Zehn

Geary verspürte ein allzu vertrautes, schmerzhaftes Pochen in seinem Kopf, das ihn dazu veranlasste, mit einer Hand fest über die Stirn zu reiben. »Das war zuvor nicht da.«

»Nicht, als die Allianz dieses System das letzte Mal angegriffen hat, Sir.« Bilder tauchten gleich neben Igers Kopf auf. »Dieses Lager ist neu. Es wurde erst in jüngerer Zeit auf der bewohnbaren Welt eingerichtet.«

Die Bilder zeigten große Barracken und Lagerhäuser, die auf eine längst vertraute Weise angeordnet waren. Dieses neue Lager war weit von den Städten auf dem Planeten entfernt, es lag in einer besonders öden Region auf einer insgesamt schon öden Welt. Auch das entsprach der gängigen Syndik-Praxis, wonach Gefangenen- und Arbeitslager entweder nahe an einer Stadt oder irgendwo mitten im Nichts gebaut wurden. »Sieht nach einem von Syndiks errichteten Kriegsgefangenenlager aus«, stimmte er zu.

»Wir haben auch Übermittlungen der Syndiks abgefangen, die darauf hinweisen, dass das Lager erst vor Kurzem als Sammellager für Allianz-Gefangene aus kleineren Lagern in anderen Sternensystemen errichtet worden ist«, fuhr Iger fort.

»Die Syndiks sollen im Rahmen des Friedensvertrags ihre Gefangenen an die Allianz übergeben«, sagte Geary. »Warum bauen sie dann hier ein neues Lager?«

»Admiral … vielleicht beabsichtigen die Syndiks, sich nicht an diesen Teil des Vertrags zu halten.«

Wenn dem so war, dann passte es genau zu dem von ihnen bekannten Verhalten, die schließlich jeden anderen Teil des Vertrags genauso zu missachten versuchten.

»Wie viele Gefangene sind hier?«

»Bis zu zwanzigtausend, Admiral.«

»Zwanzigtausend?« So viele befreite Gefangene auf seinen Schiffen unterbringen zu wollen, würde ein extrem schwieriges Unterfangen sein.

»Das ist die maximale Anzahl, Admiral, ausgehend von den Kapazitäten des Lagers. Die seit der Ankunft bei Simur abgefangene Syndik-Kommunikation deutet darauf hin, dass einige Tausend sicher schon dort untergebracht sind, aber wir kennen keine genauen Zahlen.«

Einige Tausend waren immer noch genug. Selbst ein paar Hundert oder noch weniger hätten schon genügt. Es gibt so viele Dinge, bei denen wir nichts tun können. Aber wir können Gefangene befreien, die noch immer festgehalten werden, obwohl der Krieg vorbei ist, der ihre Gefangenschaft überhaupt erst begründet hat.

»Danke, Lieutenant«, sagte Geary und ließ sich in seinen Sessel sinken, nachdem Igers Bild verschwunden. Intensiv rieb er sich die Augen.

»Da ist was faul«, hörte er Desjani neben sich sagen.

»Ja, nicht wahr?«

»Tausende Allianz-Gefangene, untergebracht in einem neuen Lager, in einem Sternensystem, das wir zwangsläufig durchqueren müssen.«

Daran war etwas so faul, dass es zum Himmel stank. »Aber was ist daran die Falle?«

»Wollen wir das wirklich herausfinden?«

»Bleibt uns eine andere Wahl?« Er rief Rione. »Madam Gesandte, wir müssen mit dem Senior-CEO der Syndiks in diesem System über ein Gefangenenlager reden.«

Es dauerte Stunden, bis Riones Nachricht die bewohnbare Welt erreichte, auf der sich der Syndik-CEO mutmaßlich aufhielt. Weitere Stunden waren nötig, ehe eine Antwort eintreffen konnte. Geary nutzte diese Zeit, um seine Flotte in Richtung des Sterns und der bewohnbaren Welt fliegen zu lassen.

Unterdessen unternahmen die vier Syndik-Gruppen mehrere Annäherungen an die Formation, um die Flotte der Allianz zu einer Reaktion zu provozieren. Aber Geary ließ das Feuer nicht eröffnen, sondern wartete ab, dass die Syndiks so weit näher kamen, dass sie einem Beschuss nicht mehr hätten entkommen können. Sie kamen jedoch nicht näher, und Geary unternahm seinerseits keinen Versuch, auch nur eine dieser Gruppen zu verfolgen.

Die Pattsituation dauerte somit an. Dass die Syndiks darüber ebenfalls frustriert waren, tröstete ihn kaum.

Die Flotte hatte sich fast vom Rand des Simur-Sternensystems auf den Weg gemacht, von wo aus der Stern selbst rund fünf Lichtstunden entfernt war. Die bewohnbare Welt kreiste in einer Entfernung von sieben Lichtminuten um den Stern, weshalb die geschwungene Flugbahn bis zum Erreichen des Planeten 5,1 Lichtstunden lang war. Geary ließ die Flotte konstant mit einer Geschwindigkeit von 0,1 Licht fliegen, sodass die Reisezeit einundfünfzig Stunden betragen würde. Selbst wenn man sich mit einer Geschwindigkeit von dreißigtausend Kilometern in der Sekunde durchs All bewegte, dauerte es eine Weile, um die Entfernungen innerhalb eines Sternensystems zu bewältigen. Wäre die Flotte gezwungen gewesen, mit genau dieser Geschwindigkeit den Stern anzufliegen, der Simur am nächsten lag, dann hatte es achtunddreißig Jahre gedauert, das 3,8 Lichtjahre entfernte System Padronis zu erreichen.

»Wir haben eine Antwort erhalten«, sagte Rione, deren Bild vor Geary aufgetaucht war. Ihre Stimme lieferte keinen Hinweis auf den Inhalt der Nachricht. »Wollen Sie sie sehen?«

Da er sich auf der Brücke der Dauntless aufhielt, aktivierte er seine Privatsphäre so, dass sie Tanya einbezog und sie beide alles hören und sehen konnten. »Sicher. Stellen Sie sie durch.«

Ein weiteres virtuelles Fenster öffnete sich neben Riones Bild. Geary sah das Gesicht einer sehr ernst dreinblickenden Frau in der Kleidung einer Syndik-CEO. Der Anzug war zwar genauso makellos geschnitten wie die aller CEOs, aber verschiedene abgewetzte Stellen belegten, wie lange es schon her war, seit die Senior-CEO auf Simur sich einen neuen Anzug geleistet hatte.

Die Frau sprach abgehackt, was so klang, als würde sie von jedem Wort den Rest verschlucken. »Ich muss gegen das aggressive Verhalten der bewaffneten Streitkräfte der Allianz in diesem Sternensystem protestieren. Allein die Verpflichtung der Syndikatwelten, den Wortlaut des Friedensvertrags zwischen unseren Völkern zu achten, hält mich davon ab, eine entsprechende Reaktion auf die Bewegungen Ihrer Flotte anzuordnen.«

Geary versuchte, sich über die Antwort nicht zu ärgern, da er wusste, dass er sonst irgendwelche Nuancen im Tonfall oder in den Bewegungen der Syndik-CEO nicht mitbekam. Aber auch wenn es ihn Mühe kostete, die Ruhe zu bewahren, entging ihm nicht, dass diese CEO sich irgendwie anders anhörte und auch eine andere Körperhaltung aufwies. Dann wurde ihm bewusst, dass sie nicht nur zu ihm, sondern zu einem größeren Publikum sprach.

»Die mobilen Streitkräfte, gegen deren Verhalten Sie protestieren, unterstehen nicht meiner Kontrolle«, redete die CEO weiter und sprach damit etwas aus, das sich aus dem Mund eines Syndiks untypisch wahrheitsgemäß anhörte. Hatte sie das Wort »meiner« tatsächlich etwas stärker betont?

