Siebzehn

Die Alte Erde war weiter von ihnen entfernt als die »Schild von Sol«-Kriegsschiffe. Da überraschte es nicht, dass von dort noch keine Reaktion eingegangen war, als vom gegnerischen Schiff eine Rückmeldung auf Gearys Antwort empfangen wurde.

Der schrille Befehlshaber des Kriegsschiffs, der Geary augenblicklich an Desjanis Spitznamen Ordensständer denken ließ, klang diesmal nicht nur gelangweilt, sondern auch noch entrüstet, als hätte Geary ein Schwerverbrechen begangen. »Ich bin Seine Exzellenz Kapitän Kommodore Ersten Ranges, Stellare Wache der Faust des Volkes, Earun Tavistorevas, Landesherr des Schildes von Sol. Sie werden den vollen Titel benutzen, wenn Sie einen Offizier von meinem Rang anreden. Mich interessiert nicht, welche Befehle Sie von den vulgären Führern Ihrer barbarischen Gesellschaft erhalten haben. Sie werden hier meine Befehle befolgen. Wenn Sie nicht sofort anhalten und alle offensiven und defensiven Waffen abschalten, werde ich Sie genauso auslöschen wie einen jeden Vertreter dieser tramontanen Unreinheit, die Sie in unser Zuhause gebracht haben.«

»Ich glaube nicht, dass er verhandeln will«, stellte Desjani fest, als die Übermittlung zu Ende war. Ihre Worte klangen unbeschwert, aber ihr Gesichtsausdruck sprach eine andere Sprache. Geary kannte den Grund dafür. Die »Schild von Sol«-Schiffe hatten sich der Dauntless inzwischen genähert. Mit einer Geschwindigkeit von 0,23 Licht waren sie schnell genug, um den Allianz-Schlachtkreuzer innerhalb weniger Stunden einzuholen und zu überholen. Die vielen anderen Raumfahrzeuge, die im Sol-Sternensystem unterwegs waren, hatten längst ihren Kurs geändert, um sich in Sicherheit zu bringen. Diese ausnahmslos zivilen Schiffe wären mit ihren ursprünglichen Flugbahnen allzu leicht der Dauntless und den sie verfolgenden Kriegsschiffen des Schildes von Sol in die Quere gekommen.

Offenbar rechneten sie mit dem Schlimmsten.

Die Tänzer blieben wie gehabt dicht bei der Dauntless, aber war das wirklich zu ihrem Besten? Wäre es vielleicht sicherer für sie, wenn er sie aufforderte, sich von der Dauntless zu entfernen und in alle Richtungen davonzufliegen, Kurs auf das Hypernet-Portal zu nehmen und nach Hause zu fliehen? Aber was, wenn sie nicht auf ihn hörten? Wie sollte er für ihren Schutz sorgen, und wie sollte die Dauntless gerettet werden? Andererseits, waren sie nicht sowieso im System gefangen? Ohne Hypernetschlüssel konnten sie das Portal nicht nutzen; und der befand sich schließlich auf der Dauntless. Oder konnten sie es doch? Sie waren schließlich schon für viele Überraschungen gut gewesen.

Um sich von seinen Überlegungen abzulenken, sagte Geary an die Brückencrew gewandt: »Hat irgendjemand eine Idee, warum er immer wieder Begriffe verwendet, die mit Reinheit und Vulgarität zu haben?«

Von allen Seiten bekam er nur ein Kopfschütteln als Antwort, also wiederholte er die Frage an Lieutenant Iger gerichtet.

»Nein, Sir. Diese Leute scheinen diese Begriffe für irgendetwas Besonderes zu halten.«

»Zu der Erkenntnis war ich auch schon gelangt«, sagte Geary und unterbrach die Verbindung zu Iger abrupt, was sonst nicht seine Art war.

