Zwölf

Bei Padronis gab es so gut wie nichts.

Die Flotte verließ den Sprungraum und war auf alle Überraschungen und Bedrohungen gefasst, aber im Sternensystem hielten sich nur zwei Schiffe auf.

Unter normalen Umständen wäre sogar das überraschend gewesen, denn der Weiße Zwerg konnte weder einen Planeten noch einen Asteroiden in seinem Orbit vorweisen. Weiße Zwerge sammelten nach und nach Helium in ihrer äußeren Hülle an und wurden in großen zeitlichen Abständen zur Nova. Falls irgendwann einmal ein natürliches Objekt seine Bahnen um Padronis gezogen hatte, war dieses Objekt längst weggeschleudert worden, lange bevor die Menschen zum ersten Mal diese Region des Weltalls erreicht hatten.

Der vormals zu den Syndiks gehörende Leichte Kreuzer, dessen Crew eine Meuterei angezettelt hatte, bewegte sich zügig auf den Sprungpunkt nach Heradao zu und war bereits weit von der Stelle entfernt, an der Gearys Kriegsschiffe soeben ins System gekommen waren.

Die verlassene Syndik-Station, die sie schon beim letzten Transit durch Padronis gesehen hatten, existierte noch immer und zog einsam ihre Bahnen um den Stern, von dem sie eines Tages in Stücke gerissen werden sollte. An dieser Station befand sich das zweite Schiff, ein Frachter, der dort angedockt hatte. Die Station war vor über hundert Jahren von den Syndiks gebaut worden und hatte als Anlaufstelle für Schiffe gedient, die das System benutzten, um von einem Sprungpunkt zum nächsten zu gelangen. Mit dem Aufkommen des Hypernets war die Station überflüssig geworden, also hatte man sie geschlossen und in diesem System zurückgelassen, da ein Abtransport mehr gekostet hätte, als die Station überhaupt noch wert war.

»Was macht der Frachter denn da?«, fragte Geary. Außer dem Frachter und der Station war im System nichts zu entdecken, obwohl die Flottensensoren selbst nach winzigsten Anomalien Ausschau hielten. »Stellen Sie sicher, dass die Geräuschfilter nicht irgendwas Ungewöhnliches schlucken, das von den Sensoren aufgefangen wird. Ich will, dass auch der Schrott gründlich untersucht wird, der nur nach Schrott aussieht.«

»Da ist wirklich gar nichts«, erwiderte Desjani kopfschüttelnd. »Und dieser Frachter ist drei Stunden von uns entfernt, also stellt er keine Bedrohung dar.«

»Captain«, meldete Lieutenant Castries. »Wir beobachten, dass Material in den Frachter geladen wird.«

»Material?«

Im gleichen Moment ging eine Mitteilung von der Tanuki ein, die zwar nicht als dringlich gekennzeichnet war, die Geary dennoch sofort annahm, da er sonst nicht viel zu tun hatte. »Was gibt’s denn, Captain Smythe?«

Der verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln. »Dieser Frachter da, er plündert die Station.«

»Er plündert sie? Ganz sicher?«

»Es wäre zwar nicht auszuschließen, dass die Syndiks das Schiff gechartert haben, damit das hier Material abholt, das woanders benötigt wird, aber so was ist höchst unwahrscheinlich. Nachdem die Regierung der Syndikatwelten hier nur noch wenig zu sagen hat und sich mit Wichtigerem beschäftigen muss, ist dieser Frachter hergekommen, um die eingemottete Station zu plündern und alles mitzunehmen, was sich irgendwo zu Geld machen lässt, und wenn es nur als Altmetall ist.«

Geary betrachtete einen Moment lang das Bild des Frachters. Sein Instinkt forderte von ihm, irgendwas zu unternehmen – aber was? »Auch wenn man diese Station eingemottet hat, dürften sich immer noch Vorräte und Ausrüstungsgegenstände dort befinden, die für Schiffe überlebenswichtig sein könnten, die mit einem schweren technischen Problem nach Padronis kommen.«

»Richtig«, stimmte Smythe ihm zu. »Aber den Plünderern ist das egal. Denen geht es nur darum, Geld zu machen, auch wenn das für das nächste Schiff eine Tragödie bedeuten kann. So was kommt dabei heraus, wenn eine zentrale Verwaltung zusammenbricht, Admiral. Die Reichen und Mächtigen können immer noch gut auf sich selbst aufpassen. Es sind die Hilfsbedürftigen, die am meisten darunter leiden. So wie fast immer.«

»Danke, Captain Smythe. Das heißt wohl, wir können gar nichts dagegen unternehmen.«

»Nein. Wir könnten zwar diese Plünderer verjagen, aber sobald wir weg sind, werden die nächsten hier aufkreuzen und da weitermachen, wo die anderen aufgehört haben.« Smythe beendete das Gespräch mit einem resignierten Schulterzucken.

»Admiral«, sagte Desjani. »Sehen Sie sich die Tänzer an.«

Er schaute auf sein Display. Bei Sobek hatten die Tänzer versucht, die Flotte vor einer Gefahr zu warnen, bei Simur waren sie dann dicht bei der Invincible geblieben, was wohl mit der Bedrohung durch die Syndiks zu tun gehabt hatte.

Hier dagegen verließen die Tänzer die Enge der Allianz-Formation und zogen auf eine Weise ihre Bahnen durch das System, die Geary an freudige Erleichterung erinnerte. »Sie sehen so aus, als würden sie sich hier sicher fühlen.«

»Ich aber nicht«, gab Desjani zu. »Ich muss immer noch daran denken, was sich hier bei unserem letzten Besuch ereignet hatte.« Der Staub, der alles war, was noch von der Lorica und ihrer Crew übrig war, trieb noch immer um diesen Stern – ein Schicksal, von dem beinahe auch die Dauntless heimgesucht worden wäre. »Können wir nach Hause fliegen?«

»Ja, auf jeden Fall. Nehmen Sie direkten Kurs auf den Sprungpunkt nach Atalia.«

Atalia war ein lebendiges Sternensystem, das aber durch seine Lage in vorderster Front zur Allianz während des langwierigen Kriegs schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Flotte verließ wie üblich auf alles gefasst den Sprungraum, auch wenn Geary eigentlich nicht mit irgendwelchen Schwierigkeiten rechnete. Das System lag zu dicht am Allianz-Gebiet, und es hatte sich bereits von den Syndikatwelten abgewandt und seine Unabhängigkeit erklärt. Für die Syndiks hätte es große Mühen bedeutet, ihnen hier eine Falle zu stellen.

Umso überraschter waren alle, als beim Verlassen des Sprungraums die Gefechtssysteme Alarm auslösten.

»Syndiks!«, rief Desjani und sah Geary entgeistert an. »Zwei Schwere Kreuzer nahe dem Sprungpunkt nach Kalixa und vier Leichte Kreuzer sowie sechs Jäger am Sprungpunkt nach Varandal. Die Syndiks müssen dieses System wieder eingenommen haben. Ist es nicht unser gutes Recht, sie wieder von hier zu verscheuchen?«

»Könnte sein.« Nach allem, was sie in der letzten Zeit durchgemacht hatten, war der Gedanke sehr verlockend, die Syndiks mit einem Tritt in den Hintern aus Atalia zu vertreiben, auch wenn die rechtliche Grundlage dafür eher fraglich war. »Wie seltsam. Das Kurierschiff ist noch hier, und es hält sich in der Nähe der Leichten Kreuzer und der Jäger auf.«

Aus einem unerfindlichen Grund kreiste das Kurierschiff der Allianz unverändert um den Sprungpunkt nach Varandal. Dieses Schiff stellte das halbherzige Bemühen der Allianz dar, die Zusage einzuhalten, dass man Atalia im Auge behalten wollte. Dabei konnte das Schiff zu keinem Zeitpunkt ernsthaft zur Verteidigung des Systems beitragen, falls die Syndikatwelten versuchen würden, dieses Sternensystem wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Und genau das war jetzt offenbar geschehen – aber warum war das Allianz-Schiff nicht sofort heimgekehrt? Selbst wenn die Syndiks keine Drohung ausgesprochen hatten, wäre es doch nötig gewesen, in Varandal über die aktuellen Ereignisse zu berichten.

Bevor Desjani etwas erwidern konnte, tauchten auf ihren Displays die Identifizierungscodes der Schiffe auf. »Diese Syndik-Schiffe sind unserem System bekannt?«, fragte sie verständnislos.

