Achtzehn

»Charban! Sagen Sie den Tänzern, sie sollen die Bundes-Formation meiden!«

»Sie sind einige Lichtminuten entfernt!«, wandte Charban ein. »Und wenn ich die Anzeigen auf diesem Display richtig deute, dann werden sie die anderen Kriegsschiffe sehr bald erreicht haben, weil sie weiter beschleunigen.«

Geary sah auf sein Display und musste zu seinem Bedauern feststellen, dass der ehemalige General der Bodentruppen die Anzeigen völlig richtig gedeutet hatte. Die Tänzer hatten nicht bloß ihre Geschwindigkeit reduziert, sodass es zu einem früheren Zusammentreffen mit den Verfolgern kommen würde, sie hatten außerdem Kurs auf sie genommen und beschleunigten. Die Vektoren der Tänzer-Schiffe führten mitten in die Bundes-Formation.

»Haben die Tänzer Ihre vorangegangene Warnung verstanden, diesen Schiffen aus dem Weg zu gehen?«, wollte er wissen, während ihn ein quälendes Gefühl der Hilflosigkeit überkam.

»Ja, klar und deutlich. Verstanden – so hat ihre Antwort gelautet. Ich weiß nicht, was sie jetzt vorhaben.« Charban klang sehr unglücklich und aufgebracht.

Desjani sagte nichts, sondern behielt mit nichtssagender Miene stur ihr Display im Auge. Die Dauntless beschleunigte so schnell, wie es die Antriebseinheiten zuließen, weshalb es für sie alle wie so oft tatsächlich nichts anderes zu tun gab, als dazusitzen und abzuwarten.

»Captain«, meldete sich auf einmal Lieutenant Castries zu Wort und hörte sich seltsam beeindruckt an. »Die Beschleunigung der Tänzer-Schiffe übersteigt unsere Schätzungen, wie viel ihre Hüllen aushalten dürften. Wenn sie weiter so beschleunigen, werden sie 0,11 Licht erreicht haben, wenn sie auf die Bundes-Formation treffen.

»Danke, Lieu–«, begann Desjani, dann sah sie Castries und gleich danach Geary an. »Die Bundes-Schiffe fliegen mit 0,24 Licht. Damit wird die kombinierte Geschwindigkeit bei über 0,35 Licht liegen, wenn sie aufeinandertreffen.«

Vielleicht bestand ja noch eine Chance. »Wenn die Feuerkontrollsysteme der Bündler nicht erheblich besser sind als unsere, dann werden sie bei 0,35 Licht nicht damit rechnen können, viele Treffer zu landen.«

»Und die Tänzer geben nur kleine Ziele ab«, ergänzte Desjani. »Außerdem verfügen die Bündler nicht über annähernd die Feuerkraft, die wir von ihnen erwartet hatten.« Sie hatte eine Faust geballt, die in einem gemächlichen Rhythmus die Armlehne ihres Sessels berührte.

»Eine Minute bis zum Kontakt zwischen den Tänzern und der Bundes-Formation«, meldete Castries.

Geary zwinkerte verdutzt, als die beiden Gruppen sich gegenseitig durchflogen. In der letzten Sekunde vor dem Kontakt hatten die Tänzer abrupt ihre eigene Anordnung verändert und die Schiffe enger zusammengezogen. Dadurch war es für die Feuerkontrollsysteme der Bundes-Schiffe noch schwieriger geworden, ihre Ziele zu erfassen. Dann waren die Tänzer so dicht an dem Bundes-Schiff in der Mitte der Formation vorbeigeflogen, dass Geary einen Moment lang der Atem stockte, obwohl die Tänzer schon längst ein ganzes Stück weiter waren, ehe er überhaupt begreifen konnte, was sich da vor seinen Augen abspielte.

»Ich weiß, wir können mit ihnen arbeiten«, empörte sich Desjani, »aber diese Tänzer sind völlig verrückt.« Hastig tippte sie auf ihren Kontrollen, damit die Dauntless ein wenig Fahrt wegnahm. Vor ihnen hatten die Bundes-Schiffe gedreht und benutzten jetzt ihren Antrieb, um zu bremsen, damit sie auf dem Weg zurückfliegen konnten, den sie gekommen waren – anstatt einen weiten Bogen zu fliegen und so den Kurswechsel zu vollziehen. »Sie müssen zu viel Schwung abbauen«, stellte Desjani fest, »den sie so vollständig vergeuden, anstatt ihn zu nutzen.«

»Dieses Manöver sieht zackiger aus, als eine weit gestreckte Kurve zu fliegen«, merkte Geary an.

»Und deshalb hat sich eine in Friedenszeiten operierende Flotte daran gewöhnt, es auf diese Weise zu machen? Was für Idioten! Also gut. Wir werden viel schneller als erwartet auf sie treffen. Wollen wir doch mal sehen, ob wir unserem Vogel auch noch den anderen Flügel stutzen können.«

Da die Bundes-Schiffe stark abbremsten, rückte der Zeitpunkt bis zum Kontakt rapide näher. Desjani korrigierte die Vektoren der Dauntless so, dass sie auf die bislang intakt gebliebene Seite der Formation ausgerichtet wurde.

»Sie machen sie aber sehr früh darauf aufmerksam, wo Sie sie treffen wollen«, murmelte Geary.

Sie zog die Brauen zusammen. »Nein, ich mache sie nur sehr früh darauf aufmerksam, was sie glauben sollen, wo ich sie treffen will. Ich habe da diesen Typ bei der Arbeit beobachtet, diesen Black Jack. Er macht so was ziemlich oft.«

Aber er weiß noch immer nicht, wann er die Klappe halten sollte. »Tut mir leid.«

Sorgfältig legte Desjani für die Feuerkontrollsysteme die Ziele fest, während die letzten Minuten bis zum Kontakt verstrichen.

»Achtung«, sagte sie an ihre Crew gewandt, dann lenkte sie die Dauntless auf einen geringfügig anderen Vektor. Es war nur eine graduelle Korrektur, doch bei den Entfernungen, die im Spiel waren, bedeutete es, dass die Dauntless auf der Seite an der Flotte vorbeiflog, die bereits bei der ersten Begegnung überrannt worden war.

Geary nahm kaum Notiz von den feindlichen Raketen, die auf den Punkt zielten, an dem sich die Dauntless ohne die Kurskorrektur befunden hätte. Auch Partikelstrahlen und Kartätschen irrten durch den leeren Raum, da sie ihres Ziels beraubt worden waren.