Etwas störte ihn. Irgendetwas, das jenseits seiner bewussten Wahrnehmung lauerte, so wie eine riesige Bestie, die sich permanent außer Sichtweite aufhielt, dabei aber nahe genug war, dass er ihre Gegenwart spüren konnte.

Er starrte auf sein Display und bemerkte, dass sein Magen ungewöhnlich verkrampft war. Er konnte mitverfolgen, wie sein Atem immer schneller ging und dabei flacher und flacher wurde. Es kam ihm vor, als hätte sich irgendetwas in seiner Luftröhre verkantet.

»Admiral.«

Das hatte er schon einmal erlebt, in einer Situation, wo er sich als nicht gut genug für die ihm gestellte Aufgabe erwiesen hatte.

»Admiral!«

Desjanis Tonfall durchdrang die Starre, die ihn beim Blick auf das Display erfasst hatte. Er drehte den Kopf in ihre Richtung.

Sie musterte ihn überrascht, dann abschätzend. »Was ist los?«

Als er versuchte, ihr eine Antwort zu geben, da bewirkte diese Anstrengung, dass er endlich begriff, was ihn so aufgewühlt hatte. Warum jetzt? Ich kann mir jetzt keine Rückblende erlauben. Ich dachte, das hätte ich hinter mir. Was immer ihm das Atmen unmöglich machte, hielt ihn auch davon ab, ein Wort herauszubringen.

Desjani beugte sich weiter vor und zischte ihm leise und energisch zu: »Verdammt, Jack, was ist los?«

Er sah ihr in die Augen und brachte nur ein Wort heraus. »Grendel.«

»Grendel?«, wiederholte sie ratlos, doch dann auf einmal wurde ihr alles klar. »Grendel. Sie, ein Schiff – alles spricht gegen Sie. Sie wollen einen Konvoi beschützen. Das hier ist das erste Mal, dass Sie sich mit einer ähnlichen Situation wie bei Grendel konfrontiert sehen.«

Er nickte. Dank sei den Vorfahren, dass sie es verstanden hat und dass ich ihr nicht etwas erklären muss, was ich selbst nicht so ganz begreife. Das hier ist nicht Grendel.

»Das hier ist nicht Grendel«, sagte sie, kaum dass ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen war.

Dann sprudelten die Worte nur noch aus ihm heraus: »Tanya, mein Schiff wurde um mich herum in Stücke geschossen, der größte Teil meiner Crew war tot. Wenn das noch einmal passiert …«

»Das hier ist mein Schiff, Admiral. Wenn die Dauntless in Stücke geschossen wird, dann werde ich bis zuletzt auf der Brücke bleiben und kämpfen.«

Geary sah sie sekundenlang an. »Und Sie meinen, jetzt fühle ich mich besser?«

Sie beugte sich wieder zu ihm vor, und diesmal griff sie nach seinem Handgelenk. Es war die Art von Körperkontakt, die sie normalerweise vermieden, um der Gerüchteküche über den Admiral und seine Ehefrau, den Captain, keine Nahrung zu geben. »Hören Sie, wenn ich hier sterbe sollte, dann wird das nicht nur Ihre Schuld gewesen sein, sondern auch meine. Das ist mein Schiff, ich bleibe bis zum Schluss, während Sie dafür sorgen, dass sich alle in die Rettungskapseln begeben, wenn das wirklich unser Schicksal sein sollte. Uns ist zu wenig gemeinsame Zeit gewährt worden, aber eigentlich hätten wir uns niemals begegnen können. Sie hätten vor hundert Jahren sterben müssen. Das haben Sie damals nicht gemacht, und ich werde es heute nicht tun.«