»Das sind gar keine Syndik-Schiffe?«, wunderte sich Geary, als die Farben auf dem Display wechselten. »Die sind … aus Midway? Aber die hatten doch gar keine … Die Manticore? Die Kraken? Diese Schweren Kreuzer waren doch noch in Midway, als wir das System verlassen haben.«

Desjanis Miene war wie versteinert. »Die können nur vor uns hier eingetroffen sein, wenn sie das Hypernet benutzt haben, um beispielsweise bis nach Indras zu reisen. Die Syndiks haben es irgendwie geschafft, unseren Zugang zum Hypernet vorübergehend zu blockieren, und bei Midway war man eingeweiht.«

»Nicht so schnell.« Geary nahm sich einen Moment Zeit, um über die Situation nachzudenken, die sich als so vollkommen unerwartet gestaltete, dass er sich restlos überrumpelt fühlte. »Wenn sie vom Trick der Syndiks gewusst hätten, warum sollen sie es uns dann wissen lassen, indem sie uns hier in Empfang nehmen? Sie können nicht davon ausgegangen sein, dass die gesamte oder zumindest der größte Teil der Flotte zerstört wird, selbst wenn jede Falle ihre volle Wirkung entfaltet hätte. Wir nehmen Kurs auf den Sprungpunkt nach Varandal, und in der Zeit können sie uns ja erklären, wieso sie hier sind.«

Als die Erklärung dann endlich eintraf, sahen sie auf ihrem Display Kommodor Marphissa, die sie freundlich anschaute. »Wenn ihre Wiedersehensfreude nur gespielt ist, dann macht sie das sehr gut«, merkte Rione an.

»Admiral Geary«, sagte Marphissa. »Wir freuen uns, Sie wiederzusehen. Zwei Tage nach Ihrer Abreise aus Midway konnten wir den Zugriff auf alle Hypernet-Portale wiederherstellen. Die Syndikatwelten müssen einen Weg gefunden haben, wie sich fast das ganze Hypernet wenigstens vorübergehend abschalten lässt. Wir lassen derzeit nichts unversucht, um herauszufinden, wie sie das angestellt haben, bislang leider ohne Erfolg. Wir sind auf Anraten von Captain Bradamont hier, die uns von gefangen genommenen Überlebenden der Reserveflotte bei Varandal erzählt hat. Diese Überlebenden könnten wir gut als Besatzung für unsere eigenen Kriegsschiffe gebrauchen, daher hat Präsidentin Iceni diese Mission genehmigt. Sechs Frachter sind in Begleitung von Captain Bradamont nach Varandal geflogen. Sie hat uns versichert, dass Admiral Timbale während Ihrer Abwesenheit in Ihrem Sinn entscheiden werde. Dennoch sind wir um sie und um unsere Schiffe besorgt, und es freut uns umso mehr, dass Sie ebenfalls bald Varandal erreichen werden. Wenn die Kriegsschiffe der Flotte des unabhängigen Midway-Sternensystems Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein können, lassen Sie es uns bitte wissen. Marphissa, für das Volk. Ende.«

Sekundenlang brachte niemand einen Ton heraus, schließlich zuckte Rione mit den Schultern. »Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Was glauben Sie, was passiert ist, als Captain Bradamont mit diesen Frachtern bei Varandal aufgetaucht ist?«

»Ich hoffe, man hat sie diese Syndik-Gefangenen abholen lassen«, sagte Geary. »Und ich hoffe, meine Befehle genügen, um ihr die nötige Befugnis für diese Aktion zu geben.«

»Diese Kommodor schien es ernst zu meinen, als sie ihre Sorge um Captain Bradamont äußerte«, merkte Rione an.

»Syndiks sind gute Lügner«, warf Desjani ein. »Und wahrscheinlich war sie in Wahrheit nur um ihre Frachter besorgt. Ich weiß, ich weiß«, fügte sie hinzu, als Geary ihr einen vielsagenden Blick zuwarf. »Das sind keine Syndiks mehr. Na, auf jeden Fall dürfen wir uns doch freuen, wenn sie uns Gefangene abnehmen, die für uns nur Ballast darstellen, nicht wahr?«

»Ja, genau«, stimmte Geary ihr zu. »Und wenn diese Schiffe von Midway nur darauf warten, ihre Frachter in Empfang zu nehmen, dann haben wir mit ihnen nichts zu schaffen. Und eine Bedrohung für Atalia stellen sie auch nicht dar.«

»Sie stellen vielmehr eine Verstärkung der Verteidigung von Atalia dar«, betonte Rione.

Geary schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas mal zu sehen bekommen würde.« Er tippte auf seine Komm-Kontrolle. »Kommodor Marphissa, Sie sollten wissen, dass die Syndikatwelten bei Sobek und Simur Anschläge auf uns verübt haben, die sie aber leugnen können. Wir würden uns über alle Informationen freuen, die Sie über die teilweise Stilllegung des Hypernets in Erfahrung bringen können. Wir fliegen jetzt weiter zum Sprungpunkt nach Varandal. In Varandal angekommen, werden wir, sofern Captain Bradamont sich dort noch mit Ihren Schiffen aufhält, alles Erforderliche tun, um für eine sichere Abreise zu sorgen. Es … es ist schön, Sie wiederzusehen. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«

»Musste diese Bemerkung unbedingt sein?«, murrte Desjani.

Die Behörden bei Atalia erwiesen sich mehr als nur freundlich und entgegenkommend. Sie überschlugen sich fast damit, dem großen Black Jack alles zu geben, was er haben wollte (sofern sie selbst darüber verfügten), sie dankten auch verhalten für den Schutz, den die Midway-Flotte ihnen gewährte (und spielten indirekt darauf an, wie schön es doch wäre, wenn die Allianz eine ähnliche Geste machen würde), und gleichzeitig beklagten sie sich darüber, dass die Midway-Schiffe seit ihrer Ankunft die Sprungpunkte nach Kalixa und Indras blockierten. Und ganz nebenbei kam noch die Frage auf, was denn das für sechs rätselhafte Schiffe waren, deren Aussehen an nichts von Menschenhand Erbautes erinnerte. Und woher denn dieses ebenfalls sonderbar aussehende Superschlachtschiff komme. Geary ließ Rione höflich, aber bestimmt alle Anfragen ablehnen und Antworten liefern, die bei genauer Betrachtung keine echten Informationen darüber enthielten, wo die Flotte gewesen war.

Die kleine Besatzung des Kurierschiffs war ebenfalls von unbändiger Neugier erfasst worden. Sie bestätigte, dass vor einigen Tagen sechs Frachter zusammen mit den Midway-Streitkräften eingetroffen waren und sich gleich darauf auf den Weg nach Varandal gemacht hatten. Da er wusste, wie eintönig und undankbar der Auftrag war, den das Kurierschiff hier zu erfüllen hatte, versorgte Geary die Crew mit einer gestrafften Version des Berichts, den er für das Flottenhauptquartier und die Allianz-Regierung zusammengestellt hatte.

Als sie sich dem Sprungpunkt näherten, bat Rione ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Da Geary bereits ahnte, was sie ihm sagen wollte, kam er nur sehr widerwillig ihrem Anliegen nach.

»Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht, dass die Gefahr vorüber ist«, begann sie, während sie in seinem Quartier stand, da sie das Angebot, sich hinzusetzen, dankend abgelehnt hatte.

Geary freute es gar nicht, dass er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte, setzte sich hin und lehnte sich nach hinten, um die Decke anzustarren. Seit seinem Gespräch mit Charban hatte er das öfter gemacht und sich gefragt, welche Muster wohl die Tänzer in diesen Formen sahen. Oder was ein Enigma dort sah. Oder ein Kik. Lediglich die Tänzer würden ihm darauf vielleicht eines Tages eine Antwort geben. »Ich weiß, im Allianz-Gebiet warten einige Herausforderungen auf uns.«

»Die Probleme, die wir hinter uns zurückgelassen haben, existieren immer noch und dürften sich wahrscheinlich weiter verschlimmert haben«, warnte Rione ihn. »Zu viele Menschen in der Allianz glauben, Sie sind ein Geschenk der Lebenden Sterne und werden die Allianz retten, und zu viele andere Menschen halten Sie für die größte Bedrohung, mit der die Allianz je konfrontiert wurde.«

»Und«, fügte Geary erschöpft hinzu, »zwischen diesen beiden Extremen gibt es noch genug Leute, die alle ihr eigenes Spiel treiben und dabei auch noch davon überzeugt sind, völlig im Recht zu sein. Was soll ich tun?«

»Abwarten, zusehen und dann reagieren.« Sie beschrieb eine hilflose Geste. »Es sind zu viele Mitwirkende, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen. Übrigens bin ich zunehmend in Sorge darum, was die Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation tun werden, wenn wir Varandal erreichen.«