Die von der Dauntless erfassten Ziele dagegen hatten ihre Vektoren nicht geändert und saßen praktisch auf dem Präsentierteller, da der Schlachtkreuzer sie in dem Sekundenbruchteil unter Beschuss nahm, bevor er die Formation bereits wieder hinter sich gelassen hatte.

Diesmal hatte Desjani die Korvetten ignoriert, stattdessen war der Beschuss auf einen der Megakreuzer konzentriert worden. Dessen Systeme waren unter den Treffern komplett ausgefallen, sodass er nun steuerlos durchs All trudelte. Das restliche Feuer der Dauntless hatte ein zweiter Megakreuzer abbekommen, der sich zwar noch in der Formation befand, aber erhebliche Schäden aufwies. Das Loch, das von dem Nullfeld in den Bug des Kriegsschiffs geschnitten worden war, sah so aus, als hätte ein Riese ein Stück aus dem Schiff gebissen.

Unter Einsatz der Steuerdüsen drehte sich die Dauntless nach oben und nach Backbord, um zu wenden und noch einmal auf den unversehrt gebliebenen Flügel der Bundes-Formation zuzuhalten. Deren Schiffe beschleunigten mittlerweile wieder in Richtung der Tänzer, die damit beschäftigt waren, in einem komplexen Muster umeinander herumzufliegen, während sie sich dem Hypernet-Portal näherten. Allerdings beschleunigten sie nicht weiter und waren nun mit einer Geschwindigkeit unterwegs, die es den Bundes-Schiffen erlauben würde, sie wieder einzuholen.

»Sie spielen Köder«, sagte Geary verwundert. »Sie tanzen den Bündlern praktisch auf der Nase herum, aber immer ein kleines Stück zu weit entfernt, sodass sie sie nicht zu fassen bekommen können.«

Der Befehlshaber der Bündler musste vor Wut rasen, da es ihm einfach nicht gelingen wollte, den Allianz-Schlachtkreuzer außer Gefecht zu setzen, wobei der doch sein eigentliches Ziel gewesen war. Jetzt versuchte er, stattdessen die tanzenden Schiffe zu erwischen, die ihn verspotteten.

Worüber hatte Charban sich beklagt? Er dachte, die Tänzer verheimlichen etwas und lassen nicht erkennen, wie gut sie sich eigentlich mit den Menschen verständigen könnten. Das ist genau das Gleiche, nicht wahr? Sie halten das, worum es eigentlich geht, ihrem Gegenüber vor die Nase, aber immer so weit entfernt, dass man es nicht zu fassen kriegt. Machen die Tänzer das mit uns auch, nur auf eine etwas andere Weise? Aber wieso? Weil das ihre Art ist? Oder ist ihnen vielleicht gar nicht bewusst, dass sie sich so verhalten, wenn sie mit uns reden? Oder machen sie es mit Absicht, damit wir nach irgendeinem Ziel zu streben beginnen, das sie uns nicht erreichen lassen?

»Sie behalten ihre Formation weiter bei«, sagte Lieutenant Yuon verblüfft.

Geary benötigte einen Moment, ehe ihm klar wurde, dass von den Bundes-Schiffen die Rede war. Es stimmte. Obwohl sie fast die Hälfte ihrer Schiffe verloren hatten, blieb der Rest in der ursprünglichen Formation, die nun nach einem schiefen Vogel mit nur noch einem Flügel aussah.

»Die sind das genaue Gegenteil von uns, nicht wahr?«, sagte Desjani, der etwas dämmerte. »Wir haben ohne Rücksicht darauf gekämpft, wie unsere Formation aussah, wir haben die Schiffe einfach irgendwie angeordnet, bis Sie kamen und uns vor Augen führten, wie der Kampf in einer geordneten Formation die Effizienz steigern kann. Aber diese Typen da verhalten sich, als wäre es für sie völlig unvorstellbar, die Formation aufzulösen. Sie haben sie nicht mal angepasst, um die Verluste auszugleichen oder um eine wirkungsvollere Verteidigung zu erreichen. Es ist so, als müssten sich alle Einheiten an einer bestimmten Position in Relation zum Führungsschiff befinden, von der sie nicht abweichen dürfen, selbst wenn die Lebenden Sterne vor ihnen auftauchen und ihnen sagen würden, sie sollen verschwinden.«

Die Dauntless hatte ihr Wendemanöver abgeschlossen, aber anstatt sich auf den unversehrten Flügel zu konzentrieren, nahm sie Kurs auf die ehemalige Mitte der Formation. Es war offensichtlich, dass Desjani diesmal das Flaggschiff außer Gefecht setzen wollte. Geary stellte diese Entscheidung nicht infrage.

Die Bundes-Schiffe drehten nicht, um sich dem näher kommenden Allianz-Schlachtkreuzer entgegenzustellen, sondern beschleunigten weiter, so schnell sie konnten, um den Tänzern zu folgen. Während sie sich im Verhältnis zur Dauntless immer noch recht langsam bewegten, feuerten sie Waffen nach hinten und unten ab, wobei sie diesmal mehrere Treffer landen konnten, als die Dauntless näher und näher kam.

Eine massive Salve Phantome jagte von Desjanis Schiff in Richtung Gegner und hielt auf den Megakreuzer zu, von dem die Mitteilungen des Ordensständers gesendet worden waren.

Während die Dauntless zu einer weiteren ausholenden Kurve ansetzte, dirigierten die Steuerdüsen sie diesmal nach unten und nach Steuerbord. Auf seinem Display konnte Geary mitansehen, wie das Bundes-Flaggschiff explodierte. Nicht weit von dem Ort entfernt, an dem soeben das Flaggschiff zerstört worden war, schlugen weitere Phantome in das Heck eines Megakreuzers ein und rissen das Schiff herum, sodass es vom Rest der Formation weggeschleudert wurde.

»Eine Runde noch, dann sollte das erledigt sein«, sagte Desjani.

»Captain!«, rief Lieutenant Castries. »Rettungskapseln werden gestartet!«

»Von welchem Schiff?«

»Ähm … von allen.«

Einmal mehr konnte Geary nichts anderes tun, als ungläubig auf sein Display zu sehen.

Der beim zweiten Anlauf schwer beschädigte Megakreuzer spie Scharen von Rettungskapseln aus, Gleiches galt für den Megakreuzer, der diesmal kampfunfähig geschossen worden war. Aber auch der letzte überlebende und immer noch intakte Megakreuzer und die drei verbliebenen Korvetten wurden von ihren Besatzungen aufgegeben.

»Die sind in Panik geraten«, sagte Geary.

»Die sind … was?« Desjanis rätselnder Blick verriet ihm, dass sie keine Ahnung hatte, was er damit meinte.