»Tanya …«

»Hören Sie, ich bin davon überzeugt, dass ich mit der Dauntless besser umgehen kann als die adretten Jungs und Mädchen auf ihren dekorierten Schiffen da draußen. Im Kampf Schiff gegen Schiff würde ich sie zunichtemachen. Aber wir haben es mit einem ganzen Rudel von ihnen zu tun, und ich brauche jemanden, der die gesamte Situation im Griff hat, jemanden, der den Überblick bewahrt und der in der Lage ist, unseren Ordensständer zu überlisten und auszutricksen. Gemeinsam können wir das schaffen. Aber das ist jetzt nicht der Augenblick für belastende Erinnerungen, die Sie aus der Ruhe bringen. Wenn das passiert, wenn Sie weiche Knie bekommen, dann sind wir tot. Also? Werden Sie weiche Knie bekommen?«

»Nein!«

Sie reagierte mit einem entschlossenen, fast schon boshaften Grinsen. »Da haben Sie verdammt recht. Sie haben noch nie weiche Knie bekommen, und Sie werden auch nicht jetzt damit anfangen. Vergessen Sie Ihre Erinnerung oder vergraben Sie sie oder stellen Sie irgendwas anderes damit an, bis wir diese Typen besiegt haben. Schaffen Sie das, oder soll ich einen Doc rufen, damit er Ihnen was für Ihren Kopf gibt?«

»Ja.« Erst nachdem er geantwortet hatte, wurde ihm bewusst, wie ruhig und nachdrücklich er das eine Wort ausgesprochen hatte. »Ich schaffe das. Aber lassen Sie trotzdem einen Doc auf die Brücke kommen. Jeder hier kann mir anmerken, wie sehr mich das Ganze mitnimmt, und die Leute sollen sehen, dass ich verantwortungsvoll damit umgehe. Was Ihnen zu verdanken ist. Womit habe ich Sie bloß verdient?«

»Das weiß ich auch noch nicht, aber wenn ich die Antwort darauf finde, werde ich es Sie wissen lassen, Admiral. Aber das hier ist meine Pflicht, Admiral. Vergessen Sie nicht, dass ich das ohne Rücksicht auf denjenigen mache, der in diesem Sessel sitzt.« Desjani ließ ihn los und lehnte sich auf ihrem Platz nach hinten, dann tippte sie auf eine der internen Komm-Kontrollen. »Krankenstation, wir benötigen eine Kopfuntersuchung auf der Brücke. Nichts Bedenkliches, nur ein paar Sicherheitsvorkehrungen.«

Geary rieb sich das Kinn und ließ seinen Blick beiläufig von einer Station zur nächsten wandern. Wie erwartet tat jeder so, als sei ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen, was den Admiral und den Captain anging. Die Fähigkeit, so zu tun, als nehme man keine Notiz vom Verhalten eines vorgesetzten Offiziers, gehörte mit zu den wichtigsten Eigenschaften, um in der Flotte zu überleben – und vermutlich galt das für jeden Zweig des Militärs während der gesamten Menschheitsgeschichte.

»Also gut. Selbst wenn wir nicht beschleunigen, bleiben uns noch ein paar Stunden, um eine neue Position einzunehmen.« Er hatte gelernt, solche Dinge auf die richtige Weise auszudrücken. Die Flotte, die von einem Jahrhundert Krieg Narben davongetragen hatte und auf die Ehre fixiert war, trat nie den Rückzug an, und sie floh auch nicht vor einem Verfolger. Nein, sie nahm eine neue Position ein. »Wir sind in verschiedenen Punkten im Vorteil.«

»Richtig. Wir sind schneller.« Desjani deutete auf ihr Verhältnis. »Wir haben mehr Masse als diese Megakreuzer, aber auch einen größeren Hauptantrieb, sodass sich ein besseres Verhältnis zwischen Schubkraft und Masse ergibt. Angenommen ihre Trägheitsdämpfer sind nicht leistungsfähiger als unsere, dann können wir besser wenden und besser beschleunigen.«