Erst Dr. Nasr und nun Rione. Dass beide darauf zu sprechen kamen, konnte nur bedeuten, dass das Problem immer gravierender wurde. »Ich habe den Besatzungen dieser Schiffe gesagt, dass ich tun werde, was ich kann …«

»Ich glaube nicht, dass das genug ist, Admiral«, gab Rione zurück. »Captain Hiyen ist besonders besorgt. Es ist, wie er es formulierte: Es ereignet sich nichts Großes, aber es geht ein ständiges leichtes Zittern durch die Besatzungen, das ein schweres Beben anzukündigen scheint. Ihnen bleibt womöglich keine Zeit zu reagieren. Bei ihrer letzten Rückkehr nach Varandal haben sie auf ihre neuen Befehle gewartet, und dann wurden sie damit belohnt, dass sie wieder mit Ihnen losgeschickt wurden, anstatt sie heimkehren zu lassen, womit sie natürlich aus gutem Grund nicht gerechnet haben. Ich weiß nicht, was diesmal passieren könnte, aber machen Sie sich darauf gefasst, dass aus dieser Richtung ein Erdbeben auf Sie zukommt.«

Geary nickte schlapp. »Wenigstens eine wohltuende Abwechslung von den Erdbeben, die aus allen anderen Richtungen auf mich zukommen.«

»Ja. Ich mag es auch nicht, in der Defensive zu sein, aber in diesem Fall bleibt uns gar nichts anderes übrig. Wir können nur nach bestem Vermögen jedes Problem abwehren, sobald wir damit konfrontiert werden. Es sei denn, es kommt ein neuer Faktor ins Spiel, durch den sich alles verändert.«

»Ein neuer Faktor?« Geary sah sie an. »Wir bringen die Tänzer mit nach Hause.«

»Welche Folgen das haben wird, lässt sich nicht voraussagen«, erklärte sie. »Vor allem weil ich nicht absehen kann, wie die Tänzer sich verhalten werden. Sie haben entschieden, uns zu begleiten, aber der Grund dafür ist mir noch immer nicht klar. Vielleicht werden sie es uns ja sagen, wenn wir das Allianz-Gebiet erreicht haben.«

Wieder sah er nach oben zu dem Gewirr aus Rohren, Leitungen und Kabeln. »Irgendjemand wollte, dass ich nicht heimkehre … dass diese Flotte heimkehrt.«

»Aber Sie kehren heim, und das mit einer immer noch schlagkräftigen Flotte. Wieso entlockt Ihnen diese Feststellung kein Gefühl der Befriedigung? Gibt es irgendetwas, das Sie mir verheimlichen, Black Jack?«

»Das wäre ja mal was ganz Neues.«

»Das wäre es allerdings. Und Sie drücken sich gerade vor einer Antwort auf meine Frage.«

»Wussten Sie, dass die Allianz-Regierung eine neue Flotte bauen lässt?«

Sie starrte ihn an und konnte – wahrscheinlich zum allerersten Mal, seit er sie kannte – nicht völlig den überraschten Gesichtsausdruck überspielen, den sie in diesem Moment zur Schau stellte. »Wo haben Sie das gehört?«

»Ich habe meine Quellen«, entgegnete er und verzog den Mund zu einem völlig humorlosen Lächeln.

»Wie groß ist diese Flotte?« Falls Rione darüber Bescheid wusste, leistete sie erstklassige Arbeit damit, ihn darüber hinwegzutäuschen.

»Zwanzig Schlachtschiffe, zwanzig Schlachtkreuzer und eine entsprechende Anzahl an Eskortschiffen.«

Sie musterte ihn wohl fast eine Minute lang schweigend, ehe sie wieder etwas sagte. »Ich kann diese Informationen überprüfen lassen, sobald wir zurück sind. Hat man Ihnen das offiziell gesagt?«

»Natürlich nicht.«

»Verdammt. Das könnte alles Mögliche bedeuten, aber in keinem Fall etwas Gutes.« Sie schüttelte flüchtig den Kopf. »Wie heißt diese alte Redewendung noch? Gegen Dummheit kämpfen selbst die Götter vergeblich. Und ich bin nicht mal ein Gott.«

»Ich auch nicht. Haben wir eine Chance?«

Sie hielt kurz inne, dann lächelte sie auf eine sehr rätselhafte Weise. »Natürlich haben wir die. Black Jack ist auf unserer Seite.«

Er suchte noch immer nach einer Antwort darauf, als Rione längst wieder gegangen war.

Am nächsten Tag setzte die Flotte zum Sprung zurück ins Allianz-Territorium an – die Flotte, die weiter in unentdecktes Land vorgestoßen war als jeder andere Mensch vor ihnen und die sich von dort den Weg zurück nach Hause freigekämpft hatte.

Varandal.

Geary spürte deutlich, wie alle Anspannung von ihm abfiel. Sie waren zu Hause. Sie waren zurück in der Allianz. Seine Freunde und Berater würden ihn natürlich warnen, dass es bei Varandal von politischen und militärischen Gegnern wimmelte, die es alle auf ihn abgesehen hatten. Sie würden ihm sagen, dass er sich in dieser nur dem Namen nach heimischen Region nicht für eine Sekunde entspannen durfte. Doch für den Augenblick wollte er davon einfach nichts wissen, und stattdessen stellte er sich vor, dass ihn und seine Flotte bei Varandal nur Ruhe und Frieden erwarteten.

»Ich will nicht hoffen, dass sie auf uns schießen«, murmelte Tanya und machte es ihm umso schwerer, sich seiner Selbsttäuschung hinzugeben.

»Warum sollten sie das tun?«, fragte er.

»Weil Sie Black Jack sind, der zurückgekehrt ist, um irgendetwas zu tun. Weil wir das Superschlachtschiff der Kiks mitbringen. Weil wir von sechs Tänzer-Schiffen begleitet werden. Weil Bradamont mit sechs Syndik-Frachtern hier aufgetaucht ist, um Gefangene abzuholen. Weil es alles Idioten sind.«

»Admiral Timbale ist kein Idiot«, widersprach Geary und versuchte, sich so noch einen letzten Rest an Ruhe zu bewahren.

»Sofern er noch das Kommando über Varandal hat.« Desjani sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Denken Sie daran, auf alles gefasst zu sein, wenn wir den Sprungraum verlassen.«

»Sie wissen aber noch, dass ich hier der Admiral bin, nicht wahr?«

»Dann empfehle ich eben respektvoll dem Admiral, auf alles gefasst zu sein, wenn wir den Sprungraum verlassen, Sir

Seufzend rieb er sich die Augen und setzte sich in seinem Kommandosessel gerader hin. Er wusste nur zu gut, dass er Tanya nichts davon sagen konnte, dass sie die gleiche Warnung aussprach, die er von Rione schon ein paar Tage zuvor zu hören bekommen hatte. Über so etwas habe ich nicht nachgedacht, als ich die befehlshabende Offizierin meines Flaggschiffs geheiratet habe.

»Was?«

»Ich habe kein Wort gesagt«, beteuerte er.

»Doch, Sie … ach, vergessen Sie’s. Wir sind gleich da.« Desjani warf ihm einen letzten ermahnenden Blick zu, dann konzentrierte sie sich auf ihr Display.

Er wandte sich seinem eigenen Display zu und sah, wie eines der Lichter des Sprungraums plötzlich genau vor ihnen auftauchte. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, wie weit das Licht entfernt war, aber Geary kam es so vor, als würde die Dauntless genau in dieses Licht hineinstürzen, als das Schiff den Sprungraum verließ.

Da er hörte, wie andere auf der Brücke erschrocken nach Luft schnappten, wusste er, dass nicht nur er so empfunden hatte.

Dann kehrten die wohltuende Schwärze des Normalraums und das Licht der zahllosen Sterne zurück, darunter auch der grelle Schein eines deutlich größeren Lichtpunkts, der die Sonne Varandal darstellte.

Kein Alarm ertönte, als die Flottensensoren die Umgebung erkundeten. Als Geary das Gefühl der Benommenheit abgeschüttelt hatte, das ihn jedes Mal beim Verlassen des Sprungraums überkam, waren die gesammelten Daten bereits auf sein Display übertragen worden und zeigten die beruhigend routinemäßigen Aktivitäten der Menschen im System Varandal.