»Ihr Befehlshaber ist tot. Es kann gut sein, dass keiner von denen überhaupt weiß, wieso wir angreifen. Die meisten ihrer Schiffe sind zerstört oder unbrauchbar geschossen. Sie wissen, dass sie trotz ihrer immer noch vorhandenen zahlenmäßigen Überlegenheit in jeder anderen Hinsicht chancenlos sind. Sie sind in Panik geraten.«

»Was?«, wiederholte sie. »Das ist … was? Sie haben Verluste hinnehmen müssen, und deshalb geben sie auf?« Sie klang noch verwunderter als Lieutenant Yuon kurz zuvor.

Als Geary sich umsah, musste er feststellen, dass ein jeder auf der Brücke genauso verständnislos dreinblickte. »Diese Leute haben noch nie einen echten Kampf ausgetragen«, erklärte er bedächtig. »Sie haben nur zu Übungszwecken gekämpft, und das gegen ›Feinde‹, die vermutlich immer verlieren mussten, weil kein Befehlshaber gern verliert, der seine Schiffe an einer Übung teilnehmen lässt. Das hier ist für sie das erste Mal, dass sie einen Gegner vor sich haben, der sich nicht an den Plan hält, sich tot zu stellen, nur weil das den Befehlshaber gut dastehen lässt. Diesmal haben sie es mit einem erfahrenen Feind zu tun, der selbst unbedingt gewinnen will. Es ist das erste Mal, dass sie miterleben müssen, wie ihre Schiffe im Gefecht zerstört werden, wie ihre Kameraden sterben. Es ist das erste Mal, dass das, was sie gelernt haben, nicht funktioniert; ein Praxisschock. Alles, was man ihnen eingetrichtert hat, erweist sich als verkehrt. Ihre Offiziere haben wahrscheinlich überhaupt keine Ahnung, was sie tun sollen, wenn es mal nicht nach Plan verläuft. Die Disziplin hat sich auf diesen Schiffen in Wohlgefallen aufgelöst, und jeder versucht jetzt nur noch, sich in Sicherheit zu bringen.«

Desjani schüttelte den Kopf. »Wenn sie das nächste Mal kämpfen wollen, dann sollten sie auch auf einen richtigen Kampf vorbereitet sein. Wir könnten sie einfach niederwalzen, nicht wahr? Eine Allianz-Flotte könnte sie ausradieren, während sie noch beim Anblick von Blut ohnmächtig werden.« Sie hörte sich wütend und verächtlich an.

»Wenn wir das wollten«, erwiderte Geary. »Wollen Sie das?«

»Nein danke. Besatzungen, die ein völlig intaktes Raumschiff aufgeben, sind nicht die Energie wert, die nötig ist, um einen Höllenspeer durch ihre Rettungskapseln zu jagen.«

Er konnte verstehen, wie sich die Besatzungen der Bundes-Schiffe fühlen mussten. Ihre Rettungskapseln breiteten sich im Sternensystem aus und drifteten weg von den Raumschiffen, die unverändert ihrem letzten Kurs folgten. Falls nicht Crews von Sol an Bord gingen und sie stoppten, würden sie weiter und weiter fliegen, bis sie nach einer Weile im Dunkel zwischen den Sternen für immer verschwinden würden.

Aber er konnte auch nachvollziehen, wie Desjani und die Besatzung der Dauntless sich fühlten, jene abgehärteten Kriegsveteranen, die zu lange mit dem Tod an ihrer Seite unterwegs gewesen waren, als dass er ihnen noch Angst hätte einjagen können. Sie wussten, was Krieg ist, während die Bundes-Besatzungen nur Paraden und Übungen mit vorprogrammiertem, erfolgreichem Ausgang gekannt hatten. Die Dauntless war für den Einsatz im Krieg gebaut worden, die Bundes-Schiffe hatten nur wie Kriegsschiffe ausgesehen, waren aber lediglich für den Einsatz in Friedenszeiten gedacht gewesen.

Geary wandte den Blick von seinem Display ab und fragte sich, ob das jetzt tatsächlich der letzte Kampf zwischen der Allianz und dem Bund gewesen sein sollte. »Delegat Charban, richten Sie den Tänzern bitte aus, dass sie sich uns wieder anschließen sollen. Wir fliegen weiter zur Alten Erde, so wie es vorgesehen war. Senatorin Suva, Senatorin Costa, Senator Sakai, Delegatin Rione, der Kampf ist vorüber. Das Sol-Sternensystem wird nicht länger von einer Besatzungsmacht bedroht, und auch die Gefahr für die Vertreter der Allianz-Regierung ist ausgeräumt worden.« Er ergänzte das, um den Senatoren deutlich zu machen, dass auch sie als Ziel angesehen worden waren. »Wir gehen wieder auf unseren Kurs in Richtung Alte Erde.«

Die Tänzer waren bereits auf dem Weg zurück zur Dauntless, wobei ihre Schiffe auf eine Weise angeordnet waren, die für die Aliens eine Bedeutung haben mochte, für einen menschlichen Betrachter aber keinerlei Sinn ergab.

»Sie wollen auf die Oberfläche«, sagte Rione und lehnte sich auf ihrem Platz im Konferenzraum so nach hinten, als hätte sie nicht die Kraft, noch einen Augenblick länger zu stehen.

»Auf die Oberfläche«, wiederholte Geary. »Die Tänzer wollen jemanden aus ihren Reihen auf die Oberfläche der alten Erde schicken.«

»Ja. Die Behörden des Sol-Sternensystems sagen dazu, dass sie darüber erst diskutieren müssen. Deshalb haben sie uns gebeten abzuwarten. Die Regierung allerdings, die den Teil der Alten Erde kontrolliert, in dem Kansas liegt, hat bereits eine Einladung ausgesprochen. Sie brennen darauf, der Ort zu sein, an dem Tänzer zum ersten Mal den Boden der Alten Erde betreten.« Rione betrachtete das Bild der Alten Erde, die sich über dem Konferenztisch langsam in der Luft drehte. Die Dauntless und die Schiffe der Tänzer waren in einen Orbit um den sagenumwobenen Planeten eingeschwenkt, unter sich sahen sie weiße Wolken, blaue Ozeane und weitläufige Kontinente. Solche Bilder kannte jeder Mensch, aber es gab relativ wenige lebende Menschen, die von sich behaupten konnten, nicht nur die Bilder, sondern das Motiv selbst zu kennen. Ein paar Lichter konnte man in den Bereichen dieser Kugel erkennen, in denen es Nacht war, doch das war normal. Licht, das nach außen und oben strahlte, diente keinem Zweck, sondern war nichts weiter als Vergeudung. Wichtiger waren die Bilder, die das ganze Spektrum abdeckten und dadurch Städte in einer Ausdehnung und Dichte zeigten, die vielen einen Schock bereitete, die von Welten stammten, auf denen sich die Menschen erst viel später niedergelassen hatten.