»Ich kann nichts unternehmen, um sie aufzuhalten. Ich habe ihnen nicht den Auftrag erteilt, Sie zu behelligen. Diese Einheiten sind keine mobilen Streitkräfte der Syndikatwelten, von daher betrachte ich das Ganze als eine Angelegenheit zwischen Ihnen und demjenigen, der diese Streitkräfte befehligt.«

Die CEO machte eine ungeduldige Geste, in dem sie eine Hand in einer gut einstudierten Geste hastig zur Seite bewegte. Damit hatte sie ihre Untergebenen zweifellos über Jahrzehnte hinweg in Angst und Schrecken versetzt. »Was das Gefangenenlager angeht, bin ich mir der Verpflichtungen der Syndikatwelten mit Blick auf den Friedensvertrag durchaus bewusst. Dennoch bin ich äußerst betrübt darüber, dass Sie die Freilassung dieser Gefangenen fordern, anstatt uns anzubieten, über das Thema zu diskutieren. Zweifellos werden Sie festgestellt haben, dass wir in diesem Sternensystem nur über unzureichende Verteidigungsanlagen verfügen. Daher bin ich nicht in der Lage, Ihrer Forderung nach Freilassung etwas entgegenzusetzen. Allerdings werde ich auch in keiner Weise mit Ihnen kooperieren. Bringen Sie Ihre Flotte her, nutzen Sie Ihre eigenen Möglichkeiten, die Gefangenen auf Ihre Schiffe zu holen, und dann verlassen Sie dieses System – je früher, je lieber. Es wird mir eine Freude sein, nicht länger sechstausend hungrige Mäuler durchfüttern zu müssen. Für das Volk. Gawzi, Ende.«

Wie für Senior-CEOs üblich wurde der Satz »Für das Volk« so hastig ausgesprochen, als wäre es ein einziges Wort, dem keinerlei Bedeutung zukam. Geary hatte schon seit Langem nicht mehr darauf geachtet, bis der in diese Worte gelegte Enthusiasmus von Präsidentin Iceni bei Midway ihn daran erinnert hatte, dass sie früher einmal tatsächlich etwas bedeutet haben mussten.

Rione wartete auf seinen Kommentar und machte einen leicht ungeduldigen Eindruck.

»Was halten Sie von der Nachricht?«, wollte Geary wissen. »Diese CEO hörte sich für mich irgendwie anders an als üblich.«

»Das liegt daran, dass ihr jemand eine Waffe an die Schläfe gedrückt hält«, erwiderte Rione.

»In welchem Sinn?«

»Im wörtlichen. Jemand ist in ihrer Nähe und droht ihr, aber er hält sich von dem Bild fern, das an uns übertragen wird. Das ist offensichtlich.«

Es gab Momente, da hatte Riones Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, etwas Beunruhigendes. Unwillkürlich fragte er sich, welche Erfahrungen sie gemacht haben musste, um die Lage dieser Syndik-CEO so einschätzen zu können, wie sie es soeben getan hatte. »Diese Leute von der Inneren Sicherheit?«

Sie nickte entschieden. »Höchstwahrscheinlich. Diejenigen, die von den Syndiks als Schlangen bezeichnet werden. Wir können getrost davon ausgehen, dass die jetzt die Kontrolle über dieses Sternensystem übernommen haben. Sie werden jetzt nicht mehr aus dem Verborgenen heraus die Fäden ziehen, sondern offen agieren.«

»Wenn das so sein sollte«, überlegte Geary, »dann wird die CEO von diesen Leuten gezwungen, uns dazu einzuladen, dass wir unsere Leute aus dem Lager holen.«

Abermals nickte Rione. »Es war keine nett formulierte Einladung, allerdings war es interessant, wie sie es geschafft hat, es nach einer Herausforderung klingen zu lassen. Und sie hat uns die Bestätigung gegeben, dass hier sechstausend von unseren Leuten festgehalten werden.«

»Die wollen, dass wir zu diesem Lager kommen.«

»Richtig. Aber wenn ich das richtig deute, trifft ihre Aussage zu, dass sie nicht über die Mittel verfügt, sich gegen uns zur Wehr zu setzen. Die Gefangenen sollten daher sehr gründlich nach Pathogenen, Nanopartikeln und allen anderen Formen eines von Menschen übertragbaren Sabotageaktes abgesucht werden.«

»Danke.« Sekundenlang trommelte Geary mit den Fingern auf seine Armlehne, dann sah er zu Desjani.

Sie zuckte mit den Schultern. »Das war nicht schwer zu erraten. Eine andere Lösung bleibt den Syndiks nicht, also werden sie versuchen, eine Seuche auf unsere Schiffe zu schmuggeln.«

»Wäre das nicht etwas zu offensichtlich?«

»Da draußen fliegen vier Gruppen von Kriegsschiffen um uns herum, die offensichtlich den Syndiks gehören, und gleichzeitig behaupten sie, sie hätten keine Kontrolle über sie, weil das ja in Wahrheit gar keine Syndik-Kriegsschiffe sind«, machte Desjani ihm klar. »Ob und in welchem Ausmaß etwas offensichtlich ist, scheint sie nicht zu stören.«

»Ja.« Er betätigte eine Taste. »Lieutenant Iger, gibt es etwas Neues?«

»Wir haben keine neuen Bedrohungen identifiziert, Admiral«, erwiderte Iger und lächelte dabei flüchtig. »Wir konnten ein paar Nachrichten der einheimischen Bevölkerung abfangen. Die Leute sind nicht erfreut darüber, was die Syndik-Behörden machen. Diese Mitteilung von einer orbitalen Bergbaueinrichtung in der Nähe des Gasriesen ist ein typisches Beispiel.«

Ein anderes Bild tauchte auf und zeigte einen Mann im mittleren Alter, der einen schäbigen Anzug eines leitenden Angestellten trug. »Die liefern uns hier jeglichen Vergeltungsschlägen aus«, ereiferte er sich. »Wir haben keine Warnung erhalten, wir haben keine Gelegenheit zur Evakuierung bekommen, und wir haben nicht genügend Kapazitäten, um alle von hier wegzuschaffen! Soll ich die Hälfte meiner Leute mitsamt ihren Familien etwa einfach hier zurücklassen? Wir können uns nicht mal verteidigen, weil sich niemand darum gekümmert hat, nach dem letzten Angriff der Allianz die Anlagen zu reparieren! Kann nicht irgendwer diese mobilen Einheiten davon abhalten, die Allianz-Flotte zu provozieren?«

Geary war nicht nach Lächeln zumute. Er wusste, warum Iger es tat und warum auch Desjani vermutlich angesichts der Verzweiflung dieses Mannes gern gegrinst hätte. Das geschieht ihnen recht, denken diejenigen, die ihr Leben lang nichts anderes als den Krieg gekannt hatten. Die haben damit angefangen, die haben uns unzählige Male bombardiert, sie haben zahllose Menschen getötet. Dafür verdienen sie es, jetzt vor Angst nass geschwitzt zu sein und damit rechnen zu müssen, dass unsere Steine vom Himmel geflogen kommen und ihre Welt mit gewaltigen Hammerschlägen traktieren.

Aber so empfand Geary nicht. Sosehr ich es den Syndiks bei Sobek auch heimzahlen wollte, weil sie beziehungsweise ihre Anführer bei den Angriffen auf uns kooperiert hatten, liegt der Fall hier völlig anders. Dieser Syndik-Manager hat Angst um die Leute, die für ihn arbeiten. Er und seine Leute sind nur Spielfiguren bei den Plänen der Syndik-Regierung. Sogar die CEO wird zu einem Verhalten gezwungen, das nicht ihrem Willen entspricht.

»Gut«, sagte er schließlich. »Wäre das alles?«

»Es gibt noch viele weitere Nachrichten in dieser Art«, antwortete Iger. »Ansonsten empfangen wir nur den üblichen Schwall an bruchstückhaften Informationen. Wir können Fragmente aus verschlüsselten Mitteilungen herauslösen und unverschlüsselte Unterhaltungen belauschen, in denen es um geheime Angelegenheiten geht, aber nichts davon ergibt einen Hinweis auf irgendeine Art von Bedrohung, die wir als solche identifizieren könnten.«

»Master Chief Gioninni hat auch keine Ideen«, merkte Desjani an. »Ich wollte ihm Zugang zu den Geheimdienstzusammenfassungen verschaffen, aber dabei hat sich herausgestellt, dass er die bereits gelesen hatte.«

»Wie bitte?«, warf Lieutenant Iger beunruhigt ein. »Master Chief Gioninni steht nicht auf der Liste der Personen, die an Bord der Dauntless auf diese Daten zugreifen dürfen.«

»Ist das nicht eigenartig. Aber machen Sie sich darüber mal keine Sorgen, Lieutenant.«

»Vielleicht brauchen wir niemanden, der mit Hinterlist ans Werk gehen kann«, überlegte Geary laut, ehe ein fassungsloser Iger noch mehr Fragen zu Gioninni stellen konnte. »Vielleicht benötigen wir jemanden, der etwas … entdecken kann …« Jemanden, der in einem Datenberg ein Muster ausfindig machen kann. Jemand, der Dinge sieht, die in einem verwirrenden Schwall aus Daten verborgen sind.

So jemanden haben wir.