Bis das Display einmal kurz ruckelte und die Bilder von mehr als einem Dutzend getarnter Allianz-Schiffe nahe der Station Ambaru auftauchten. »Was machen die denn da?«

»Ambaru muss sie gesehen haben«, antwortete Desjani leise und überprüfte ihre Daten. »Deren Sensoren sind auf Emissionen ausgerichtet, und deshalb können wir sie auch aus dieser Entfernung sehen.«

Er rief die entsprechenden Daten und erhielt die Bestätigung. Die getarnten Shuttles gaben minimale Emissionen ab, die man für das Hintergrundrauschen in einem Sternensystem halten konnte. Nur Sensoren, die auf ganz bestimmte, in diesem Rauschen verborgene Muster eingestellt waren, konnten sie wahrnehmen. »Eine Übung? Zu welchem Zweck?«

»Vielleicht wissen die ja was«, gab Desjani zu bedenken und zeigte auf die Bilder von einem Leichten Kreuzer und zwei Zerstörern, die nur eine halbe Lichtstunde vom Sprungpunkt entfernt waren. »Die Coupe, die Bandolier und die Spearhand. Was haben die so weit draußen zu suchen?«

»Sie sind auf dem Rückweg zum Stern«, stellte Geary irritiert fest. »Und keine Spur von den sechs Syndik-Frachtern.«

»Aber auch keine Trümmer von ihnen«, machte Desjani ihm klar.

»Na, dann fliegen wir auch mal weiter. Wir senden die standardmäßigen Ankunftsberichte und sonst nichts, und dann warten wir ab, bis Timbale sich meldet.«

»Und wenn Timbale nicht mehr hier ist?«

»Dann hören wir eben von seinem Nachfolger.«

Das Ganze nahm natürlich einige Stunden in Anspruch. Die Coupe und die Bandolier gaben sich wortkarg, als Geary sie rief, und erklärten nur, sie hätten auf Befehl von Admiral Timbale einige spezielle Manöver ausgeführt. Allerdings liefen genügend Unterhaltungen zwischen den Schiffen und Stationen, um zumindest ein teilweises Bild der Geschehnisse zu erhalten, das von Lieutenant Iger zusammengesetzt wurde.

»Die Syndik-Fra-, ich wollte sagen: Die Midway-Frachter sind im System gewesen, Admiral. Sie sind hier eingetroffen und haben um die Freilassung der Gefangenen der Syndik-Reserveflotte gebeten. Es herrschte ziemlich große Aufregung. Kommandotruppen und Marines auf der Ambaru-Station, Kriegsschiffe, die in aller Eile hin und her geschickt wurden, sehr viel Nachrichtenaustausch, alles von höchster Priorität und streng geheim.«

»Aber die Frachter haben das System unversehrt verlassen? Zusammen mit Captain Bradamont?«

»Sir, Captain Bradamont wird mit keinem Wort erwähnt, aber es sieht so aus, dass die Frachter vor ein paar Tagen wieder abgereist sind.«

Als dann Admiral Timbales Nachricht eintraf, bestätigte er das. »Captain Bradamont war mit dabei, aber davon weiß nur ich etwas. Wenn gewisse Kreise herausgefunden hätten, dass sie sich auf einem der Frachter befand, hätte das Ärger ohne Ende gegeben. Es war schon so übel genug. Sie sprach davon, dass Sie Probleme mit dem Hypernet-Portal bei Midway hatten, aber nachdem Sie das System verlassen haben, waren die Schwierigkeiten schon bald wieder behoben. Laut Bradamont waren die Syndiks … oh, verzeihen Sie … waren die Bürger des freien und unabhängigen Midway-Sternensystems selbst völlig verblüfft. Aber sie waren auch davon überzeugt, dass die Syndikatwelten einen Weg gefunden haben müssen, einzelne Hypernet-Portale zu sperren. Auf diese Weise ist es ihnen möglich gewesen, Ihnen die Heimreise so schwer wie möglich zu machen.«

Timbale, der sich immer noch in einer Entfernung von drei Lichtstunden auf der Station Ambaru aufhielt, atmete gedehnt aus. »Es ist hier sehr … interessant zugegangen. Ich nehme an, Ihnen sind die getarnten Shuttles und die Kommandotruppen rings um Ambaru längst aufgefallen. Ich habe mich die letzten Tage über ständig von einem kompletten Zug Marines begleiten lassen, die mir auf Schritt und Tritt gefolgt sind, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass mindestens ein Senioroffizier davon überzeugt ist, einen Grund zu wissen, weshalb ich unter Arrest gestellt werden sollte. Aber jetzt sind Sie ja da, so wie Captain Bradamont es angekündigt hat. Sie ist mit den Frachtern wieder heil von hier weggekommen, auch wenn es eine Weile auf Messers Schneide stand. Sie hat mir auch in groben Zügen davon berichtet, was Ihnen alles widerfahren ist. Das erbeutete Superschlachtschiff hat sie ebenfalls erwähnt, auch wenn ich mir bis vor ein paar Minuten nicht vorstellen konnte, wie riesig das Ding sein sollte. Und die sechs Tänzer-Schiffe. Ich wusste alles, was auf uns zukommt. Aber sonst war hier niemand auf irgendetwas vorbereitet, weshalb Sie einen verdammt dramatischen Auftritt hingelegt haben. Aber das gehört bei Ihnen ja schon dazu.« Bei den letzten Worten lächelte Timbale, um zu unterstreichen, dass das als Kompliment gemeint war. »Ich habe hier immer noch das Sagen, jedenfalls für den Augenblick. Ich bin froh, dass Sie wieder da sind, um mir den Rücken zu stärken. Ich glaube, jetzt wird endlich sehr schnell Ruhe einkehren, und das Flottenhauptquartier wird es sich noch einmal überlegen, mir wegen Verrats, Fehleinschätzung einer Situation oder einfach nur aus Prinzip meinen Posten zu entziehen. Na, was sage ich? Die Kommandotruppen sehen ganz so aus, als würden sie jetzt endlich den Heimweg antreten. Ich schätze, alles ist wieder in bester Ordnung, und wir sind alle wieder Freunde.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich freue mich schon sehr darauf, in Ihrem detaillierten Bericht zu lesen, was Sie so alles getrieben haben. Mann, das ist ein verdammt großes Schlachtschiff. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Timbale, Ende.«

Die nächsten Tage waren von hektischer Betriebsamkeit geprägt. Die Flotte musste ins innere Sternensystem gebracht werden, etliche Schiffe schwenkten in Parkorbits ein, die für Allianz-Kriegsschiffe reserviert waren, andere nahmen Kurs auf orbitale Raumdocks, damit dringende Reparaturen durchgeführt werden konnten. Befreite Allianz-Gefangene mussten per Shuttle zur Station Ambaru gebracht werden, um ihre Personalien aufzunehmen. Berichte mussten erstellt und verschickt werden. Kurierschiffe rasten zum Hypernet-Portal bei Varandal, um nach Unity und zum Flottenhauptquartier zu reisen und dort von Black Jacks Rückkehr zu berichten. Andere, private Kurierschiffe, die von Nachrichtenorganisationen gemietet worden waren, verließen Varandal ebenfalls, um die Neuigkeit zu verbreiten, dass Black Jack lebte und zurückgekehrt war. Auch hielten sie keinesfalls mit den weiteren Nachrichten von der Flotte hinterm Berg: dass er Tausende von Allianz-Angehörigen aus den Fängen der Syndiks gerettet hatte, allesamt Männer und Frauen, die man seit Langem für tot gehalten hatte. Dass er neue Verbündete für die Menschheit gewonnen hatte. Dass er von den Syndiks hintergangen worden war und er die Enigmas erneut geschlagen hatte. Dazu kamen noch andere Meldungen über ihn, auf die Geary gern verzichtet hätte. Etwa die, dass Black Jack nun im Besitz des größten jemals gebauten Schlachtschiffs war – und dass er es benutzen wolle, um die Menschheit zu beschützen oder um die Allianz zu übernehmen oder um die Syndiks ein für alle Mal auszulöschen oder …

»Eine Flotte?«, platzte Desjani heraus. »Es gibt Leute, die glauben, Sie würden eine Flotte aus Schiffen vom Typ Invincible bauen? Haben die irgendeine Ahnung, was dafür notwendig wäre?«

»Nein«, antwortete er mürrisch. »Die haben überhaupt keine Ahnung. Deshalb glauben die ja auch, ich würde so was machen.« Sie befanden sich in seinem Quartier. Die Luke stand offen, und Geary fragte sich zum x-ten Mal seit der Ankunft in Varandal, wann er und Tanya wohl endlich die Gelegenheit bekommen würden, ein paar Stunden als Ehemann und Ehefrau zu verbringen und nicht als Admiral und Captain.