In vielen dieser Städte gab es aber auch tote Gebiete, die im Krieg zerstört und danach nicht mehr wiederaufgebaut worden waren. In anderen Fällen handelte es sich um vormals dicht besiedelte Regionen, die in den schlechten Zeiten nach der höchsten Bevölkerungsdichte verlassen worden waren. Die Zahl der Menschen, die auf der Erde lebten, war immer noch beeindruckend groß, aber jetzt befand sie sich auf einem Niveau, das auf lange Sicht gehalten werden konnte.

An manchen Stellen waren antike Städte entlang der Küsten von Deichen und Schutzwällen umgeben, um das Wasser zurückzuhalten, dessen Pegel im Lauf der Zeit gestiegen sein musste. Weniger bedeutsame Städte waren nur noch anhand von schief stehenden, baufälligen Türmen auszumachen, die aus dem Wasser ragten, das alle flacheren Gebäude in ihrem Umkreis überschwemmt hatte.

»Das ist erstaunlich, nicht wahr?«, sagte Senatorin Suva. »Sie haben so viel überlebt. Die Narben sind noch da, aber die Menschen auf der Alten Erde richten ihre Welt langsam wieder her.«

Geary nickte. »Jemand hat mir vor Kurzem erzählt, dass wir gelernt hatten, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu leben. Aber ich glaube, so ganz stimmt das nicht. Die Hoffnung hat hier immer gelebt. Die Alte Erde hat alle schlechten Zeiten überstanden, und dabei ist es ihr auch noch gelungen, die ersten Kolonisten zu anderen Sternen zu schicken. Diese Kolonien brachten neue Kolonien hervor, bis sich die Menschheit über Hunderte von Sternensystemen ausgebreitet hat.«

»Die Alte Erde«, merkte Charban lächelnd an, »gilt nicht nur als die Heimat, sondern auch als Beispiel dafür, dass überall dort, wo das Leben ist und unsere Entschlossenheit nicht versagt, der Sieg oder zumindest das Überleben möglich ist.«

»Aber womöglich muss man einen hohen Preis dafür zahlen«, ergänzte Rione.

»Apropos Sieg«, warf Senatorin Costa mit spitzer Zunge ein. »Sie werden sich zweifellos freuen zu hören, Admiral, dass die Menschen im Sol-Sternensystem geteilter Meinung sind, was ihre Befreiung von der Besatzungsmacht des Bundes angeht.« Jetzt, da die Schlacht geschlagen und die Bedrohung durch die Bundes-Kriegsschiffe ausgeräumt war, hatte Costa die Auseinandersetzung in vollem Umfang akzeptiert, ohne dass ihr auch nur eine Spur ihrer vorangegangenen Vorbehalte anzumerken war. »Sie sind froh, dass wir sie von den Besatzern befreit haben, aber der Kampf an sich gefällt ihnen genauso wenig wie unsere anhaltende Anwesenheit.«

»Was haben sie dazu gesagt, dass Sie und die anderen Vertreter der Allianz-Regierung ebenfalls bedroht wurden?«, wollte Geary wissen.

Costas Lächeln nahm einen zynischen Zug an. »Keine Reaktion darauf. Keine Neugier, keine Fragen. Rein gar nichts. Das Ganze ist auffällig genug, um die Frage in den Raum zu stellen, ob nicht jemand hier im Sol-System in die Angelegenheit verstrickt ist.«

»Wir werden alle Kontakte herstellen, die uns möglich sind, und vielleicht erfahren wir ja mehr über die Hintergründe«, sagte Senator Sakai. »Admiral, wir haben unter dem Aspekt der Tourismusbestimmungen des Sol-Sternensystems eine Einigung in der Form erzielen können, dass es jedem Crewmitglied der Dauntless erlaubt wird, die Oberfläche zu besuchen; jeweils ein Drittel der Crew für einen Tag an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Die Alte Erde wird Shuttles hochschicken und die Besatzungsmitglieder zu verschiedenen Städten bringen. Die Vorfahren unserer Besatzung stammen aus den unterschiedlichsten Regionen der Alten Erde, und die Bewohner wollen versuchen, den Wünschen unserer Leute möglichst nachzukommen und sie an die Orte zu bringen, die ihnen am meisten bedeuten. Die Allianz-Regierung wird die Kosten für diese Shuttleflüge übernehmen.«

»Sol hat nicht angeboten, für die Kosten aufzukommen?«, fragte Geary.

»Das hätte eine gesonderte Diskussion und die Beachtung spezieller Abläufe erforderlich gemacht«, erwiderte Sakai. »Ich ging davon aus, dass wir nicht Jahrzehnte darauf warten wollen, bis sie sich entschieden haben. Es gibt noch eine andere Sache, die wir besprechen müssen. Die Behörden dieser Region Kansas, die die Tänzer aufsuchen möchten, wollen wissen, ob die Tänzer den Ort genauer eingrenzen können, da Kansas einen großen Teil des Kontinents einnimmt.«

Charban tippte auf eine Taste, dann erschien ein Bild, das sich aus den kantigen Buchstaben zusammensetzte. »Die Tänzer haben mir das geschickt, als wir in den Orbit eingeschwenkt sind. Mehr von diesem alten Text, in dem Kansas vermerkt ist. Diese Buchstaben ergeben ein Wort, das wohl Lie-ons oder Lei-ons ausgesprochen werden dürfte.«

»Wir schicken das runter an die Behörde«, sagte Sakai. »Vielleicht können sie uns ja verraten, wo das ist.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür erhalten, wieso sich die Menschheit in diesem galaktischen Arm so weit nach innen ausgebreitet hat und so wenig nach außen?«, hakte Geary nach. Diese Frage brannte ihm auf den Nägeln, seit er auf diese Tatsache aufmerksam gemacht worden war.