Er blickte nachdenklich auf sein Display. »Sonst noch was?«

»Sie sind schwächer gepanzert als wir.« Sie betrachtete ebenfalls ihr Display. »Was die Bewaffnung angeht, passt das allerdings überhaupt nicht. Die müssen über mehr Waffen verfügen, als wir erkennen können. Das kann ich nicht als einen Vorteil bezeichnen. Vielleicht besitzen sie ja keinen Nullfeld-Generator, aber um den einzusetzen, müssten wir sehr dicht an sie herankommen. Aber sie könnten auch eine ganz andere Waffe haben, die genauso todbringend ist.«

»Auch kein Vorteil«, merkte Geary an. »Was noch?«

»Wir haben Sie.«

Unwillkürlich musste er lächeln. »Und Sie. Die verdammt beste Schiffsführerin der Flotte.«

Im Gegenzug begann sie zu grinsen. »Und meine Crew«, ergänzte sie. »Jeder von uns kennt seine Aufgaben sehr genau.«

Geary hielt inne, weil er nachdenken wollte, da wurde er vom Komm-Wachhabenden unterbrochen. »Captain, wir empfangen eine Nachricht von den Behörden des Sol-Sternensystems.«

»Stellen Sie sie zum Admiral und zu mir durch«, befahl sie.

Geary schaute aufmerksam auf das vor ihm auftauchende Komm-Fenster. Irgendwie hatte er erwartet, dass die Menschen von der Alten Erde anders aussahen. Älter. Weiser. Klüger. Aber die zwei Frauen und der Mann, die in dem Fenster Gestalt annahmen, sahen nicht anders aus als all die anderen Menschen, mit denen er je gesprochen hatte. Vielleicht war da eine Spur von Ermüdung rund um ihre Augen zu erkennen, Ausdruck eines Alters, das über die Jahre hinausging, die ihre Gesichter verrieten. Ihre Kleidung hatte nichts von dem übertriebenen Schmuck der Besatzungen der Kriegsschiffe; sie waren von schlichtem Schnitt, die Farben vermittelten des Gefühl, verschossen, aber immer noch intensiv zu sein.

»Wir grüßen das Schiff Dauntless der Allianz«, sagte eine der Frauen. »Wir sind über alle Maßen begeistert zu hören, dass Sie Kontakt mit einer nichtmenschlichen Spezies aufnehmen konnten, und freuen uns über die Aussicht auf ein mögliches Zusammentreffen mit den Botschaftern der Spezies, die Sie mitgebracht haben. Bedauerlicherweise – und das werden Sie inzwischen sicher festgestellt haben – ist das Sol-Sternensystem von einer Streitmacht des Bundes der Ersten Sterne besetzt worden, die von sich behauptet, zu unserem Schutz da zu sein. Wir haben gegen ihr Verhalten protestiert, und seit zwanzig Jahren versuchen wir, eine Einigung über die notwendigen Prozeduren zu erzielen, um eine Koalition mit anderen Mächten in der näheren Umgebung eingehen zu können, damit die Bundes-Kriegsschiffe des Systems verwiesen werden können. Diese Anstrengungen haben sich jedoch als sehr komplex erwiesen, da Sol einen Sonderstatus einnimmt und die Sorge besteht, dass man aggressive Akte des Bundes gegen andere provozieren könnte. Es hat in dieser Region des Weltalls seit Jahrzehnten keine größeren Konflikte gegeben, und in den letzten zweihundert Jahren ist es zu keinem richtigen Krieg mehr gekommen.«

»Sie versuchen seit zwanzig Jahren, sich allein darauf zu einigen, ob sie überhaupt irgendetwas unternehmen sollen?«, brach es aus Desjani heraus.