Eine weitere Nachricht ging ein, und Geary hätte sie beinahe auf die Mailbox umgeleitet, doch dann sah er, von wem sie kam. »Sie leben noch«, berichtete Dr. Nasr mit schwachem Lächeln. »Wir haben die letzten beiden gefangen genommenen Bärkühe am Leben erhalten können, bis wir Allianz-Gebiet erreicht haben, damit sich jemand anders ihrer hier annehmen kann.«

»Meinen Glückwunsch, Doctor«, erwiderte Geary. Er konnte die verhaltene Freude des Mannes gut verstehen. Hatten sie das Richtige getan? Und was würde nun mit den beiden Kiks passieren? Nasr war mehr als jeder andere um sie besorgt, schließlich waren sie seine Patienten. Und während der gesamte Rest der Flotte sie nur noch als Kiks bezeichnete, benutzte der Doctor weiterhin den höflicheren und respektvolleren Begriff »Bärkühe«, wenn er von den beiden redete.

»Ich habe den Befehl erhalten, sie an das Shilling-Institut zu übergeben«, fuhr Nasr fort und verzog den Mund. »Da arbeiten gute Leute, gute Ärzte. Es ist der richtige Platz für Behandlungen der schwierigsten Art. Mir gefällt es nur nicht, die Bärkühe jemandem zu überlassen, der sie nicht kennt. Wir haben genug Erfahrung gesammelt, um ihnen die richtige Dosis verabreichen zu können, damit sie ruhiggestellt bleiben, auch wenn es in den letzten Tagen einige schwierige Momente gegeben hat.«

»Aber die zuständigen Stellen werden doch sicher Ihre Erfahrungen berücksichtigen, oder nicht?«, fragte Geary. »Sie sagten doch, die Ärzte des Shilling-Instituts sind fähige Leute.«

»Das sind sie auch. Aber sie stellen die Elite da. Wir sind bloß Flottenärzte, Admiral«, antwortete Dr. Nasr voller Ironie. »Aus der Sicht der Elite sind wir nur eine niedere Form von Chirurgen. Sie hören uns zu, manche werden unsere Ratschläge befolgen. Aber ich befürchte, dass andere darüber hinweggehen und ihre eigenen Fehler machen werden.« Jede Spur von Humor war verflogen. »Und dann müssen die letzten beiden Bärkühe vielleicht auch noch sterben. Nicht, weil die Leute, in deren Obhut sie kommen, etwas Böses beabsichtigen, sondern weil Menschen Fehler machen, und das selbst dann, wenn es nicht um niedlich aussehende Kreaturen geht, die anders denken als wir und die sich anders entwickelt haben als wir.«

Geary presste die Lippen zusammen und kämpfte gegen ein Gefühl der Sinnlosigkeit an, das der Doctor zweifellos mit ihm teilte. »Wir haben getan, was wir konnten. Ich wüsste nicht, was wir sonst noch hätten tun können.«

»Ich auch nicht, Admiral. Ich wollte Sie nur davon in Kenntnis setzen. Vielleicht bin ich ja völlig grundlos pessimistisch, vielleicht bin ich der typische Arzt, der seinen Patienten nicht einem anderen Arzt überlassen will. Womöglich leide ich ja unter dem Irrglauben, dass ich mehr weiß als alle anderen.« Einen Moment lang machte er einen fast wehmütigen Eindruck. »Es ist schon bedauerlich. Die Bärkühe werden nie begreifen, wie sehr wir uns darum bemüht haben, sie zu retten und sie am Leben zu erhalten. Stattdessen glauben sie bereits zu wissen, was wir mit ihnen machen werden, und aus dem Grund wollen sie uns nicht zuhören, nicht mal ein paar Sekunden lang. Wie erklären wir das anderen? Denen, die uns die Schuld geben werden? Ich kann sie schon reden hören. Wie konnten Sie nur gegen sie kämpfen? Wie konnten Sie sie nur töten?«

»Sie haben uns keine Wahl gelassen.«

»Das dürften unsere Aufzeichnungen deutlich belegen«, stimmte der Doctor ihm zu. »Es sei denn, diese Leute wollen unseren Aufzeichnungen nicht glauben.«

»Danke, Doctor. Für alles.« Geary drehte sich zu Tanya um, da ertönte der helle Pfeifton, der den Erhalt einer dringenden Nachricht ankündigte.

Captain Hiyens Gesichtsausdruck erinnerte an einen Mann, vor dem sich ein Erschießungskommando aufgestellt hatte; eine Kombination aus Resignation vor dem Unausweichlichen und Entschlossenheit, dem Schicksal trotzig in die Augen zu sehen. Es war ein pessimistischer Gesichtsausdruck, den kein Befehlshaber bei einem Untergebenen gern sah, erst recht nicht an einem Ort wie Varandal, an dem sie alle in Sicherheit sein sollten. »Admiral, ich muss mit Ihnen reden – unter vier Augen und so bald wie möglich.«

Das Schlachtschiff Reprisal war nur ein paar Lichtsekunden entfernt, sodass eine normale Unterhaltung möglich war, bei der man nicht nach jedem Satz minuten- oder sogar stundenlang auf eine Antwort warten musste. »Um was genau geht es?«, fragte Geary und gab Desjani hastige Zeichen.

»Es geht … um die Schiffe der Callas-Republik. Und ich glaube, es geht auch um die Schiffe der Rift-Föderation. Bitte, Admiral. Es bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit.«

Rione hatte ihn gewarnt, dass das lange Schmoren der Crews sich schon bald explosionsartig entladen könnte. Geary hielt kurz inne und überlegte, dann sah er zu Tanya, die ihm seine Sorge längst angemerkt hatte. »Captain Desjani, begleiten Sie mich bitte in den Hochsicherheitskonferenzraum.« Ein Gespräch unter vier Augen. Von wegen! Er musste andere Leute an seiner Seite haben, die mit ihm zusammenarbeiten konnten, wenn es hier tatsächlich um die Angelegenheit ging, die er befürchtete. Und wenn diese Angelegenheit die Schiffe der Callas-Republik betraf, dann … Geary betätigte eine interne Komm-Taste. »Gesandte Rione, kommen Sie so schnell wie möglich in den Hochsicherheitskonferenzraum.« Rione war Co-Präsidentin der Callas-Republik gewesen, und sie wurde von den Besatzungen dieser Schiffe ebenso respektiert wie von denen der Rift-Föderation. Zwischenzeitlich hatte man sie im Laufe einer ganzen Serie von Neuwahlen abgesetzt, die die politische Ordnung der Allianz erschüttert hatte. Die Callas-Republik und die Rift-Föderation hatten sich seinerzeit nur aus Angst vor den Syndikatwelten der Allianz angeschlossen, und da die Bevölkerung diese Verbindung nun wieder trennen wollte, war vielen von ihnen Riones Loyalität gegenüber der Allianz unangenehm aufgefallen. Das hatte sie etliche Wählerstimmen gekostet.

»Die Nachricht kam von der Reprisal«, stellte Tanya fest, als sie in Richtung Konferenzraum gingen. Sie bewegten sich zügig durch die Korridore, aber nicht so schnell, dass Crewmitglieder hätten misstrauisch werden können.

»Richtig. Und Sie können sich denken, um was es gehen dürfte.«

Sie nickte auf eine fast andächtige Art, die Geary erschreckte. »Sie wollen zurück nach Hause.«

»Das wollen wir alle.«

»Aber nicht so dringend wie sie. Außerdem sind wir in der Allianz, und damit sind wir daheim. Aber diese Schiffe gehören zur Callas-Republik, und sie sind schon sehr lange nicht mehr zu Hause gewesen.«

»Ja, ich weiß.«

Einige Minuten später schloss sich die Luke zum Konferenzraum, nachdem Rione eingetreten war. Die Lichter über der Tür erklärten diesen Raum und jegliche hier stattfindende Kommunikation als vor dem Zugriff Dritter so sicher geschützt, wie es nach dem gegenwärtigen technischen Stand von Hard- und Software nur möglich war. Geary gab Tanya ein Zeichen, die Verbindung zu Captain Hiyen herzustellen.