»Lieutenant Iger, senden Sie alle in Ihrer Abteilung seit unserer Ankunft gesammelten Daten aus diesem System sofort an die Tanuki. Versehen Sie sie mit dem Vermerk, dass die Übertragung ausschließlich für Lieutenant Elysia Jamenson bestimmt ist.«

Iger sah Geary fassungslos an. »Alle geheimdienstlichen Daten? Wer ist diese Lieutenant Jamenson?«

»Eine Ingenieurin.«

»Eine Ingeni–« Iger musste sich zusammenreißen, erst dann konnte er mühsam beherrscht weiterreden. »Sir, die Geheimhaltungsstufe bei Teilen dieses Materials ist …«

»Ich bin mir der Geheimhaltungsstufen ebenso bewusst wie Ihrer Sicherheitsbedenken. In meiner Funktion als Befehlshaber der Flotte gestatte ich Lieutenant Jamenson mit sofortiger Wirkung, auf Daten aller Geheimhaltungsstufen zugreifen zu dürfen, die sie benötigt, um ihren Job zu erledigen. Sorgen Sie dafür, dass sie alles zu sehen bekommt, was Sie hier zusammengetragen haben. Schicken Sie alle notwendigen Unterlagen, Sicherheitsvereinbarungen und Formulare an die Tanuki, die von Jamenson unterzeichnet werden müssen. Und erledigen Sie das umgehend, Lieutenant Iger.«

»Umgehend. Jawohl, Sir.« Dennoch zögerte er einen Moment lang. »Admiral, ich fühle mich verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, dass dieser Vorgang nach unserer Rückkehr ins Allianz-Gebiet schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Auch wenn Sie zu einem solchen Befehl berechtigt sind, könnte man später die Angemessenheit Ihrer Entscheidung infrage stellen.«

»Dieses Risiko gehe ich ein«, erwiderte Geary. »Und ich möchte festgehalten wissen, dass Sie Ihre Vorbehalte zu Protokoll gegeben haben und ich sie zur Kenntnis genommen habe. Es ist meine alleinige Entscheidung.«

»Jawohl, Sir. Wir stellen die Informationen zusammen und schicken sie so bald wie möglich an die Tanuki

»Und beeilen Sie sich«, betonte Geary noch einmal.

Desjani starrte ihn verdutzt an, aber das ignorierte er für den Moment, stattdessen rief er die Tanuki, kaum dass Igers Bild verschwunden war. »Captain Smythe, ich brauche Lieutenant Jamenson. Keine Sorge, es ist nur ein vorübergehender Auftrag, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Auf der Tanuki wird in Kürze ein Datenpaket von unserem Geheimdienst eingehen, das ausschließlich für Lieutenant Jamenson bestimmt ist. Sie soll sich die Daten ansehen und mir eine Rückmeldung geben, was sie darin erkennt.«

Smythe sah ihn nacheinander mit Sorge, Verwirrung und nun voller Überraschung an. »Geheimdienstmaterial? Lieutenant Jamenson beherrscht ihren Job sehr gut, Admiral, aber das sind Dinge, mit denen sie keine Erfahrung hat.«

»Das ist mir bewusst. Aber der Feind wendet gegen uns neue Taktiken an, und ich will wissen, was jemand aus den verfügbaren Daten macht, der sie aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet.«

»Wie Sie wünschen, Admiral.« Smythes Blick hatte etwas Berechnendes, so als würde er sich fragen: Ist Jamenson noch wertvoller, als ich es bislang gedacht habe?

»Vielen Dank, Captain Smythe. Ich habe vollstes Vertrauen, dass ich auf Sie zählen kann«, sagte Geary und betonte jedes Wort.

Smythe zuckte zusammen, als hätte ihm die Entgegnung einen Stich versetzt, dann lächelte er. »Selbstverständlich, Admiral.«

Geary beendete das Gespräch, dann sah er zu Desjani, die ihn verwundert anschaute.

»Lieutenant Jamenson?«, fragte sie. »Die mit den grünen Haaren.«

»Sie erinnern sich an sie?«

»Es dürfte schwierig sein, sie zu vergessen. Was haben Sie vor?«

»Genau das, was ich gesagt habe«, antwortete Geary. »Vielleicht durchschaut sie ja, was die Syndiks in diesem Sternensystem vor uns verstecken.«

Desjani dachte darüber nach, dann nickte sie verstehend. »Wenn die Syndiks in der Lage sind, etwas vor Gioninni und Jamenson zu verheimlichen, dann können wir auch gleich das Handtuch werfen.«

Geary ließ sich Zeit damit, alles für die Bergung der Gefangenen in die Wege zu leiten. Er ließ die immer noch in der Formation Armadillo befindliche Flotte über dem bewohnten Planeten in Position gehen, dann tasteten die Scanner seines Schiffs das gesamte Gebiet ab, während die Marines Spähdrohnen losschickten, um das Lager aus geringer Höhe sowie auf Bodenniveau auszukundschaften.

Carabali persönlich erstattete ihm Bericht, ihr Bild stand in seinem Quartier, hinter ihr waren mehrere Nahaufnahmen aus dem Lager zu sehen. Soeben zeigte sie auf die Bilder gleich neben ihr. »Mit der ferngelenkten Spähausrüstung konnten wir nichts Auffälliges entdecken. Nach unseren Erkenntnissen befindet sich da unten nichts, was da nicht auch hingehört. Aber diese Erkundungsmethode aus der Ferne ist natürlich nicht erschöpfend. Es gibt zu viele Mittel und Wege, um Signale und Signaturen zu blockieren, die oft genau so ausgerichtet sind, dass sie die Schwächen und Leistungsgrenzen der Ausrüstung ausnutzen. Erst recht gilt so etwas für ein Lager, das gerade erst eingerichtet worden ist. Wonach wir unter anderem suchen, das sind alle neuen Dinge, also neue Betonblöcke, frisch umgegrabene Erde, frisch verputzte Wände, neue Zisternen und andere Lagerflächen. Aber hier ist das gesamte Lager neu, und so was bietet uns keine Ansatzpunkte. Wir wissen, es ist nicht vermint, weil die Leute sich frei bewegen können. Würden die Minen auf einen Befehl hin gesprengt, hätten unsere Geräte das entdeckt. Allerdings sind die Syndiks sehr gut im Aushecken von Sprengfallen. Um ganz sicher zu sein, dass da nichts versteckt worden ist, müssten sich Hunderte von Ingenieuren wochenlang da unten umsehen, alles umgraben und mit der besten Ausrüstung untersuchen, die wir ihnen mitgeben könnten.«

Die unerfreulich vertrauten Kopfschmerzen meldeten sich wieder. »Aber die Erkundung hat ergeben, dass da unten tatsächlich Personal der Allianz festgehalten wird«, merkte Geary an. Er konnte die Leute auf den Bildern sehen, einige von ihnen sogar so deutlich, dass ihr Gesichtsausdruck zu erkennen war und Freunde und Verwandte sie zweifellos identifizieren konnten. Die Mienen der Gefangenen spiegelten Skepsis, Hoffnung, Unglauben und viele andere Gefühlsregungen wider. Es war anzunehmen, dass die Syndiks ihnen nichts davon gesagt hatten, dass der Krieg vorbei war. Sie wussten nicht, in welchem Sternensystem sie sich befanden, und sie hatten nicht damit gerechnet, je wieder befreit zu werden.

»Ja, Sir«, stimmte Carabali ihm zu. »Rund sechstausend. Mit einigen von ihnen haben wir mittels der Ausrüstung reden können. In den letzten Wochen hat man sie aus Gefangenenlagern in anderen Systemen geholt und ohne irgendeine Erklärung hierherverlegt.«

»Was noch?«

Unzufrieden deutete sie auf einzelne Fotos. »Um das Lager herum hat es am Boden in einem Radius von gut siebzig Kilometern sehr viel Aktivität gegeben, aber auch hier konnten unsere Sensoren nicht fündig werden. Es gibt ein dichtes Netz aus gepflasterten und ungepflasterten Straßen, von dem dieser Bereich überzogen ist. Die meisten von ihnen sind sehr stark genutzt worden, sehr wahrscheinlich von Baufahrzeugen und Transportern, die Material aller Art herangeschafft haben.«

»Siebzig Kilometer rings um das Lager?«, vergewisserte sich Geary.

»Ja, Sir. Das passt zu keiner Art von Bedrohung, die mir bekannt ist. Meine Ingenieure haben mir erklärt, wenn ein Projekt in aller Eile verwirklicht wird, dann wird üblicherweise alles abgerissen, ohne Rücksicht zu nehmen auf Rasen und Bäume und anderes Zeugs.« In Gearys Ohren klang Carabali so, als seien ihr »Rasen und Bäume und anderes Zeugs« ebenfalls ziemlich egal, wenn sie etwas Wichtigem im Weg standen.