Hatte Sakais Lächeln eine finstere Note? Es war schwer zu sagen, und das galt auch für seine Stimme, in der womöglich ein düsterer Unterton mitschwang. »Dafür sorgten die ersten äußeren Kolonien. Die Kolonisten waren besessen von ihrem eigenen Profit und ihrer eigenen Sicherheit. Sie waren in Sorge, dass von nachfolgenden Kolonien potenzielle Bedrohungen und wirtschaftliche Konkurrenz ausgehen könnten. Also sorgten sie dafür, dass jede Bewegung in ihrem Sternensystem streng überwacht wurde, außerdem schufen sie Barrieren, um die weitere Erforschung und Besiedlung zu verhindern. Da die Sprungtechnologie es erforderlich machte, dass man ihre Systeme durchquerte, um in dahintergelegene Systeme springen zu können, konnten sie erfolgreich jede Bedrohung ihrer Sicherheit vereiteln, indem sie alle Neuankömmlinge daran hinderten, in die hinter ihnen gelegenen Systeme zu gelangen. So wurden aus ihnen die isolierten, vergessenen und hinterwäldlerischen Verwandten der übrigen Menschheit.«

»Also hatten sie gewonnen?«, gab Geary sarkastisch zurück.

»Das haben sie jedenfalls gedacht«, antwortete Charban.

Geary verließ die Shuttlerampe und fühlte den Boden der Alten Erde unter seinen Füßen. Das letzte Mal, dass ich tatsächlich auf einem Planeten gestanden habe, war auf Kosatka, als ich zusammen mit Tanya dort war. Davor … Das ist hundert Jahre her, auch wenn es mir nicht so lange vorkommt. Und jetzt sind Tanya und ich hier. Auf der Heimat. Auf der Welt aller Vorfahren. Wo alle Menschen herkommen.

Wegen der grellen Sonne am Himmel und aufgrund eines heftigen kalten Windes, der ihm Staub und Dreck ins Gesicht wehte, musste Geary die Augen zusammenkneifen. Er blickte sich um.

Ausgedörrter Dreck hatte sich zu kleinen Dünen und Verwehungen geformt. In der Nähe ragte ein ramponierter Turm aus dunklem Stein in die Höhe, der sich aus den Überresten eines großen Bauwerks erhob. Eingeworfene Fenster ohne Glas starrten wie tote Augen in die Umgebung. Das Shuttle hatte auf einem freien Gelände aufgesetzt, das sich um das Bauwerk herumzog. Beim Landeanflug auf dieses Gebiet hatte er gesehen, dass die unbebaute Fläche ein großes Quadrat rings um das ausladende Bauwerk bildete. Vereinzelt waren unter dem umherwehenden Staub große flache Betonplatten zu erkennen, die wohl die Überreste von Zufahrtsstraßen darstellten.

Rings um das freie Quadrat fanden sich ein paar dunkle Steinruinen, zum Teil aber auch nur noch flache Steinhaufen, die den vormaligen Standort kleinerer Gebäude kennzeichneten. Diese Steinhaufen lagen in einer schnurgeraden Linie und markierten so den Verlauf der antiken Straßen. Hier hatten überall Gebäude gestanden, aber jahrhundertelange Vernachlässigung hatte letztlich ihren Preis gefordert, zumal Zeit und Wetter permanent damit beschäftigt waren, an den Werken der Menschheit zu nagen.

Er ging einige Meter weiter, dabei stellte er erstaunt fest, dass der Betonboden in eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Straße überging. Der Straßenbelag war noch intakt, auch wenn viele der Steine Risse aufwiesen. Dieser Bereich musste lange Zeit von Staub und Schmutz bedeckt gewesen und erst vor Kurzem vom unerbittlichen Wind freigelegt worden sein.

Ein paar verkümmerte Bäume wuchsen inmitten der Grasbüschel, die wie kleine grüne Oasen in einer endlosen Landschaft aus Staubdünen wirkten. Hier und da lagen teilweise zugewehte alte Baumstämme, die einen Hinweis darauf gaben, wie fruchtbar dieses Land einmal gewesen sein musste.

Tanya stellte sich zu ihm und schaute sich interessiert um. »Hier wollten die Tänzer hin? Ich habe schon bombardierte Welten gesehen, die sich in besserer Verfassung befanden.«

»Es muss einmal eine hübsche Stadt gewesen sein«, merkte Geary an. »Ich sehe keinen Hinweis auf Zerstörungen. Man scheint sie einfach aufgegeben zu haben.« Er deutete auf verschiedene Gebäude. »Man kann immer noch feststellen, wo Reparaturen vorgenommen worden sind. Einige Leute müssen hier ausgeharrt haben, solange es nur irgendwie ging, während sich die Gegend allmählich in eine Wüste verwandelte.«

Ein Atmosphärenflugzeug war ganz in der Nähe gelandet, die Passagiere verließen die Maschine und begaben sich nach draußen in die Einöde. »Die Erde hat neben anderen Katastrophen auch Orbitalbombardierungen über sich ergehen lassen müssen«, sagte eine der Frauen mit trauriger Miene. »Hier stand früher die Stadt Lyons, Kansas. Wie so viele Städte auf dieser Welt konnte auch sie die Veränderungen nicht überleben, die durch den Klimawandel, durch Kriege und viele andere Faktoren auf die Alte Erde einwirkten. Hier und anderswo gab es zahlreiche Menschen, die die Städte am Leben zu erhalten versuchten, aber auf längere Sicht haben deren Anstrengungen nicht ausgereicht. Hier sehen Sie, was wegen der Dummheit vieler Menschen aus den Träumen mancher anderer wurde.«

»Orte wie dieser bleiben unberührt, hier spielen sich nur noch natürliche Prozesse ab«, ergänzte ein Mann von der Erde. »Sie dienen als Mahnmal, als Monument.«

»Als würde man auf einem Friedhof leben«, flüsterte Desjani Geary zu.

Eine andere Frau trat lächelnd vor, kniete sich hin und berührte ein paar leuchtend grüne Grashalme, die an der Seite eines kleinen Hügels wuchsen. »Es ist uns endlich gelungen, den Prozess umzukehren, der dieses Gebiet so sehr hat austrocknen lassen. Es war schwierig, alle Beteiligten auf dieser Welt zu einer Vereinbarung zu bewegen, aber es sind die ersten Schritte in die Wege geleitet worden, um den Planeten langsam wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Damit sollen die Schocks für die Umwelt vermieden werden, die wir ihr früher zugefügt haben. Der Regen kehrt zurück, mit ihm werden Bäche, Flüsse und Bäume wiederkehren, dann die Bäume und die Tiere, die hier gelebt haben. Und irgendwann werden auch die Menschen wieder herkommen, die dann vielleicht neue Häuser errichten und diese Stadt wiederaufbauen werden.« Bei diesen Worten warf sie dem Mann einen energischen Blick zu, der davon gesprochen hatte, Orte wie diesen unberührt zu lassen. »Dies ist eine lebende Welt, kein Museum.«

»Wir sollten darüber nicht vor anderen Leuten streiten«, erwiderte der nun verärgert dreinblickende Mann.