Hiyen war nicht sehr glücklich darüber, dass dieses Gespräch unter mehr als vier Augen stattfinden sollte, aber dann akzeptierte er mit einem schweren Seufzer diesen Umstand. »Admiral, ich vertraue auf Ihr Urteil, dass Sie weitere Personen dazugeholt haben. Madam Co-Präsidentin, ich rede Sie weiterhin so an, aber viele von unseren Leuten haben das Vertrauen in Sie verloren.«

Rione nahm diese Worte hin, ohne eine Miene zu verziehen, doch Geary konnte den Schmerz an ihren Augen ablesen. »Ich habe nicht den Befehl erteilt, der Sie bei dieser Flotte gehalten hat. Ich habe ihn nur überbracht, aber nie gutgeheißen.«

»Das glaube ich Ihnen«, sagte Hiyen. »Admiral, ich werde nicht ums Thema herumreden. Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, dass auf den Schiffen der Callas-Republik und wohl auch auf denen der Rift-Föderation in dieser Flotte eine Meuterei unmittelbar bevorsteht. Meiner Einschätzung nach werden die Offiziere und Besatzungsmitglieder auf meinem Schiff aufhören, auf Befehle zu reagieren, und aus der Formation der Flotte ausscheren, um die Heimreise anzutreten. Und das dürfte für alle Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation gelten. Ich habe keine Möglichkeit, diese Entwicklung abzuwenden. In gewisser Hinsicht kommt es schon einem Wunder gleich, dass wir es ohne Meuterei bis hier geschafft haben. Aber jetzt lässt sich das nicht länger vermeiden.«

Desjani ballte die Faust. »Wenn diese Schiffe meutern und die Formation verlassen, dann wird der Rest der Flotte im Handumdrehen auch instabil werden. Aber wenn Sie Marines reinschicken, um die Besatzungen zur Ordnung zu zwingen, oder wenn Sie den Befehl geben, das Feuer auf diese Schiffe zu eröffnen, könnten die Folgen noch viel verheerender ausfallen.«

Zwar wusste Geary, dass er diese Situation nicht heraufbeschworen hatte, aber die Entscheidung über die weitere Vorgehensweise lag ganz allein bei ihm, und ihm würde man auch die Schuld an allen Konsequenzen geben, die sich daraus ergeben mochten.

»Haben Sie wirklich alles versucht, um die Situation in den Griff zu bekommen?«, fragte Geary.

»Die einzige noch verbleibende Maßnahme wären Massenfestnahmen«, erwiderte Hiyen. »Aber ich fürchte, wenn ich das versuche, fliegt mir hier sofort alles um die Ohren.«

»Er hat recht«, stimmte Rione ihm leise, aber überzeugt zu. »Wir können das nicht länger unter Kontrolle halten.«

»Aber Captain Desjani hat auch recht«, sagte Geary. »Wenn ich zulasse, dass diese Schiffe sich auf den Heimweg machen, dann wird jeder andere Matrose und Marine sich fragen, ob er seinen Willen vielleicht auch durchsetzen kann, wenn er genauso handelt. Viele von den Leuten wollen gar nicht meutern, sie wollen weiterhin zur Flotte gehören. Sie fühlen sich vielmehr schlecht behandelt. Sie mit Gewalt zum Gehorsam zu zwingen würde alles nur noch schlimmer machen.«

»Reden Sie mit ihnen«, drängte ihn Desjani.

»Gewaltanwendung ist die einzige Option, die uns noch bleibt«, antwortet Hiyen. »Die hören auf niemanden mehr, nicht mal auf Black Jack. Die Leute sind ihm dankbar, aber sie haben zu viel durchgemacht. Meine Crew wird mir das Kommando abnehmen, wenn ich versuchen sollte, sie aufzuhalten. Und wenn Sie das versuchen, werden sie sich zur Wehr setzen.«

Wäre Hiyen doch bloß ein unfähiger Offizier gewesen, ein schlechter Befehlshaber, dessen Einschätzung man keinen Glauben schenken konnte und dessen Ablösung die Situation stabilisieren würde. Aber Captain Hiyen war ein fähiger Mann. Sicher nicht der beste Offizier der ganzen Flotte, aber ein guter Offizier, der wusste, wie man Menschen führte. Als Geary zu Tanya sah, entdeckte er in ihren Augen die gleiche Einschätzung der Situation.

»Wie soll die Flotte sich in solchen Situationen verhalten?«, wollte Rione wissen.

Geary zuckte mit den Schultern und entgegnete: »Wir geben Captain Hiyen die Schuld, weil er uns von dem Problem erzählt hat. Wir geben ihm die Schuld an dem Problem und warten ab, bis das Pulverfass explodiert.«

»Und dann«, fuhr Desjani mit humorlosem Grinsen fort, »geben wir Captain Hiyens Untergebenen die Schuld an der Situation, vorrangig denjenigen, die noch die wenigste Erfahrung vorweisen können.«

»Wir können also die Explosion selbst nicht abwenden«, folgerte Rione. »Was können wir tun, um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten? Um … wie soll ich sagen … Um sie in eine andere Richtung zu leiten?«

»Sie können eine Meuterei nicht umleiten, Madam Co-Präsidentin«, gab Hiyen betrübt zurück.

Plötzlich lehnte sich Desjani nach vorn. »Augenblick mal. Umleiten … das bringt mich auf eine Idee. Diesen Schiffen wurde von ihrer Regierung befohlen, bei unserer Flotte zu bleiben. Aber die Schiffe unterstehen Ihrem Kommando, Admiral Geary.«

»Ist das etwa nicht genau das Problem?«, gab er schroff zurück. Als er sah, dass Tanyas Kopf rot anlief, wusste er, seine Reaktion würde ihn später noch teuer zu stehen kommen.

Mit ruhiger Stimme erklärte sie: »Sie sind der Oberbefehlshaber dieser Schiffe. Schicken Sie sie irgendwohin, jetzt sofort.«

»Wohin soll ich sie denn schicken«, wollte Geary frustriert wissen, »damit sie auf einmal wieder glücklich und zufrieden sind? Diese Leute wollen nach Hause …« Er unterbrach sich, als er mit einem Mal begriff. »Victoria, Sie kennen die Befehle, die Sie mitgebracht haben. Kann ich das machen?«

»Ich …« Die sonst immer so gefasste Rione war von der Situation so aufgewühlt, dass sie erst einen Moment benötigte, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Das kommt darauf an. Sie können sie nicht einfach irgendwo hinschicken. Es muss einen offiziellen Grund geben, der mit der Verteidigung der Allianz zusammenzuhängen hat.«

Geary rief ein Display auf, tippte eine Abfrage ein und sah sich dann die detaillierten Informationen über die Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation an. Die Namen der Schiffe, die Namen ihrer Befehlshaber, der Status der Schiffe … alte Schiffe … erschöpfte Schiffe mit erschöpften Besatzungen. »Sie müssen repariert und überholt werden, sie brauchen neues Personal, Ersatz für diejenigen, die im Kampf gefallen sind. Momentan bezahlt die Allianz das alles. Warum sollten nicht die Callas-Republik und die Rift-Föderation für diese Reparaturen und alles andere zuständig sein?«

»Admiral«, wandte Captain Hiyen ein. »Unsere Befehle lauten, bei der Flotte zu bleiben.«

»Ihre Befehle lauten«, korrigierte Rione ihn, »Teil der Flotte zu bleiben und die Anweisungen auszuführen, die Ihnen von den befehlshabenden Allianz-Offizieren erteilt werden.«

»Was nicht heißt, dass Sie in der Flotte anwesend sein müssen«, ergänzte Desjani.

»Richtig«, sagte Geary. »Wenn ich Ihren Schiffen befehle, nach Hause zurückzukehren, dann befolgen sie meinen Befehl, wenn sie die Flotte verlassen. Das ist keine Meuterei, sondern sie führen nur erteilte Befehle aus. Captain Hiyen, alle Schiffe der Callas-Republik werden mit sofortiger Wirkung zu einer Eingreiftruppe zusammengeführt, deren Befehl lautet, sich unter Ihrem Kommando auf den Weg zur Callas-Republik zu begeben, damit die notwendigen Reparaturen und Wartungen ausgeführt werden und Personal sowie Vorräte aufgestockt werden. Wie bald können Sie aufbrechen?«

Hiyen sah Geary an, dann lachte er ungläubig auf. »Wahrscheinlich auf der Stelle. Wir haben genug Proviant und Brennstoff an Bord, um den Hypernet-Sprung zurück in die Republik zu bewältigen. Aber für wie lange? Was, wenn die Regierung der Republik uns einfach sofort wieder herschickt? Oder besser gesagt: wenn sie das versucht?«

»Captain Hiyen«, gab Rione nachdrücklich zurück. »Die Regierung hat Ihnen aufgetragen, die Befehle der Allianz auszuführen. Sie kehren auf Befehl der Allianz zur Republik zurück. Wenn die Republik sich über die Befehle der Allianz hinwegsetzen will, dann muss sie erst einmal ihre eigene Anweisung widerrufen, mit der sie Sie dem Befehl der Allianz unterstellt hat.«

Hiyen nickte, seine Augen leuchteten. »Ja. Aber für wie lange?«

»Wie lautet die korrekte Formulierung?«, wandte sich Rione an Geary.