Wie sollte etwas, das siebzig Kilometer entfernt war, dem Rettungseinsatz für die Gefangenen gefährlich werden? Wenn die Syndiks die Rettungsteams der Flotte mit einer Atombombe auslöschen wollten, dann mussten sie eine solche Bombe mitten im Lager zünden. »Was sagt Ihnen Ihr Gefühl, General?«

Carabali betrachtete die Bilder, nach einer kurzen Pause antwortete sie: »Ich wüsste keinen Grund, warum wir nicht reingehen sollten, um die Leute rauszuholen.«

»Das ist nicht gerade ein überzeugendes Argument für eine solche Vorgehensweise«, stellte Geary fest.

»Ich habe das nicht zu entscheiden, Admiral«, gestand sie ihm ein. »Ich weiche der Frage aus. Wenn ich entscheiden müsste, würde ich reingehen. Ich kann keinen Grund aufführen, warum wir das nicht machen sollten, außer natürlich, dass ich nicht im Mindesten darauf vertraue, dass die Syndiks tatsächlich nichts geplant haben sollten.«

Geary lachte schnaubend. »Jeder, der den Syndiks im Moment vertraut, muss verrückt sein. Was ist mit vergrabenen Atombomben?«

»Falls die dort sind, hat man sie sehr tief vergraben und massiv abgeschirmt.«

Vorgesehen war der Einsatz von achtzig Shuttles; also so gut wie alle Shuttles, die überhaupt zur Verfügung standen. Die mussten trotzdem noch alle jeweils zweimal fliegen, um sämtliche Gefangenen zur Flotte zu bringen. »Was ist das absolute Minimum an Personal, das ich runterschicken muss, um die Evakuierung durchzuführen?«

Nach kurzem Überlegen sagte sie: »Null. Schicken Sie die Shuttles im Automatikmodus runter. Wir können sie so programmieren, dass sie landen, Gefangene an Bord nehmen und zurückkehren. Allerdings laufen wir dann Gefahr, dass die Syndiks die Systeme der Shuttles manipulieren, weil sie unbeaufsichtigt an Bord gelangen könnten. Im schlimmsten Fall beladen sie sie statt mit Gefangenen mit Atombomben, schicken sie zurück und zünden die Bomben, sobald die Shuttles angedockt haben. Nicht ganz so schlimm, aber immer noch unerfreulich wäre es, wenn die Disziplin mit den Leuten durchgeht und sie die Shuttles stürmen, weil jeder als Erster mitgenommen werden will. Die Leute werden sich gegenseitig zu Tode trampeln, wenn sie alle gleichzeitig versuchen, an Bord der Shuttles zu gelangen. Womöglich sorgen sie dabei auch noch für einen Systemausfall der jeweiligen Shuttles. Selbst wenn die Syndiks uns ganz in Ruhe lassen, genügt der Ausfall eines wichtigen Systems an Bord, und schon könnten wir einen Vogel mit all seinen Passagieren verlieren.«

»Wie viele Marines sind nötig, um so etwas zu vermeiden?«

»Was wir dann zusätzlich brauchen, ist jemand, der notfalls Eilreparaturen an den Shuttles erledigen kann, und jemand, der für die Sicherheit sorgt, wenn die Syndiks versuchen sollten, an Bord eines Shuttles zu gelangen, oder wenn die Menge unter Kontrolle gebracht werden muss. Das heißt: Pilot, Co-Pilot, Flugmechaniker und drei Marines für die Sicherheit. Also insgesamt sechs Leute pro Shuttle. Das ist das Minimum, das ich empfehlen würde, Admiral.«

Sechs pro Shuttle. Achtzig Shuttles. Vierhundertachtzig Marines. Ein paar Sekunden lang betrachtete Geary nachdenklich die Bilder. »Also gut. Ich denke, wir müssen es versuchen. Diese sechstausend Gefangenen zählen auf uns. Stellen Sie Ihren Plan zusammen. Ich sorge dafür, dass der dem Planeten zugewandte Teil der Flotte Ihnen Feuerschutz gibt, falls ein paar von den Syndik-Kriegsschiffen, die angeblich keine sind, auf die Idee kommen sollten, die Shuttles anzugreifen.«

Vom Orbit aus betrachtet zeigten Planeten ganz verschiedene Persönlichkeiten. Die alten Standards waren lebendige Planeten wie die Alte Erde, blau und weiß, mit verschiedenfarbigen Flächen, die die Landmassen darstellten. Geary wusste von einem Roten Planeten in der Nähe der Alten Erde, und er hatte unzählige Welten gesehen, deren Persönlichkeiten vom bunten Gasriesen bis hin zur kargen Oberfläche eines kleinen heißen Planeten reichten.

Die bewohnbare Welt im Simur-Sternensystem schien von einem Künstler angemalt worden zu sein, der nur über eine Auswahl an Brauntönen verfügt hatte. Selbst die kleinen Meere wirkten wie morastige Rostflecken. Die Sandwüsten am heißen Nordpol wiesen ein etwas helleres Terrakotta auf. Nahe dem Äquator waren ein paar grüne Flecken zu sehen, dies war jener schmale gemäßigte Streifen, in dem sich Bauernhöfe angesiedelt hatten, die sich dort verzweifelt festzuklammern schienen. Das Gefangenenlager befand sich ungefähr in der Mitte zwischen Äquator und Südpol. Die beim Bau in die Oberfläche geschnittenen Narben rings um das in einer weitläufigen und völlig kargen Ebene gelegene Lager wiesen alle nur erdenklichen Beigeschattierungen auf. Am kalten Südpol zeigte das Land einen schmutzigen Schokoladenton, so wie dicklichen Schlamm, durchzogen von Streifen aus schmutzigem Eis, das so dunkel war, dass man es fast schon als schwarz bezeichnen konnte.

»Was für ein Loch«, murmelte Desjani und sprach aus, was vermutlich jeder in der Flotte bei diesem Anblick dachte.

»Bringen wir es hinter uns, damit wir von hier verschwinden können«, meinte Geary zustimmend. »General Carabali, die Operation kann beginnen. An alle Einheiten der Ersten Flotte: Machen Sie sich darauf gefasst, auf jedes Kriegsschiff zu feuern, das die Shuttles oder das Lager in Gefahr bringt.« Wenigstens waren bei dieser kompakten Formation die Zeitverzögerungen bei der Kommunikation so minimal, dass sie sich nicht mehr wahrnehmen ließen.

Die vier Syndik-Gruppen waren alle weniger als eine Lichtminute entfernt, also nahe genug, um einen Grund zur Sorge darzustellen, aber nicht nahe genug, um eine Verschiebung der Evakuierung zu rechtfertigen. Die Lagerwachen hatten in den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Fahrzeugen die Flucht ergriffen, sodass niemand mehr die Gefangenen bewachte. Dennoch blieben sie gefangen, weil die weite Wüste ringsum jedes Entkommen aussichtslos machte.

Der Planet zog unter der Flotte hindurch, während die Shuttles starteten und in Wellen in Richtung Lager flogen.

Gearys Nerven waren bis zum Äußersten angespannt, während er auf sein Display schaute und nur darauf wartete, dass etwas Unerwartetes geschah und irgendeine Bedrohung enthüllt wurde, nach der sie bislang vergeblich gesucht hatten. Die erste Welle Shuttles drang in die Planetenatmosphäre ein, und als die Flotte hoch oben im Orbit allmählich näher kam, konnte man auch das Gefangenenlager deutlicher erkennen.

Der dringende Ruf, der im nächsten Moment Geary anbrüllte, kam aus einer völlig überraschenden Ecke. Welchen Grund hatte die Tanuki, sich jetzt zu melden?

Geary nahm den Anruf an. Seine Sorge steigerte sich um ein Vielfaches, als er Lieutenant Jamenson sah, deren grünes Haar einen deutlichen Kontrast zu ihrem blassen Gesicht bildete. »Admiral, Sie müssen die Operation sofort abbrechen! Da unten lauert die Mutter aller Fallen auf uns!«

Jamenson wartete Gearys Erwiderung gar nicht erst ab, sondern redete so hastig weiter, dass Geary sie kaum verstehen konnte: »Ich habe es alles zusammengefügt. Tut mir leid … ich … in den Syndik-Kommunikationen werden zwei Ingenieurseinheiten identifiziert. Sie haben sich vor Kurzem in diesem System aufgehalten, und ich kenne die Bezeichnungen für diese Einheiten. Sie sind beide das Gegenstück zu dem, was man in der Allianz als Planetenknacker bezeichnet. Also Ingenieure, die große und supergroße Waffen für ganz spezialisierte Aufgaben benutzen. Zwei von diesen Einheiten, Admiral. Und das Einzige, was hier im System neueren Ursprungs ist, das ist das Lager. Dort wurde sehr viel ausgeschachtet und noch mehr gebohrt. Ich habe die Codes für die Syndik-Ausrüstung wiedererkannt. Sie haben in letzter Zeit einige sehr tiefe Löcher gegraben.«