»Wenn sie nicht all unsere Fehler wiederholen sollen, müssen sie alles über diese Fehler wissen und darüber, wie wir mit ihnen umgehen.« Die zweite Frau straffte ihre Schultern und klopfte den Staub von ihrer Hose. »Aber nach allem zu urteilen, was mir zu Ohren gekommen ist, wurden auf den Welten unserer Kinder auch viele Fehler gemacht. Ist der unendliche Krieg zwischen der Allianz und den Syndikatwelten tatsächlich vorüber?«

»Ja«, antwortete Geary und fügte im Geiste ein »größtenteils« hinzu. »Wenn ich das hier sehe, dann wird mir erst richtig klar, wie viele Menschen auf der Alten Erde tatsächlich gestorben sind. Da frage ich mich, wie wir es geschafft haben, lange genug zu überleben, um zu anderen Sternen zu reisen.«

»Überlebt, nur um die gleichen Dummheiten erneut zu begehen«, ergänzte Senatorin Suva und betrachtete mit trauriger Miene ihre Umgebung.

»Ich bin davon überzeugt, dass wir in der Lage wären, diese Dummheiten ebenso zu erkennen wie diejenigen, die sie begangen haben«, fügte Senatorin Costa in spitzem Tonfall an und warf Suva einen vielsagenden Blick zu.

»Oh ja, davon bin ich auch überzeugt«, konterte Suva und sah Costa verächtlich an.

»Uns mögen ja die Antworten fehlen«, meldete sich Rione zu Wort, als würde sie nur allgemein etwas anmerken, ohne jemanden besonders anzusprechen, »aber immerhin haben wir ja unsere Überzeugungen, nicht wahr?«

»Müssen wir unsere Streitigkeiten eigentlich wirklich hier an diesem Ort austragen?«, fragte Dr. Nasr, bevor Suva und Costa auf Rione oder erneut aufeinander losgehen konnten. »Ihre und meine Vorfahren haben womöglich hier gelebt, und vielleicht haben sie irgendwann in ihrem Leben an genau dieser Stelle gestanden. Verdient diese Erinnerung nicht unseren Respekt? Oder sind Ihre Meinungsverschiedenheiten tatsächlich bedeutender?«

Geary sah sich um und stellte fest, dass Senator Sakai und Charban ebenfalls nach draußen gekommen waren. »Was sagen Sie dazu?«, fragte er sie.

»Die Heimat sieht ein wenig heruntergekommen aus, nicht wahr?«, erwiderte Charban.

»Wir hatten Glück«, sagte die Frau von der Erde, die als Erste gesprochen hatte. »Die Lektionen, die wir lernen mussten, und die Technologie, die von uns entwickelt wurde, um den Mars bewohnbar zu machen, spielten eine wichtige Rolle, um dieser Welt zu helfen, damit sie sich von den Schäden erholen konnte, die wir ihr zugefügt hatten. Und die Erkenntnisse über eine funktionierende Ökologie, die wir gewannen, als wir Raumschiffe bauten, die über Generationen hinweg durchs All flogen, um hundert Jahre später ferne Sterne zu erreichen, waren für uns von großem Nutzen bei der Wiederherstellung der Ökologie auf der Erde.«

»Schon ironisch, nicht wahr?«, fügte einer aus ihrer Gruppe an. »Erst als wir in der Lage waren, die Erde zu verlassen, kamen wir dahinter, wie wir unsere Heimat retten können. Sie sollten mitkommen an andere Orte, um unsere Wälder und unsere Städte zu sehen. Nicht überall auf der Heimat sieht es so aus wie hier, und selbst diese Narben der Vergangenheit werden bald wieder von neuem Leben bedeckt werden.«

»Eine lebendige Welt«, stimmte die Frau nachdrücklich zu und warf erneut dem Mann einen trotzigen Blick zu, der davon gesprochen hatte, besser alles unberührt zu lassen. »Eine erschöpfte Welt, aber immer noch lebendig. Und nicht alle Menschen hier sind müde und erschöpft. Aber die Rastlosen brechen oft zu anderen Welten auf. Die Sterne sind für uns ein wichtiges Sicherheitsventil.«

Wie schön für euch, dachte Geary. Und wir dürfen uns mit diesen Rastlosen herumschlagen, die dann tun, was sie wollen, sobald sie erst mal die Sterne erreicht haben.

Ihm fiel auf, dass keiner aus der Gruppe mit einem Wort auf den Kampf mit den Bundes-Kriegsschiffen und deren Angriff auf ein Kriegsschiff der Allianz zu sprechen gekommen war. Es war offensichtlich, dass sie dieses Thema mieden.

Jede weitere Unterhaltung wurde in diesem Moment aber ohnehin unmöglich gemacht, da ein Shuttle der Tänzer zur Landung ansetzte. Das glatte eiförmige Raumfahrzeug landete gleich neben dem Allianz-Shuttle auf der alten Straße. Alle sahen sie zu dem Fahrzeug, das den Boden nur an einer einzigen Stelle berührte und an eine Ballerina erinnerte, die auf einer Fußspitze balancierte.

Gearys Nacken kribbelte leicht, und als er sich umdrehte, sah er, wie Dr. Nasri zustimmend nickte.

»Die Leute hier haben einen Isolationsschirm rings um dieses Gebiet errichtet«, erklärte Nasr. »Sie haben ihn als Vorsichtsmaßnahme gegen mögliche Verseuchungen aktiviert.«

»Was wird jetzt geschehen?«, fragte die erste Frau.

»Das ist jetzt der Auftritt der Tänzer«, erwiderte Rione. »Wir können nur abwarten und zusehen, was sie tun werden.«

Eine kreisförmige Öffnung entstand an der einen Seite des Shuttles. Sie begann als winziger Punkt und weitete sich aus, dann fuhr eine Rampe heraus und setzte auf dem Boden auf.

»Ist das früher schon passiert?«, fragte jemand aus der Gruppe von der Alten Erde. »Und wie oft? Oder betritt jetzt zum ersten Mal eine nichtmenschliche Intelligenz die Heimat der Menschheit?«

»Sie haben sich einen sonderbaren Platz dafür ausgedacht«, grummelte Senatorin Costa.

»Von allen Orten auf der ganzen Erde haben sie sich unser Land auserkoren«, erklärte eine der Frauen voller Stolz.

»Aber warum ist das diesen Aliens so wichtig?«, wollte der erste Mann wissen.