»Bis auf Weiteres«, antwortete er. »Korrekte militärische Formulierung, korrekte Befehle, alles in Übereinstimmung mit den Anforderungen, die diese Schiffe der Befehlsgewalt der Allianz unterstellt haben.« Zu Desjani sagte er dann: »Helfen Sie mir, die Befehle so schnell wie möglich zu formulieren. Als Grundlage nehmen wir den Text für die Entsendung eines Teils der Streitmacht.«

»Das haben wir in fünf Minuten erledigt«, entgegnete Desjani. »Captain Hiyen, sagen Sie Ihren Leuten, was wir vorhaben – nur für den Fall, dass sie keine fünf Minuten mehr Ruhe geben. Admiral, Sie müssen auch mit den Schiffen der Rift-Föderation reden.«

»Wer ist derzeit der hochrangigste Senior-Offizier der Rift-Föderation?«, fragte Geary und schaute suchend auf sein Display.

»Commander Kapelka auf der Passguard«, ließ Hiyen ihn wissen.

Er nahm sich einen Moment Zeit, um einen Blick in Kapelkas Akte zu werfen, ehe er die Passguard rief. Kapelkas Dienstakte sah ebenfalls recht brauchbar aus. Vermutlich wäre sie in ihrer Karriere nie über das Kommando über den Schweren Kreuzer Passguard hinausgekommen, doch mit Blick auf die wenigen Sternensysteme, die zur Rift-Föderation gehörten, war das durchaus ein ansehnlicher Dienstgrad.

Geary schickte einen Ruf der höchsten Priorität an die Passguard.

Keine Minute später tauchte das Bild von Commander Kapelka vor ihm auf. Sie saß ebenfalls an einem Konferenztisch und machte einen gehetzten Eindruck, was Geary die Frage durch den Kopf gehen ließ, wer wohl noch mit am Tisch saß und worüber gerade eben noch gestritten worden war.

»Verzeihen Sie, Admiral, wenn ich Sie von hier aus rufe, aber die Mitteilung hat besagt, ich soll mich sofort melden.« Ihre Stimme war der Stress anzuhören, dem Kapelka ausgesetzt war und der ganz eindeutig nichts damit zu tun hatte, dass der Admiral persönlich sie sprechen wollte.

»Das macht nichts«, versicherte Geary ihr und versuchte, ruhig und routiniert zu klingen. »Ich wollte Sie von meinen Befehlen für alle Schiffe der Rift-Föderation in Kenntnis setzen. Mit sofortiger Wirkung ernenne ich Sie hiermit zur Befehlshaberin einer Eingreiftruppe, die aus sämtlichen Schiffen der Rift-Föderation besteht. Diese Eingreiftruppe soll sich von der Flotte lösen und so bald wie möglich Kurs auf die Rift-Föderation nehmen, damit dort alle notwendigen Reparaturen und Wartungen an Ihren Schiffen vorgenommen und die Vorräte und der Personalbestand wieder aufgestockt werden. Ihre Schiffe werden bis auf Weiteres in der Föderation bleiben.«

Kapelka bekam sekundenlang den Mund nicht mehr zu, dann vergewisserte sie sich: »Sofort? Sie befehlen uns, sofort in Richtung Heimat aufzubrechen?«

»So bald wie möglich«, korrigierte Geary sie. »An Ihren Schiffen muss viel repariert werden. Stellen Sie sicher, dass Sie für die Heimreise genügend Proviant und Brennstoff an Bord haben, aber halten Sie sich nicht noch unnötig lange hier auf.«

»Den Lebenden Sternen sei Dank!« Commander Kapelka drehte sich am Tisch um, sah aber keinen von denen, die sich bei Geary befanden, sondern die Leute, die mit an ihrem Konferenztisch saßen. »Haben Sie gehört?«, fragte sie und fuhr dann fort: »Geben Sie das an alle Schiffe weiter, sofort!«

»Den formalen Befehl werden Sie in wenigen Minuten erhalten«, fuhr Geary fort, als sei das alles nur eine Routineaufgabe und als hätte er Kapelkas Reaktion nicht bemerkt. »Geben Sie mir Bescheid, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte.«

Nachdem er das Gespräch beendet hatte, wandte er sich wieder Captain Hiyen zu. »Sie erhalten ebenfalls in ein paar Minuten den förmlichen Befehl. Informieren Sie Ihre Crew und die der anderen Schiffe der Callas-Republik.«

Wie aus heiterem Himmel hatte jemand das Erschießungskommando abgezogen, die Begnadigung war in letzter Minute aufgetaucht. Captain Hiyen lächelte fasziniert, als er salutierte, dann verschwand sein Bild.

»Ich will Ihnen nicht die einzig verfügbare Lösung schlechtreden, aber sind Sie sich wirklich sicher, dass dieser Befehl nicht als Schwäche Ihrerseits ausgelegt werden wird?«, fragte Desjani ihn. »Ich meine, jeder in der Flotte weiß, wie sich die Leute auf den Schiffen der Callas-Republik und der Rift-Föderation fühlen. Man könnte auch auf den Gedanken kommen, dass Sie zu diesem Schritt gezwungen wurden.«

Er warf ihr einen gereizten Blick zu. »Was hätte ich denn sonst bitte machen sollen?«

»Ich weiß, jede andere Lösung wäre schlimmer gewesen, sehr viel schlimmer sogar. Aber woher wissen wir, dass diese eine Lösung keine weiteren Probleme nach sich ziehen wird?«

Warum war sie so …? Natürlich. Weil sie meine momentane Einstellung kennt. Ich bin so erleichtert darüber, die Krise abgewendet zu haben, dass ich gar nicht über die möglichen Konsequenzen nachdenke. Gut, dass Tanya mich immer dann auf den Boden der Tatsachen zurückholt, wenn ich gerade zum Höhenflug ansetzen will, weil ich eine Katastrophe verhindert habe.«Das könnte passieren«, räumte er ein. »Wie soll ich das handhaben?«

»Das werde ich handhaben«, warf Rione ein und tat so, als würde sie Desjanis nachdenkliche Miene gar nicht sehen. »Wir müssen auf Ihren Kriegsschiffen nur die richtigen Gerüchte ausstreuen. Ich habe Leute an den richtigen Stellen, die das erledigen können.«

»Was für Gerüchte?«, hakte Geary nach und wünschte, er wüsste mehr über diese Leute, die Rione über seine ganze Flotte verteilt hatte und von denen sie mit allen möglichen Informationen versorgt wurde.

»Gerüchte, dass Black Jack das Verhalten der Regierungen der Callas-Republik und der Rift-Föderation leid ist, weil die keinen Beitrag zum Unterhalt ihrer eigenen Kriegsschiffe leisten. Sie erinnern sich sicher daran, wie ich Ihnen erzählt habe, dass mit Zahlungen für Wartungen und Reparaturen nicht zu rechnen sein würde, weil man erwartet, dass die Schiffe so beansprucht werden, bis sie schließlich zu nichts mehr zu gebrauchen sind.«

»Weil man darauf hofft, wollen Sie sagen.«

Rione deutete ein leichtes zustimmendes Nicken an, ihre Miene verriet keine Gefühlsregung. »Aber darüber sind Sie nicht erfreut, Admiral, und deswegen haben Sie die Entscheidung getroffen, dieses Problem nach Ihrer Rückkehr ins Allianz-Gebiet zu thematisieren.«

»Nein«, widersprach Desjani energisch. »Admiral Geary wird sich in erster Linie gegen die schlechte Behandlung der Leute richten, die auf diesen Schiffen ihren Dienst erledigen und denen man nach Kriegsende nur wenig oder gar keine Zeit gelassen hat, erst einmal heimzukehren. Die Wartung der Schiffe und die Frage, wer die Kosten dafür tragen wird, wäre für ihn zweitrangig.«

»Das ist wahr«, musste Geary ihr zustimmen.

Nach einer Denkpause nickte Rione. »Dieses zusätzliche Argument wird Ihre Position nur weiter stärken. Sie haben die Entscheidung gefällt, Sie besitzen die Autorität, und die Entscheidung ist von Ihnen in die Tat umgesetzt worden, ohne dass irgendjemand sonst sich dazu zu äußern hat. Es ist genau das, was man von Black Jack erwarten würde, nicht wahr?«

»Ich will es hoffen. Die Legende macht aus Black Jack einen besseren Offizier, als ich es jemals sein könnte.«

Desjani unterbrach ihre Arbeit, um ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen. »Sie sind besser als die Legende.«

»Ihr Captain hat recht«, stimmte Rione ihr zu und sah dann Desjani unvermittelt an. »Sie haben die Lösung gefunden. Ich stehe wieder tief in Ihrer Schuld.«

»Ist schon gut«, murmelte Desjani, die nicht so recht wusste, was sie darauf erwidern sollte.