Fast ohne Pause fügte sie an: »In den Frachtmanifesten, in den Ladungsdokumenten, in den Bestellungen für Transporte und in den Gesprächen der Leute untereinander tauchen ein paar seltsame Materialien auf, mit denen man für sich genommen wenig anfangen kann. Wenn man sie aber zusammenführt, dann erinnert einen das an ein Forschungsprojekt der Allianz, das es vor gut fünfzig Jahren mal gegeben hat. Der Codename … ach, der ist jetzt auch egal … auf jeden Fall lautete der Spitzname für dieses Projekt Continental Shotgun. Dabei vergräbt man jede Menge sehr starke nukleare Munition und benutzt die bei ihrer Explosion entstehende Energie, um einen gewaltigen Partikelstrahl entstehen zu lassen. Das Projekt zielte darauf ab, ein Areal von hundert Quadratkilometern Planetenoberfläche in ein für kurze Zeit existierendes, sehr dichtes Feld aus Partikelstrahlen zu verwandeln, mit dem sich eine Invasionsflotte auslöschen lässt, sobald sie über dieses Gebiet hinwegfliegt.«

Jamenson musste einmal hastig Luft holen, bevor sie weiterreden konnte. »Das Projekt wurde jedoch abgebrochen, weil die Waffe letztlich den Planeten auslöschte, den sie eigentlich beschützen sollte. Die seismischen Folgen von so zahlreichen und gewaltigen Explosionen, die Masse an Planetensubstanz, die ins All geschleudert wurde, die immense nukleare Verseuchung … das alles zusammen führte dazu, dass der betroffene Planet praktisch nicht mehr bewohnt werden konnte. Hinzu kam natürlich das Problem, dass eine Invasionsflotte genau über diese Stelle hinwegfliegen musste, was sich nicht garantieren ließ.«

Wieder ließ sie eine kurze Verschnaufpause folgen. »Außerdem gibt es etliche Hinweise darauf, dass Senior-Befehlshaber der Inneren Sicherheit in den letzten Tagen den Planeten verlassen haben. Und mit ihnen ihre Familien. Ihr Ziel war offenbar etwas, das man als Luxusferienanlage auf dem größten Mond der bewohnbaren Welt bezeichnen kann – einem Mond, dessen Orbit ihn nie über das Gebiet hinwegführt, auf dem das neue Lager errichtet worden ist.«

Geary fragte sich, wie bleich er wohl in diesem Moment aussah. Lieutenant Iger hatte ihm zwar Berichte zukommen lassen, wonach Senior-Personal den Planeten verließ, aber das war das typische Verhalten hochrangiger Syndiks, wenn Gefahr drohte. Es war nichts, was ihn hellhörig gemacht hatte. Jetzt wurde ihm erst klar, dass die vier kleinen Kriegsschiffgruppen der Syndiks sich zu keinem Zeitpunkt genau über dem Gefangenenlager aufhielten. Wegen der anhaltenden Attacken dieser Gruppen hatte Geary die Flotte weiter in der augenblicklich extrem kompakten Formation gehalten, die sie zur perfekten Zielscheibe für einen gewaltigen Beschuss mit Partikelstrahlen machte, sobald sie ihre Position über dem Gefangenlager einnahm, um die Shuttles bei ihrer Operation vor Beschuss aus dem Orbit zu schützen, während die auf dem Planeten landeten.

Und damit auf einer riesigen Atombombe von unvorstellbarer Sprengkraft.

Ihm war kaum bewusst, wie er die Komm-Taste betätigte, die den Notkanal öffnete. »An alle Einheiten, hier spricht Admiral Geary. Brechen Sie sofort den Landevorgang ab! Ich wiederhole: Brechen Sie den Landevorgang ab und kehren Sie sofort zurück zu Ihren Schiffen!«

Kann ich den Kurs ändern, bevor die Shuttles zurückgekehrt sind? Wie viel Zeit bleibt mir? Ich kann das verdammte Lager sehen. Werden die Syndiks diese unfassbare Bombe zünden, wenn sie sehen, dass wir die Operation abbrechen? Werden sie versuchen wollen, so viele Shuttles wie möglich zu erwischen? Oder werden sie nichts tun und stattdessen darauf warten, dass wir hierher zurückkehren?

Sie müssen glauben, dass wir zurückkehren werden.

»Gesandte Rione, nehmen Sie sofort Kontakt mit den Syndik-Behörden auf und sagen Sie ihnen, wir müssen die geplante Operation abbrechen und verschieben, weil es Probleme wegen … einer möglichen Kontaminierung gibt. Wir glauben, unter den Gefangenen könnte eine uns unbekannte Krankheit grassieren. Deshalb werden wir die Testergebnisse noch einmal überprüfen müssen, bevor wir landen und Gefangene an Bord holen.«

Rione musterte ihn, da sie von Gearys erschrecktem Tonfall offensichtlich überrascht worden war. »Sofort? Ich sende die Nachricht sofort ab und stelle sicher, dass sie auch bei ihnen ankommt. Wie ernst ist es?«

»Es könnte gar nicht ernster sein, aber lassen Sie sich nicht anmerken, dass Sie besorgt sind. Lassen Sie es nach einer bürokratischen Hürde aussehen.«

»Ich bin eine gute Lügnerin«, gab Rione zurück. »Es ist schon so gut wie erledigt.«

»Tanya, wie schwierig wäre es, die Größe dieser Formation zu verdoppeln? Damit der Abstand zwischen den Schiffen um diesen Faktor vergrößert wird, meine ich.«

Desjani war bereits auf ihn konzentriert gewesen. Was Lieutenant Jamenson gesagt hatte, wusste sie zwar nicht, doch ihr war klar, dass Geary aus irgendeinem Grund zutiefst erschrocken war. Deshalb hielt sie sich nicht mit Gegenfragen auf, sondern sagte: »Das ist gar nicht schwierig.« Dann schienen ihre Finger auch schon über ihr Display zu fliegen. »Schon fertig. Ich kann die veränderte Formation an die Schiffe übermitteln, sobald Sie den Befehl geben. Und wenn Sie Zeit haben, lassen Sie mich wissen, was los ist.«

»Wir haben sie unterschätzt«, antwortete er, ohne den Blick von seinem Display abzuwenden. Die Shuttles machten kehrt und nahmen wieder Kurs auf die jeweiligen Schiffe. Einige von ihnen waren bereits in die Atmosphäre eingetaucht, die sie nun wieder verlassen mussten.

Eine weitere dringende Nachricht erreichte ihn, diesmal von Carabali.

»Was ist denn los, Admiral?«, fragte sie. »Warum wurde die Operation abgebrochen?«

»Ich werde Ihnen alle Einzelheiten erklären, sobald ich Zeit habe. Bringen Sie nur die verdammten Shuttles so schnell wie möglich zurück.«

Rione meldete sich. »CEO Gawzi ist in Kenntnis gesetzt worden. Sie möchte wissen, wie bald wir die Operation fortsetzen werden.«

Er sah sich die Orbitaldaten an. Wenn die Flotte auf ihrem momentanen Kurs blieb, dann befand sie sich wieder über dem Gefangenenlager in … »In eineinhalb Stunden. Sagen Sie, dass wir in eineinhalb Stunden die Gefangenen rausholen werden. Sorgen Sie dafür, dass sie Ihnen abnimmt, dass wir das auch tatsächlich so machen werden.«

Victoria Rione wusste ebenfalls, wann der verkehrte Zeitpunkt war, um Fragen zu stellen, also tat sie genau das, worum er sie bat. »Ja, Admiral.«

Was konnte er sonst noch machen? »Wir müssen alles nach völliger Routine aussehen lassen, ausgenommen natürlich die Landeoperation«, sagte Geary. »Jedenfalls so lange, bis die Shuttles zurück an Bord sind. Kann ich irgendeine Änderung an unserem Orbit vornehmen, mit der wir unsere Flugbahn über den Planeten verlagern können, ohne dass die Shuttles irgendwelche Probleme mit der Rückkehr zur Flotte bekommen?«

»Wem wollen wir denn aus dem Weg gehen?«, erkundigte sich Desjani.

»Einem Gebiet mit einem Durchmesser von gut siebzig Kilometern, dessen Mittelpunkt das Lager ist.«

»Ernsthaft? Wir können unseren Orbit um ein paar Grad in Richtung Äquator verlagern. Das wird bei der Bergung der Shuttles sogar hilfreich sein. Und wir streifen nur ganz am Rand das Gebiet, das Ihnen Sorgen bereitet.«

Geary gab den Befehl und saß dann nur da, um auf sein Display zu starren. Die Shuttles näherten sich der Flotte, die zuletzt gestartete Welle hatte fast wieder ihre Schiffe erreicht.

»Admiral?«, hakte Desjani nach.