»Die Tänzer haben immer ihre eigenen Gründe für ihr Verhalten«, sagte Charban. »Selbst wenn diese Gründe für uns nicht immer einen Sinn ergeben. Da. Ich sehe, wie sich im Shuttle etwas bewegt.«

Zwei Tänzer betraten die Rampe. Sie trugen Schutzkleidung, die dazu beitrug, dass ihr für menschliche Gewohnheiten abscheuliches Erscheinungsbild nicht so offensichtlich war.

Als hätte sich eine riesige Spinne mit einem Wolf gepaart, so beschrieben die meisten die Tänzer. Dies war das erste Mal, dass Geary einen von ihnen persönlich zu sehen bekam. Er war ihnen für den Schutzanzug wirklich dankbar, auch wenn er sich für seine eigene Reaktion schämte.

Die Tänzer trugen etwas in ihrer Mitte, während sie sich auffällig langsam bewegten. Es handelte sich um einen länglichen Behälter aus einer durchsichtigen Substanz, ungefähr zwei Meter lang und je einen Meter breit und hoch.

Darin befand sich …

»Bei den Vorfahren!«, keuchte Senatorin Suva. »Ein Mensch?«

Dr. Nasr ging zu dem Behältnis, das von den Tänzern langsam und behutsam auf dem Boden abgelegt wurde. Er betrachtete den Menschen darin, dann zog er ein Instrument von seinem Gürtel, hielt es über das Behältnis und betrachtete die Anzeigen. »Ein Mensch, der vor sehr langer Zeit verstorben ist. Der Körper ist so in diesem Behälter aufbewahrt worden, dass er durch natürliche Mumifizierung erhalten geblieben ist. Der Körper steckt in einer Art Schutzanzug. Es gibt keine Anzeichen für äußere Gewalteinwirkung. Wie er gestorben ist, kann ich so nicht sagen, aber auf jeden Fall hat ihn niemand brutal getötet.«

Ein weiterer Tänzer kam dazu und hielt ihm einen wesentlich kleineren Behälter hin, der im Gegensatz zu dem ersten nicht transparent war.

Dr. Nasr nahm die Schachtel entgegen und deutete eine respektvolle Verbeugung an, dann öffnete er sie, griff hinein und holte ein paar kleine Gegenstände heraus. »Weiß jemand, was das darstellt?«

Einer der Erdrepräsentanten trat vor und nahm eines der Objekte behutsam an sich. »Alte Datenspeichermedien. Selbst wenn sie geschützt aufbewahrt worden sind, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die darauf enthaltenen Daten noch gelesen werden können. Aber vielleicht können wir noch irgendwelche Bruchstücke retten.«

»Und das?« Dr. Nasr hielt einen metallenen Anstecker hoch, der im Sonnenschein farbenprächtig funkelte.

Weitere Personen aus der Gruppe von der Erde traten vor und musterten den Anstecker, dann hielt einer von ihnen ihn Geary und den anderen hin. »In der alten Sprachform steht darauf Operation Long Jump geschrieben.«

»Und was für eine Operation war das?«, wollte Geary wissen, der den Anstecker ansah, aber nicht berührte, da es ihm nicht richtig erschien, ein historisches Objekt mit seinen Fingern anzufassen.

»Ich überprüfe das.« Ein anderer Erdrepräsentant tippte etwas auf einem Daten-Pad ein. »Es findet sich dazu nur wenig, weil die Geheimhaltung aus früheren Zeiten und die Zerstörung großer Datenbestände viele Informationen unwiederbringlich ausgelöscht haben. Was unsere Historiker zusammentragen konnten, besagt, dass die Operation Long Jump einer der ersten Versuche war, den Sprungraum zu benutzen, um zu anderen Sternensystemen zu gelangen. Etliche Schiffe gingen bei diesen Experimenten verloren, manche unbemannt, manche mit menschlichen Piloten. Die Erfahrungen aus den späteren Anläufen ergaben, dass in den Anfangstagen zu weit entfernte Systeme anvisiert wurden, die über die Fähigkeiten der damaligen Sprungantriebe hinausgingen.

»Sie haben den Sprungraum nie wieder verlassen«, flüsterte Desjani entsetzt. Wenn es eine Sache gab, mit der man einen Matrosen aus der Ruhe bringen konnte, dann die Vorstellung, den Sprungraum nicht mehr verlassen zu können. »Sie sind während des Sprungs gestorben. Mögen die Lebenden Sterne ihnen gnädig sein. Bis ins Gebiet der Tänzer … das wäre ein Sprung, der Jahrzehnte gedauert haben muss. Dieser Pilot muss gestorben sein, lange bevor sein Schiff endlich in den Normalraum zurückkehrte. Er kann nicht genug Wasser und Lebensmittel an Bord gehabt haben. Auch die Lebenserhaltung wird keinesfalls so lange durchgehalten haben. Ganz zu schweigen davon, dass er völlig allein im Sprungraum nach so langer Zeit ohnehin wahnsinnig geworden sein wird.«

»Wie gesagt, Anzeichen für Gewalteinwirkung gibt es nicht«, wiederholte Dr. Nasr. »Auch nicht selbst zugefügt. Vielleicht ist die Sauerstoffversorgung oder ein anderes wichtiges System ausgefallen.«

»Aber das Schiff mit diesem Piloten an Bord hat schließlich wieder den Sprungraum verlassen«, stellte Desjani klar. »Nur wie?«

»Wer weiß das schon?«, entgegnete Desjani. »Warum sollte irgendwer ein Experiment durchführen wollen, bei dem es darum geht, einen Menschen in den Sprungraum zu schleudern, wenn man nicht davon ausgehen würde, dass er irgendwo wieder auftaucht? Kein Mensch würde sich auf so etwas einlassen, wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, was einen erwartet. Und man würde auch nicht vollautomatische Schiffe für so etwas opfern.«

»Vielleicht war das Schiff zufällig weit hinter seinem eigentlichen Ziel nahe genug an einem anderen Sprungpunkt vorbeigeflogen, um in den Normalraum zurückgezogen zu werden«, überlegte Geary. »Oder aber der Sprungraum stößt früher oder später alles wieder aus, was dort nichts zu suchen hat, sobald das Objekt einer Schwerkraftquelle nahe genug kommt. Aber wer war dieser Mensch?«

»Vielleicht hilft uns das ja weiter«, sagte Dr. Nasr und hielt ein rechteckiges Metallplättchen hoch, in das winzige Buchstaben eingraviert waren.