»Ja«, sagte Geary. »Rione hat anscheinend recht gehabt, als sie davon sprach, wie man im Sol-Sternensystem Dinge erledigt – oder auch nicht erledigt. Das verhindert zwar Aggressionen, aber die Verteidigung bleibt auch auf der Strecke. So viel zum Thema, dass Sol eine einzigartige Oase des Friedens und der Harmonie inmitten der von Menschen besiedelten Sternensysteme ist.«

Die Frau von der Alten Erde redete immer noch. »Wir können Ihnen leider keinerlei Unterstützung gegen die Militärstreitmacht des Bundes bieten. Deswegen bitten wir Sie inständig, so zu verfahren, wie Sie es für am besten halten. Bedenken Sie dabei immer, dass Sie sich in der Heimat der Menschheit befinden. Es ist sinnvoller, dass Sie und die Vertreter der fremden Spezies in Sicherheit sind, als dass Sie unnötige Risiken eingehen. Ich bin Dominika Borkowski, für das Volk und die Heimat. Ende.«

»Lassen Sie diese Nachricht bitte an unsere Senatoren und Delegaten weiterleiten.«

Sie gab den entsprechenden Befehl, dann wandte sie sich wieder Geary zu. »Was glauben Sie, was die damit anfangen werden?«

»Ich weiß nicht. Vermutlich werden sie darüber debattieren, was sie darauf antworten sollen. Was aber können wir damit anfangen?«

»Sie haben uns immerhin freie Hand gegeben«, betonte Desjani.

»Das liegt aber nur daran, dass sie nicht wissen konnten, dass sie es mit Tanya Desjani zu tun haben«, konterte er ironisch.

Ein medizinischer Assistent kam auf die Brücke, scannte Geary und reichte ihm gleich darauf ein Arzneipflaster, das seine Ausrüstung nach der Analyse der Scanwerte auswarf. Geary klebte es auf die Haut, während der Assistent auch noch den Rest der Brückencrew scannte. Die eigentliche Wirkung der Medikamente würde zwar erst in ein paar Minuten eintreten, aber er fühlte sich schon jetzt besser, weil er wusste, dass eine Linderung bald erfolgen würde und er dann wieder klar denken konnte.

»Also gut«, sagte er. »Ich werde den Behörden des Sol-Sternensystems eine Antwort schicken.« Er setzte sich gerader hin und ließ von Tanya kurz prüfen, ob seine Uniform richtig saß, dann tippte er auf die Antwort-Taste.

»Hier spricht Admiral Geary von der Allianz-Flotte, militärischer Senior-Befehlshaber an Bord der Dauntless. Vielen Dank für Ihre Antwort und Ihre Warnung. Die Repräsentanten der Allianz-Regierung an Bord der Dauntless formulieren derzeit eine offizielle Erwiderung, aber zwischenzeitlich wären wir sehr dankbar für jegliche Informationen, die Sie über den Bund selbst und über dessen Kriegsschiffe besitzen. Diese Schiffe blockieren unseren Rückweg zum Hypernet-Portal, und momentan befinden sie sich auf einem Abfangkurs zu uns und den Schiffen der Tänzer, die zu beschützen wir geschworen haben. Es kann also sein, dass wir tatsächlich nicht anders können, als alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um uns und die Tänzer zu verteidigen. Ihre Informationen könnten uns dabei sehr von Nutzen sein. Bei unseren Maßnahmen werden wir den besonderen Status dieses Sternensystems berücksichtigen. Im Gegensatz zum Bund streben wir nicht danach, Gewalt anzuwenden. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«

Er lehnte sich zurück und betrachtete sein Display, ohne dabei richtig wahrzunehmen, dass das gesamte Brückenpersonal ihn beobachtete und darauf wartete, dass Black Jack einen Weg fand, die Dauntless und die Tänzer zu retten und gleichzeitig dem Ordensständer und den Schiffen des Bundes ein wenig Demut einzubläuen.

