an und versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen, doch Tanyas Gesicht verriet keine Regung. »Wie ist Ihr Eindruck?«, fragte er schließlich.

Desjani zuckte mit den Schultern. »Wenn sie ihre Einstellung gegenüber den Syndikatwelten nur vortäuscht, dann ist sie eine begnadete Schauspielerin.«

»Ja, das ist mir aufgefallen. Als sie von den, ähm, Schlangen sprach, da hörte sich das an, als hätte sie ein paar Agenten persönlich die Kehle aufgeschlitzt.«

»Warum haben sie dann für die Syndikatwelten gekämpft?«, fragte sich Desjani zornig. »Sie haben die Syndikatwelten gehasst, sie haben diese Schlangen gehasst. Für wen haben sie dann gekämpft? Warum haben sie so viele Menschen getötet, wenn sie ihre eigene Regierung so sehr gehasst haben?«

»Ich weiß nicht«, sagte Geary, war sich aber nicht ganz so sicher. »Immerhin wissen wir, dass sie geglaubt haben, sie würden ihre eigenen Leute vor uns beschützen.«

»Indem sie uns angreifen?«, konterte Desjani unverhohlen feindselig.

»Man hat ihnen eingeredet, wir seien die Aggressoren. Ich sage damit nicht, dass sie recht hatten, Tanya. Ich sage nicht, dass sie hätten kämpfen sollen. Durch ihre eigenen Anstrengungen haben sie die Syndikatwelten am Leben erhalten, obwohl sie sie hassten. Es war dumm, aber sie müssen wirklich geglaubt haben, dass sie das Einzige taten, was in ihrer Macht lag.«

»Solange Sie nicht entschuldigen, was die getan haben«, konterte sie spöttisch.

»Ich habe auch viel verloren, Tanya.«

Eine Weile saß sie schweigend da, schließlich nickte sie. »Das stimmt allerdings. Na gut, wenn ich die Wahl habe zwischen ehemaligen Syndiks auf der einen Seite, die jetzt die Syndikatwelten hassen, und den Syndikatwelten, den Enigmas und den Kiks auf der anderen Seite, dann würde ich sagen, dass ich den Ex-Syndiks wenigstens eine Chance geben kann.«

Auf dem Frachtdeck der Haboob musste der Übergabeprozess zum Abschluss gekommen sein. Die achtzehn vormaligen Gefangenen bewegten sich als dicht gedrängte, kleine Gruppe langsam auf die Schleusen zu, an denen die Shuttles angedockt lagen.

Im nächsten Moment setzten sich dreihundertfünfzehn übrigen Befreiten wie ein Mann in Bewegung und stürmten hinter den anderen her, wobei sie alle gleichzeitig etwas sagten oder schrien. Die Marines, die von dieser Aktion völlig überrumpelt worden waren, traten in Aktion und versuchten, mit lautstarken Warnungen und Drohungen die Ordnung wiederherzustellen. Ärzte und Techniker beider Seiten, die genauso erschrocken waren wie die Marines, liefen ziellos umher und machten mit ihren Bewegungen und Rufen das Durcheinander nur noch schlimmer.

»Was zum Teufel ist denn da los?«, rief Geary aufgebracht.

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