»Admiral!«, meldete sich Rione in diesem Moment. Vor Geary tauchte wieder ihr Bild auf. »Diese Syndik-CEO ist noch nervöser als zuvor. Sehr viel nervöser. Aber sie sagt, sie erwartet von uns, dass wir in eineinhalb Standardstunden damit beginnen, die Gefangenen abzuholen. Wenn ich weiß, warum ich lüge, kann ich Ihre Befehle besser ausführen«, fügte sie spitz hinzu.

Es würde eine halbe Stunde dauern, eine sehr lange halbe Stunde, ehe alle Shuttles zurück an Bord waren. Geary wandte sich an Carabali und Rione und sprach dann so, dass auch Desjani mitanhören konnte, was Lieutenant Jamenson herausgefunden hatte.

»Die gesamten Landeteams würden ausgelöscht werden«, stellte Carabali mit finsterer Miene fest. »Und sämtliche Gefangenen da unten würden ebenfalls in ihre Atome zerrissen werden.«

»Wir würden schwere Schäden erleiden«, ergänzte Desjani. »Man kann schlecht sagen, wie viele Treffer genau sie erzielt hätten, aber wenn ein dichtes Feld aus Partikelstrahlen sich durch unsere sehr dichte Formation frisst, dann würde uns das Dutzende Schiffe kosten. Ganz zu schweigen davon, in welchem Zustand anschließend die Schiffe wären, die nicht völlig zerstört würden.«

»Und sie würden uns die Schuld in die Schuhe schieben«, sagte Rione. »Davon können wir ausgehen. Die Syndik-Herrscher auf Prime würden verkünden, dass wir diesen Planeten bombardiert und damit diese Katastrophe ausgelöst haben. Kein Wunder, dass CEO Gawzi so nervös dreinschaut. Ihr Planet steht kurz davor, halb zerrissen und verstrahlt zu werden, was den größten Teil der noch verbliebenen Bevölkerung auslöschen würde.«

»Ein entbehrlicher Planet in einem entbehrlichen Sternensystem«, stimmte General Carabali ihr zu. »Wenn man nur kaltblütig genug ist, dann ist das eine völlig logische Überlegung. Wann werden wir den Gefahrenbereich verlassen haben?«

»Sobald die Shuttles an Bord sind und wir uns vom Planeten entfernen können«, sagte Geary.

»Und was wird aus den Gefangenen in diesem Lager?«, wollte Rione wissen.

»Wenn Lieutenant Jamenson recht hat, können die Gefangenen nur überleben, wenn wir uns von der Falle fernhalten. Entweder überzeugen wir die Syndiks, dass sie sie zu uns bringen, oder wir lassen sie zurück.« Kaum hatte er ausgesprochen, verspürte er einen bitteren Geschmack im Mund. Wir lassen sie zurück. Sie sollten Militärpersonal der Allianz hier zurücklassen. Männer und Frauen, die zum Teil vielleicht schon seit Jahrzehnten von den Syndiks festgehalten wurden. Die durch die Erkundungsdrohnen der Marines wussten, dass Allianz-Schiffe im Orbit kreisten, und die das eine oder andere Allianz-Shuttle beobachtet hatten, wie es sich ihnen näherte und auf einmal kehrtmachte. »Wir werden tun, was wir können, um sie da rauszuholen«, erklärte er. Es klang unglaubwürdig und bürokratisch.

Ich werde allmählich zu gut darin, bürokratische Formulierungen zu verwenden.

»Zehn Minuten bis zur Rückkehr aller Shuttles«, meldete Lieutenant Yuon.

»Admiral«, sagte Rione. »CEO Gawzi befindet sich auf dem Planeten. Wissen wir, wo das übrige Senior-Personal ist?«

»Wir wissen, dass die Senior-Befehlshaber der Inneren Sicherheit den Planeten verlassen haben.«

»Erinnern Sie sich an Lakota? Wo eine Syndik-Flotte den Befehl erhielt, aus nächster Nähe ein Hypernet-Portal zu zerstören?«

»Und die man nicht davor gewarnt hatte, was sie erwartete?«, gab Geary zurück. »Ja. Ich habe mitbekommen, wie ein ehemaliger Syndik-Offizier bei Midway sagte, dass die Syndik-Führer niemanden gewarnt hatten.«

Rione nickte und lächelte missmutig. »Sie können davon ausgehen, dass die Junior-Angehörigen der Inneren Sicherheit derzeit die CEO und wohl auch andere wichtige Vertreter mit Waffengewalt in Schach halten. Die Leute, die die Waffe zünden, haben keine Ahnung, was sie da eigentlich auslösen werden. Und diese Waffe muss von Menschen gezündet werden, weil sie viel zu wichtig ist, als dass man sich auf ein automatisiertes System verlassen kann, das womöglich eine Fehlfunktion erleidet. Vielleicht sollten wir ihnen sagen, was sie erwartet.«

»Aber die CEO weiß es doch«, warf Carabali ein. »Warum sollte sie es den anderen nicht sagen?«

»Ich weiß es nicht. Womöglich weiß sie, dass es übel sein wird, aber sie hat keine Ahnung von den tatsächlichen Dimensionen. Oder man hat ihr eine mentale Blockade implantiert, die verhindert, dass sie darüber reden kann.«

»Barbaren«, spie Carabali aus.

Daraufhin sah Rione wieder zu Geary, doch anstatt dieses heikle Thema zu vertiefen, kehrte sie mit ihren nächsten Worten zu dem zurück, worüber sie unmittelbar davor gesprochen hatten. »Soll ich eine Mitteilung an die Bürger des Simur-Sternensystems ausarbeiten?«

»Machen Sie das«, bekräftigte Geary. »Aber senden Sie nichts, was ich nicht zuvor freigegeben habe.«

»Was ist mit der ausgedehnten Formation?«, wollte Desjani wissen.

»Damit warten wir noch. Erst mal müssen wir uns so weit wie möglich von der Falle entfernen, und dann stellen diese vier Gruppen unsere Hauptbedrohung dar. Die Tänzer halten sich immer noch dicht bei der Invincible auf, den Vorfahren sei Dank. Und wenn das Glück weiter auf unserer Seite ist, werden sie dort auch bleiben.«

Sieben Minuten später war auch das letzte Shuttle in seinen Hangar zurückgekehrt. Geary holte seine Flotte aus dem Orbit dicht um den Planeten und ließ sie in einen neuen Orbit jenseits der Flugbahnen der Monde einschwenken, die um die Welt kreisten. Damit waren sie weit genug von dem Gefahrengebiet gleich über dem Gefangenenlager entfernt. Die Tänzer blieben weiter in der Nähe der Invincible und bereiteten Geary ausnahmsweise einmal kein zusätzliches Kopfzerbrechen.

»Was sollen wir tun?«, fragte Desjani leise. »Die Bewohner dieses Sternensystems können keine Rebellion anzetteln, wenn sich so viele Syndik-Kriegsschiffe hier aufhalten, von denen sie daraufhin bombardiert werden könnten. Wir können uns nicht in die Nähe des Lagers begeben. Die Syndiks können uns nichts anhaben, solange wir diese Formation beibehalten. Aber im Gegenzug hält uns unsere Formation davon ab, dass wir uns diese Syndiks vornehmen können.«

»Eine Pattsituation«, bestätigte Geary. »Und noch schlimmer als zuvor. Ich weiß nicht, Tanya. Die Syndik-CEOs spielen so falsch, wie es nur geht. Wie gehen wir dagegen vor? Wie holen wir die Gefangenen da raus, wenn sie buchstäblich auf einem riesigen Pulverfass sitzen?«

Sie begann den Kopf zu schütteln, unterbrach sich dann aber, setzte sich gerader hin und sah ihn eindringlich an. »Wie wird die Waffe abgefeuert? Wenn wir den Zünder abschalten, dann können wir die Gefangenen rausholen.«

Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile verspürte er wieder einen Anflug von Hoffnung. »Das ist eine Idee, mit der wir uns näher befassen sollten.« Es war Zeit, sich wieder bei Lieutenant Jamenson zu melden.

»Aber erst mal«, schlug Desjani ihm vor, »sollten Sie den übrigen Befehlshabern der Flotte sagen, was hier eigentlich los ist.«

Der kleine Konferenzraum musste für diese Treffen nicht per Software virtuell erweitert werden. Geary, Desjani, Rione und Lieutenant Iger waren persönlich anwesend, die virtuell Eingeladenen waren Captain Smythe, Lieutenant Jamenson, General Carabali sowie eine Commander Hopper, die von Smythe vorgestellt wurde als »eine Zauberin, eine Hexerin, die sich mit allem auskennt, was mit Komm-Verbindungen, Verschlüsselungen und ferngesteuerten Signalen zu tun hat«. Ob es stimmte, musste Geary dahingestellt lassen, auf jeden Fall strahlte die schlanke Frau mittleren Alters eine beruhigende Aura und Kompetenz aus.