»Die gleiche alte Form der Sprache«, stellte einer der Erdrepräsentanten fest und hielt das Plättchen ins Licht. »Schwierig zu entziffern. Da steht … ›Major … Paul Crabaugh. 954 … 457 … 9903‹. Das erste Wort muss Major heißen, dann der Name und eine ID-Nummer, wie sie damals verwendet wurde.«

»Und das hier ist das letzte Objekt aus der Schachtel«, erklärte Dr. Nasr. In seiner Hand hielt er wieder etwas Rechteckiges aus Metall, das diesmal ungefähr halb so groß war wie seine Handfläche. Eine Seite war emailliert und reflektierte das Sonnenlicht. Während der Erdrepräsentant das Objekt an sich nahm, verdrehte Geary sich den Hals, um das Motiv sehen zu können. Es zeigte eine strahlende grüne Wiese, auf der große Blumen mit leuchtend gelben Blüten wuchsen. Darüber waren kantige Buchstaben zu sehen, die Geary bekannt vorkamen.

»Das große Wort heißt Kansas«, erläuterte der Mann von der Erde. »Das kleine Wort heißt Lyons. Dieser Ort hier. Ein Andenken. Vielleicht von seiner Familie. Hergestellt, als diese Stadt noch lebendig war und hier noch solche Blumen wuchsen; so, wie sie es irgendwann wieder tun werden. Er hat das mit ins All genommen, um an seine Heimat erinnert zu werden.«

»Jetzt wissen wir, warum die Tänzer herkommen wollten«, sagte Rione. »Sie wollten ihn nach Hause bringen.«

Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Die Tänzer warteten in der Nähe der Rampe zu ihrem Shuttle. Das Pfeifen des durch die Ruinen wehenden Windes war das einzige Geräusch.

»Warum haben sie uns nicht gesagt, weshalb sie herkommen wollten?«, fragte Desjani schließlich.

»Wie hätten sie uns das erklären sollen?«, erwiderte Charban. »Offenbar fühlten sie sich verpflichtet, den Leichnam herzubringen. Hätten sie uns bei Varandal gesagt, dass sie ihn haben, dann hätten wir gewollt, dass sie ihn uns dort übergeben. Was wäre geschehen, wenn sie sich geweigert hätten, das zu tun, nur weil sie nicht in der Lage waren, uns ihre Beweggründe zu erklären?«

»Wir hätten alles gründlich missverstanden«, sagte Rione.

Dr. Nasr kniete neben dem Behältnis mit den sterblichen Überresten von Major Crabaugh. »Ich kann keinen Hinweis auf eine Autopsie oder auf andere invasive Maßnahmen entdecken. Falls sie ihn untersucht haben, muss es auf eine nichtinvasive Weise geschehen sein.«

»Sie hatten Respekt vor ihm«, sagte Costa verärgert. Als sie aber zu den anderen Menschen sah, wurde deutlich, dass ihre Verärgerung nicht den Tänzern galt. »Sie haben ihn nicht zerpflückt, haben nicht seinen Körper entehrt und ihn nicht wie ein totes Tier behandelt, das sie zufällig vor ihrer Haustür entdeckt haben. Vielmehr sind sie so mit ihm umgegangen, als ob … als ob …« Sie suchte nach den richtigen Worten.

»Als ob er einer von ihnen wäre«, führte Dr. Nasr für sie den Satz zu Ende. Er richtete sich auf, sah aber weiter den Leichnam an. »Sie wussten nicht, wer und was er war oder woher er gekommen ist. Sein Aussehen unterschied sich völlig von ihrem eigenen, vielleicht empfanden sie ihn sogar als genauso abscheulich, wie die Tänzer auf uns wirken. Aber sie betrachteten die Artefakte, die er bei sich führte, sie sahen ihn an und entdeckten ein Wesen, das ihnen ganz ähnlich sein musste. Ein Wesen, das eine respektvolle Behandlung verdient hatte. Sie achteten nicht darauf, inwieweit er sich von ihnen unterschied, stattdessen konzentrierten sie sich darauf, was dieser Mensch mit ihnen gemeinsam haben musste, und als sich die Gelegenheit ergab, da brachten sie die sorgfältig geschützten Überreste nach Hause.«

»Sie haben uns beschämt«, sagte Senatorin Suva, die kerzengerade dastand, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Sie haben uns beschämt. Wir hätten uns nicht so verhalten wie sie. Das haben wir noch nie gemacht, und auch nach Jahrhunderten angeblichen Fortschritts sehen wir immer noch nur das, was uns unterscheidet, wenn wir einander anschauen.«

»Ich lasse mich nicht von etwas beschämen, das so aussieht wie das da«, murmelte Senatorin Costa und warf Suva einen trotzigen Blick zu. »Ich bin nicht weniger wert als die. Was die können, kann ich auch.«

Nach kurzem Zögern nickte Suva. »Wir können es versuchen.«

Der neben Geary stehende Senator Sakai sagte leise: »So viele Jahre haben wir nach ihnen gesucht, nach jemandem, der uns ähnlich, aber doch ganz anders ist. Als wir sie fanden, dachten wir, wir könnten von ihnen lernen, dass sie trotz ihrer Andersartigkeit Dinge in uns entdecken würden, die wir selbst nicht sehen konnten. Wie es scheint, hatten die Philosophen recht. Aber wird dieses Wissen genügen, um die menschliche Dummheit zu überwinden?«

»Wir wissen nicht einmal, ob wir ihr Handeln richtig deuten«, sprach Geary so leise, dass nur Sakai und Desjani ihn hören konnten. »Aber ich glaube nicht, dass ich diese Möglichkeit jetzt ansprechen sollte. Vielleicht ist es am besten, wenn wir das, was wir hier zu sehen glauben, vorläufig nicht eingehender analysieren.«

Tanya fasste nach Gearys Handgelenk. »Solche Fragen übersteigen meine Besoldungsstufe. Wir haben die Tänzer hergebracht, sie konnten das tun, was sie tun wollten. Und was machen wir jetzt?«

Geary blickte zu den verfallenen Ruinen dieser Stadt, er betrachtete die sterblichen Überreste von Major Crabaugh, der endlich heimgekehrt war. Dann wanderte sein Blick über die Tänzer in ihren Schutzanzügen und über die Menschen der Allianz und von Sol. Er sah sich das Gras an, das zu sprießen begonnen hatte und das so grün leuchtete wie auf dem emaillierten Stück Metall. Die Vergangenheit lastete schwer auf der Alten Erde, aber die Lebenden blickten schon wieder in die Zukunft.

»Wir kehren heim«, sagte er. »Wenn die Crew die Heimat besucht hat, wenn unsere Senatoren ihre Gespräche mit den hiesigen Behörden abgeschlossen haben und alle Zeremonien beendet sind, dann kehren wir zu uns nach Hause zurück. Auf uns wartet noch viel Arbeit.«

Загрузка...