»Keine Sorge, Captain, ich werde mich jetzt nicht so verhalten, als wären wir Schwestern.«

»Gut, das würde ich nämlich nicht ertragen«, meinte sie und verzog den Mund. »Danke für die Unterstützung, die Sie dem Admiral gegeben haben.«

Rione wandte sich wieder an Geary. »Ich gehe dann mal und tue, was getan werden muss.«

Sie verließ den Raum, während Geary und Desjani in aller Eile an der Formulierung der Befehle arbeiteten. Glücklicherweise konnte sie recht einfach und recht kurz gefasst werden, wobei der größte Teil aus Standardtexten bestand. »Ich finde, so ist es gut«, sagte Geary. »Lesen wir es noch einmal langsam durch.« Dabei entdeckte er ein falsches Wort und korrigierte es, dann sah er Tanya an. Sie nickte, und er schickte die Befehle ab.

»Viereinhalb Minuten«, stellte Desjani zufrieden fest. »Einschließlich der Unterbrechung.«

»Unterbrechung? Sie meinen, als Rione sich bei Ihnen bedankt hat?«

»Kann schon sein.«

Geary ließ sich in seinem Sessel nach hinten sinken und rieb mit den Handballen über seine Augen. Sein Gefühl sagte ihm, dass Rione genauso abweisend reagieren würde, wenn er das Thema bei ihr zur Sprache brachte. »Das war knapp. So wie sich Kapelka benommen hat, sah sie sich wohl schon mit einem Ultimatum ihrer Crew konfrontiert.«

»Würde ich auch sagen.« Desjani lehnte sich ebenfalls zurück und lächelte zufrieden. »Und Hiyen hat damit gerechnet, dass Sie ihn einen Kopf kleiner machen.«

»Tanya, ich habe schon zu oft erlebt, dass derjenige den Kopf hinhalten muss, der die schlechten Nachrichten überbringt. Und im Vergleich zu gerade eben waren das harmlose Dinge. Vertuschte Probleme auf einem Leichten Kreuzer, Offiziere eines Zerstörers, die ihren Vorgesetzten als in einem gefährlichen Maß inkompetent hinstellen. Manchmal kommt es tatsächlich vor, dass derjenige, der etwas zu melden hat, maßlos übertreibt oder sich etwas komplett aus den Fingern saugt. Aber das ist ein Grund mehr, herauszufinden, ob einem die Wahrheit gesagt wird oder nicht.«

»Erwarten Sie jetzt von mir ein Widerwort?« Sie stand auf. »Die heute übliche Vorgehensweise besteht darin, die Dinge einfach als streng geheim einzustufen und wegzuschließen, damit alle so tun können, als wäre was passiert. Allerdings hätten da einige Leute Probleme bekommen, das Ganze geheim zu halten, wenn es im Allianz-Gebiet auf diesen Schiffen zur Meuterei gekommen wäre.«

Geary sah sie an, da die Erwähnung der Meuterei ihn an etwas erinnerte. »Als Captain Numos sich an der Meuterei beteiligte, die von Captain Falco ins Leben gerufen worden war, da spielte sich das Ganze außerhalb des Allianz-Gebiets ab. Nur wenige Leute wissen etwas über diese Ereignisse und darüber, was genau zum Verlust von Schiffen wie der Triumph, der Polaris und der Vanguard geführt hat. Glauben Sie, Numos ist deswegen bislang nicht vor ein Kriegsgericht gestellt worden?«

Sie überlegte kurz. »Ja, jetzt, da Sie das erwähnen. Zu viele Details würden einige Leute in hohen Positionen sehr schlecht aussehen lassen. Da Falco tot ist, muss sich Numos nun ganz allein für die Meuterei verantworten. Er würde keine Minute zögern und so viel Staub aufwirbeln wie nur möglich. Und nachdem Admiral Bloch zurück ist, würde er ganz sicher nicht wollen, dass sich herumspricht, in welche Lage er die Flotte gebracht hatte.«

Auch diese Neuigkeit war inzwischen bei ihnen eingegangen. Als Zeichen ihres guten Willens hatten die Syndiks Admiral Bloch zusammen mit hundert anderen Allianz-Gefangenen freigelassen. Wo sich Bloch derzeit aufhielt und was er momentan machte, war aber nach wie vor ein Rätsel, dem nicht mal Riones Quellen auf den Grund hatten gehen können. »Wenn sie Bloch schon nicht verhaften werden«, sagte Geary, »dann sollten sie ihn wenigstens in den Ruhestand schicken.«

»Und wieder mal erwarten Sie von der Regierung, dass sie sich vernünftig verhält.« Desjani hielt inne, dann sagte sie fast beiläufig, aber mit einem eiskalten Unterton: »Ach, da fällt mir ein … als wir darüber gesprochen haben, wie wir die Meuterei abwenden können, da könnte ich schwören, dass Sie sich mir gegenüber in einem Tonfall geäußert haben, wie man ihn eher von einem Chief erwarten würde, der einen Deckarbeiter zusammenstaucht, weil dem ein idiotischer Fehler unterlaufen ist.«

»Ich … würde nie …«, begann Geary unschlüssig.

»Und ich glaube, mich auch daran erinnern zu können, dass Sie zu einem Zeitpunkt so mit mir geredet haben, als diese Frau das mitanhören konnte.«

Vorfahren, helft mir doch bitte!

Sie wandte den Blick nicht von ihm ab. »Also?«

»Ich …«

Ein dringender Alarm ertönte. Geary machte fast einen Hechtsprung zur Komm-Taste, als ginge es darum, den letzten Rest Luft davor zu bewahren, aus einem Leck in der Schiffshülle ins All zu entweichen.

»Admiral, eine Delegation der Großen Rats der Allianz ist bei Varandal eingetroffen und möchte sich mit Ihnen so bald wie möglich auf der Station Ambaru treffen.«

»Verstanden, vielen Dank.« Sofort sprang er von seinem Platz auf. »Da ist ein wichtiges …«

»Ich würde gerne eine Antwort bekommen, Admiral«, sagte Desjani höflich, aber unerbittlich.

Einen Moment lang presste er die Lippen zusammen, dann nickte er. »Mein Verhalten Ihnen gegenüber war respektlos und unprofessionell. Ich entschuldige mich dafür.«

Sie erwiderte sein Nicken. »Ja, respektlos. Wenn Sie mich zur Schnecke machen wollen, dann tun Sie das unter vier Augen. In der Öffentlichkeit erwarte ich, von Ihnen mit dem Respekt behandelt zu werden, den ich verdiene. Sie wissen natürlich, dass Sie sich mir und allen anderen Untergebenen gegenüber so verhalten sollten.«

»Ja, ich weiß«, gab er zurück. »Ich hätte nicht noch daran erinnert werden müssen.«

»Dann verstehen wir uns ja.« Desjani wandte sich zur Luke um.

»Sie lassen mich ja weitestgehend ungeschoren davonkommen.«

»Ach, meinen Sie wirklich? Wir haben uns eben nur über Ihr Verhalten in Bezug auf unsere dienstliche Beziehung unterhalten, Admiral. Sobald wir allein, weg von meinem Schiff und nicht im Dienst sind, werden wir uns über Ihr Verhalten in Bezug auf unsere private Beziehung unterhalten.«

Vielleicht sollte ich mich gar nicht so sehr darauf freuen, mit Tanya allein zu sein. Ach, verdammt. Du hast es verbockt, jetzt stell dich dem Ganzen wie ein Mann! »Nach Ihnen, Captain. Wir haben noch viel Arbeit zu erledigen.«

»Allerdings«, stimmte sie ihm zu, als sie den Konferenzraum verließen. »Werden Sie den Vertretern des Großen Rats sagen, dass ein Teil dieser Flotte sich in Kürze verabschieden wird, um durch das Hypernet-Portal heimzukehren?«

Nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, schüttelte er entschieden den Kopf. »Wenn sie wissen, was passieren wird, werden sie womöglich versuchen, die Schiffe aufzuhalten. Machen wir für sie eine Überraschung daraus.«

Ein weiteres Mal schickte der Große Rat eine Delegation zu ihm, anstatt ihn nach Unity kommen zu lassen. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

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