»Haben Sie noch irgendetwas finden können?«, wollte Geary als Erstes von Lieutenant Jamenson wissen.

Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen wirkten durch die Anspannung leicht glasig. Ihr grünes Haar bildete unverändert einen deutlich Unterschied zu ihrer nach wie vor fahlen Haut. »Nein, Sir. Hatte ich recht, Sir?«

»Das glauben wir schon. Captain Smythe?«

Der Mann lächelte schief. »Mir wäre das nicht aufgefallen. Ich habe zuvor allerdings auch noch nie von einem solchen Projekt gehört. Aber nachdem ich mir Lieutenant Jamensons Resultate angesehen habe, muss ich ihnen zustimmen.«

Lieutenant Iger nickte missmutig. Eine Ingenieurin war auf eine gewaltige Bedrohung gestoßen, die eigentlich von Igers Team hätte entdeckt werden müssen. Aber für Iger sprach auf jeden Fall, dass er nicht versucht hatte, Jamensons Erkenntnisse in Abrede zu stellen. »In den Geheimdienstakten stand nichts über dieses Programm, aber nach dem zu urteilen, was uns die Ingenieure geliefert haben, passt das alles zusammen, Admiral. Entweder die Syndiks haben von den Experimenten der Allianz gehört und sie nachgebaut, oder aber sie sind ganz von allein auf diese Idee gekommen.«

»Sie wollen sagen, die Syndiks könnten so etwas aus eigener Kraft entwickelt haben?«, fragte Rione.

»Aber ja«, gab Smythe zurück. »Als Ingenieur gesprochen ist das ein richtig cooles Konzept. Die dicke fette Bombe, die alle anderen dicken, fetten Bomben alt aussehen lässt. So was würde ich gern bauen und zünden, nur um mir das Spektakel ansehen zu können. Aber natürlich benötigt man dafür einen Planeten, der für nichts anderes mehr gebraucht wird.«

Rione sah Smythe an und zog eine Augenbraue hoch. »Mein Eindruck von der Syndik-CEO fügt sich in unsere übrigen Schlussfolgerungen ein. Von Anfang an war sie sonderbar interessiert daran, dass wir die Gefangenen aus dem Lager holen, und dann wurde sie extrem nervös, als wir die Evakuierung abgebrochen haben. Sie hat wiederholt nach dem Grund für die Verzögerung gefragt und schwammige Warnungen ausgesprochen, dass etwas passieren könnte, wenn wir die Gefangenen nicht bald rausholen.«

»Die wollen, dass wir wieder hinfliegen«, erklärte Iger.

»Was wissen wir über den Zünder dieser Waffe?«, fragte Geary in die Runde. »Wir können nicht dagegen vorgehen, ohne gleichzeitig die Gefangenen zu töten.«

Smythe spreizte die Hände, dann wanderte sein Blick von Jamenson zu Hopper, gleich darauf zu Iger. »Die wenigen Unterlagen, die uns zu dem Konzept vorliegen, enthalten keine Details zu diesem Punkt.«

»Der Zünder ist die Schwachstelle«, erklärte Jamenson. »Man kann sich nicht einfach eine solche Waffe hinstellen und dann riskieren, dass sie versehentlich hochgeht. Oder dass sie nicht hochgeht, wenn sie es eigentlich soll. Der Zünder muss extrem zuverlässig und extrem gesichert sein.«

»Eine Überlandleitung?«, warf Smythe.

»Eine gepanzerte Überlandleitung«, stimmte Hopper ihm zu. »Und vergraben, um sie zusätzlich zu schützen.«

»Müsste es dann nicht nur einen einzelnen Ort geben, von dem aus der Feuerbefehl erteilt werden kann?«, überlegte Jamenson.

Diesmal nickte Hopper zustimmend. »Ein einziger Standort. Mehrere Standorte würden das Risiko eines verirrten Signals nur unnötig erhöhen, außerdem besteht dann eine erhöhte Gefahr, dass sich jemand in die Kabel einklinkt, die außerdem erst noch mit viel Aufwand verlegt worden sein müssen. Vor allem hat man bei nur diesem einen Ort die Lage viel besser unter Kontrolle. Und der Zünder darf nur der hochrangigsten Autorität auf dem Planeten zugänglich sein. Das Ganze ist ja schließlich eine richtige Weltuntergangswaffe.«

»Wie stehen unsere Chancen, dass wir dieses Kabel ausfindig machen und es durchtrennen oder umlenken können?«, wollte Carabali wissen.

»Astronomisch winzig«, gab Hopper zurück. »Das kann nicht einfach ein Standardkabel sein. Es muss massiv gepanzert und gegen Strahlung abgeschirmt werden, außerdem würde man es mit mehreren Lagen eines Materials überziehen, das eine Entdeckung oder Durchdringung verhindern soll. Ganz zu schweigen von einer Menge Sensoren, die dem gleichen Zweck dienen. Ich bin mir sicher, man könnte nicht mal eine Nanosonde nahe genug an ein solches Kabel heranbringen, ohne irgendeinen Alarm auszulösen.«

»Damit bleibt nur noch der Zünder«, sagte Carabali.

»Ja. Wenn Sie an den Zünder kommen, können Sie entweder die Bombe vorzeitig hochgehen lassen oder verhindern, dass ein anderer sie zündet. Aber erst einmal müssen Sie wissen, wo der Zünder ist, und dann müssen Sie ihn unter Ihre Kontrolle bringen. Er dürfte sich an einem Ort befinden, der besser gesichert ist als alles andere auf diesem Planeten.«

»Können wir unbemerkt ein Einsatzteam auf den Planeten bringen?«, wollte Geary wissen.

»Ja, Admiral«, antwortete Carabali. »Der größte Teil der ausgefallenen Verteidigungsanlagen in diesem System ist von den Syndiks nicht wieder instandgesetzt worden. Es gibt nur wenige orbitale und atmosphärische Sensoren, und die sind zudem völlig veraltet. Normalerweise würde ich keine Scouts in Tarnpanzerung durch die Atmosphäre in ein streng bewachtes Gebiet absetzen, aber unter den gegebenen Umständen sollte es ihnen möglich sein, ihr Ziel unentdeckt zu erreichen.«

»Aber wo setzen wir die Scouts ab?«, fragte Desjani.

Lieutenant Jamenson schien von Desjanis Äußerung überrascht zu sein. »Natürlich an dem Punkt, der am strengsten bewacht wird.«

Iger grinste Jamenson an, seine düstere Laune war Enthusiasmus gewichen – und vielleicht noch etwas anderem, wenn man den Blick sah, den er der grünhaarigen Ingenieurin zuwarf. »Und wo dieser Punkt ist, das wissen wir bereits.« Iger tippte in rascher Folge etwas auf seinen Kontrollen ein, gleich darauf nahmen über dem Konferenztisch gestochen scharfe Bilder Gestalt an. »Kein neu errichtetes Gebäude, aber in jüngerer Zeit umgebaut und ganz in der Nähe der zentralen Kommando- und Kontrolleinrichtung des Planeten, die wiederum nicht weit von den Hauptverwaltungsgebäuden der Syndiks entfernt ist. Sehen Sie die Risse im Straßenbelag auf dem Weg, der zu der besagten Stelle führt? Dort hat man schweres Material transportiert. Und diese Signaturen weisen auf ein umfassendes lokales Sensornetz hin, das sich der neuesten Syndik-Technologie bedient.«

Carabali nickte und betrachtete aufmerksam die Bilder. »Da gibt’s auch neue Verteidigungsbunker. Sehen danach aus, als wären sie automatisiert. Aber da sind noch mindestens drei mit Wachposten besetzte Punkte. Eine mehrschichtige Verteidigung, massiv getarnt. Wie sind Sie an diese Aufnahmen gekommen?«

Mit stolzgeschwellter Brust, aber nach wie vor im sachlichen Tonfall antwortete Iger: »Wir haben das Syndik-Hauptquartier identifiziert und getarnte Drohnen losgeschickt, um Daten zu sammeln, als wir uns dem Planeten das erste Mal näherten. Wir hatten geplant, die Drohnen zurückzuholen, wenn die Gefangenen aus dem Lager zur Flotte transportiert werden sollten. Da diese Operation dann abgesagt wurde, sitzen unsere Drohnen seitdem da unten fest, und wir haben die Gelegenheit genutzt, uns etwas gründlicher auf dem Planeten umzusehen.«

»Gut gemacht«, lobte Carabali. »Wo sind die Drohnen jetzt? Immer noch aktiv?«

»Ja, Ma’am.« Iger hatte sichtlich Mühe, sich ein strahlendes Lächeln zu verkneifen. Ein Lob von einem Befehlshaber der Marines an den Geheimdienst der Flotte war alles andere als alltäglich. »Die Drohnen kreisen nach dem Zufallsprinzip und beobachten derzeit nur oberflächlich, um Energie zu sparen.«

»Und die Syndiks haben nicht mitbekommen, dass die Drohnen Signale an uns senden?«, erkundigte sich Geary.

»Nein, Sir«, erwiderte Iger überzeugt. »Hätten sie ein halbwegs brauchbares Satellitennetz im Orbit, dann wären sie wohl eher in der Lage, das eine oder andere Signal abzufangen, auch wenn wir mit gerichteten Impulsübertragungen arbeiten. Aber das vorhandene Satellitennetz ist alt und äußerst löchrig.«

Desjani tippte mit einem Finger auf den Tisch und schaute unzufrieden drein. »Ist das nicht ein bisschen zu offensichtlich? Warum haben sie diese Löcher nicht gestopft, als das schwere Gerät hergeschafft wurde?«

»Wahrscheinlich, weil ihnen niemand den Einsatzbefehl erteilt hat«, meinte Smythe und lächelte nachsichtig. »Jemand hätte auch vorausahnen müssen, dass der Straßenbelag Risse bekommen könnte, und er hätte festhalten müssen, dass diese Risse auf eine Weise zu beheben sind, die nicht erkennen lässt, dass überhaupt am Straßenbelag gearbeitet worden ist. Nachdem die Risse entstanden sind, wird irgendwem aufgefallen sein, dass sie beseitigt werden müssen. Aber damit das auch geschieht, muss der Einsatzbefehl geändert werden, was wiederum von allen vorgesetzten Stellen in der Befehlskette abgesegnet werden muss, und dann …«

»Mit anderen Worten«, unterbrach Geary ihn, »die Genehmigung, diese Risse zu flicken, wird in ein paar Jahren erteilt werden.«

»Wenn sie Glück haben und überhaupt jemals die Genehmigung erteilt wird«, bestätigte Smythe. »Der größte Teil der Arbeiten wurde recht gut erledigt. Hier und da hat man ein wenig geschludert, aber die müssen sich damit auch unglaublich beeilt haben. Diese nachlässig gearbeiteten Stellen haben Lieutenant Igers Drohnen überhaupt erst dazu veranlasst, sich auf bestimmte Punkte zu konzentrieren. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, Admiral, es ist nie verkehrt, Ingenieuren genug Zeit zu geben, damit sie ihre Arbeit ordentlich erledigen können.«

»Sobald ich Zeit im Überfluss habe«, konterte Geary ironisch, »lasse ich Ihnen auch genug Zeit. Können wir das hier mit einer realistischen Aussicht auf Erfolg durchziehen? Wie viele Marines können Sie runterschicken, General?«

»Genauso viele wie zuvor«, sagte Carabali. »Dreißig. So viele wie wir Tarnrüstungen haben. Ob dreißig Leute den Job erledigen können … Wenn ich mir diese Bilder ansehe, würde ich sagen, es ist machbar. Aber ich muss mit meinen erfahrensten Leuten reden und mir anhören, was sie dazu meinen.«

Desjani verzog den Mund. »Wir müssen den Einsatz der Marines und die Bewegungen der Flotte und Shuttles so aufeinander abstimmen, dass alles in einer zeitlich extrem genauen Reihenfolge abläuft. Ich mag es nicht, wenn Abläufe eine solche Präzision erfordern, aber uns bleibt wohl keine andere Wahl. Und wie holen wir die Marines zurück, wenn alle Gefangenen befreit sind?«

»Ich glaube, das können unsere Schlachtschiffe erledigen«, sagte Geary. »General, besprechen Sie sich mit Ihren Fachleuten und geben Sie mir anschließend ein klares Ja oder Nein. Gesandte Rione, Sie nehmen bitte noch einmal mit der Syndik-CEO Kontakt auf und sagen ihr, dass die militärische Bürokratie mit allen ihren Vorschriften immer noch alles aufhält, dass wir aber weiterhin so bald wie möglich in den Orbit zurückkehren werden, um die Gefangenen abzuholen. Lieutenant Iger, Ihre Drohnen sollen das Gebiet aufmerksam beobachten und so viele Daten wie nur möglich sammeln, ohne dabei entdeckt zu werden. Stellen Sie sicher, dass Lieutenant Jamenson alle neuen Informationen erhält. Lieutenant Jamenson, Sie machen mit dem weiter, was Sie bislang gemacht haben. Commander Hopper, was immer Sie den Marines über den vermutlichen Aufbau des Zünders sagen können, wird den Leuten weiterhelfen. Nehmen Sie unmittelbar mit General Carabali Kontakt auf, aber halten Sie auch Captain Smythe auf dem Laufenden.«

Commander Hopper seufzte und hatte einen schicksalsergebenen Gesichtsaufdruck aufgesetzt. »Ich werde mit den Marines runtergehen müssen.«

»Was?«, riefen Geary, Smythe und Carabali gleichzeitig.

»Es gibt zu viele Unwägbarkeiten, was den Zünder angeht, und die Kommunikation könnte unterbrochen werden, wenn die Syndiks merken, was wir vorhaben. Sie brauchen jemanden, der sich den Zünder ansehen und sagen kann, was damit gemacht werden muss.«

»Meine Scouts …«, begann Carabali.

»Wenn die eine falsche Bewegung machen, verlieren wir sechstausend Gefangene«, unterbrach Hopper sie. »Dieser Zünder wird nichts Routinemäßiges sein. Er dürfte so aufgebaut sein, dass alle herkömmlichen Techniken zum Scheitern verurteilt sind. Ihre Scouts sind nicht so ausgebildet, dass sie damit zurechtkommen könnten.«

»Schaffen Sie eine getarnte Landung?«, fragte Smythe. »Und können Sie mit den Marines mithalten?«

»Ich werde es müssen.«

Carabali musterte Hopper und nickte. »Dann wollen wir mal sehen, ob Sie das können. Ich brauche Sie so bald wie möglich auf der Mistral, damit wir feststellen können, wie Sie sich im Simulator schlagen.«

»Sie ist noch zäher, als sie aussieht«, meinte Smythe.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, ordnete Geary an. »Dann an die Arbeit.«

Nachdem die Bilder der anderen verschwunden waren, blieb Lieutenant Iger noch sitzen. »Admiral, was Lieutenant Jamenson angeht …«

»Sind Sie immer noch besorgt, dass sie geheime Daten einsehen darf?«, fragte Geary.

»Nein, Sir, keineswegs. Sie wäre ein ungeheurer Gewinn für die Geheimdienstabteilung der Dauntless, wenn sie auf unser Schiff versetzt werden könnte. Ich bin davon überzeugt, dass wir … ähm … gut zusammenarbeiten würden.«

»Verstehe.« Da Iger mit dem Rücken zu den beiden stand, konnte er nicht sehen, was Geary sah – dass nämlich Desjani und Rione beide amüsiert über die Worte des Mannes grinsten. Als sie allerdings bemerkten, dass die andere genauso reagierte, wurden prompt beide wieder ernst. »Finden Sie nicht, dass Lieutenant Jamensons Haare Sie zu sehr ablenken würden?«

»Ihre Haare?«, wiederholte Iger. »Ich … ähm … das ist mir gar nicht aufgefallen. Also … ähm … nein, Sir, das finde ich nicht.«

Geary nickte ernst und war froh darüber, dass ein lebenslanger Umgang mit Matrosen ihn hatte lernen lassen, wie man sich in Situationen wie dieser ein Grinsen verkniff. »Ich werde über Ihre Empfehlung nachdenken, Lieutenant. Allerdings habe ich Captain Smythe versprochen, dass ich ihm Lieutenant Jamenson nicht wegnehmen werde. Außerdem erledigt sie auf der Tanuki derzeit wichtige Aufgaben für mich.«

»Ah, ich verstehe, Admiral. Ich würde niemals …«

»Aber mein Versprechen gegenüber Captain Smythe bedeutet ja nicht, dass Sie ihr nicht einen anderen Posten anbieten dürfen. Reden Sie ruhig mit ihr darüber.«

»Ja, Sir.« Iger salutierte hastig und eilte aus dem Konferenzraum. Er hielt nur kurz an, um die Luke aufzuhalten, da Rione ihm nach draußen folgte.

Als die Luke geschlossen war, musste Desjani lachen. »Ein ungeheurer Gewinn?«

»Das wäre sie tatsächlich«, bestätigte Geary.

»Und ich bin mir absolut sicher, dass Lieutenant Iger an nichts anderes gedacht hat.« Dann wurde sie wieder ernst. »Diese Operation wird verdammt schwierig werden.«

»Ja, ich weiß.«

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