»Tanya, nehmen wir einmal an, unsere Regierungsvertreter werden unendlich lang darüber diskutieren, wie sie am besten vorgehen sollen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Rione ihr Bestes geben wird, um sie möglichst lange zu beschäftigen, damit wir lange Zeit Ruhe vor ihnen haben. Ich glaube, wir sollten den Tänzern sagen, dass sie weiter in Richtung Alte Erde fliegen sollen, während wir kehrtmachen und uns diese Bundes-Schiffe vornehmen.«

»Guter Plan«, entgegnete sie. »Allerdings … Gut, ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass ich mir über diesen diplomatischen Kram Gedanken mache – aber vielleicht wäre es dieses eine Mal ganz gut, wenn wir sicherstellen könnten, dass sie zuerst feuern.«

»Damit wir unbestreitbar in Notwehr handeln? Hätten Sie auch einen Vorschlag, wie das bewerkstelligt werden soll, Captain Desjani?«

»Ja, den habe ich, Admiral Geary.« Mit Gesten unterstrich sie ihre Ausführungen, wie sie sich ihren Plan vorstellte. »Wir bremsen die Dauntless auf 0,05 Licht ab und lassen die Tänzer mit 0,1 Licht in Richtung Alte Erde weiterfliegen, während die Bündler uns viel schneller einholen. Die Bündler fordern uns auf, die Schilde abzuschalten, und wir erzählen ihnen, dass wir das nicht machen, und das mit einer Wortwahl, die diesen Ordensständer in Bezug auf unsere Einstellung noch unglücklicher machen wird. Wenn wir in Reichweite gelangen, wird er das Feuer eröffnen, aber in dem Moment geht die Dauntless auf maximale Beschleunigung, sodass wir der ersten Salve entgehen, und dann kriegen sie von uns einen Tritt in den Hintern.«

»Ein interessanter Plan«, fand Geary. »Allerdings ist der letzte Teil etwas vage gehalten.«

»Wir werden eben improvisieren müssen.«

Die Medikamente hatten zu wirken begonnen. Die lauernde Bestie war aus seinem Kopf verschwunden, und Geary konnte sein Display mit klarem Verstand betrachten. Die Vergangenheit war jetzt wieder nur ein Faktor, der sich einbeziehen ließ, um zu sehen, welche Taktiken im Hier und Jetzt von Nutzen sein konnten. »Es ist riskant. Wir wissen nicht, was ihre Raketen zu leisten imstande sind.«

Desjani rief ein Bild der Bundes-Formation auf, das zwischen ihr und Geary schwebte. »Haben Sie sich das angesehen? Passen Sie auf.« Sie gab einen weiteren Befehl ein, dann wurden die Kriegsschiffe durch geschwungene Linien miteinander verbunden. Das Ergebnis war …

»Ein Vogel?«, murmelte Geary, der seinen Augen nicht trauen wollte. »Sie haben ihre Schiffe so angeordnet, weil das ein schönes Bild ergibt?«

»Ja. Sehen Sie sich noch mal die vier Korvetten und Megakreuzer an den Seiten an. Wir konnten doch nicht dahinterkommen, warum die sich dort befinden. Das lag daran, dass wir versucht haben, die Funktionsweise dieser Formation in taktischer Hinsicht zu ergründen. Aber wenn Sie nur nach dem Erscheinungsbild gehen, dann bilden je zwei Korvetten und ein Megakreuzer auf jeder Seite einen Flügel.«

»Die Vorfahren mögen uns beistehen. Die bereiten sich auf ein Gefecht mit uns vor, indem sie eine Paradeformation einnehmen.«

»Diese Frau von der Alten Erde«, legte Desjani nach, »sprach davon, dass es hier seit Jahrzehnten keine Kämpfe und seit Jahrhunderten keinen richtigen Krieg mehr gegeben hat. Stellen Sie sich unser Flottenhauptquartier vor, wenn es keine Erfahrung mit Raumschlachten gehabt hätte, die Einfluss auf ihre Entscheidungen haben könnten. Jahrzehnt für Jahrzehnt gibt es keinen Konflikt, in dem man die Brauchbarkeit einer Formation testen kann. Irgendwann legt man nur noch auf das Erscheinungsbild Wert, nicht auf die Funktionalität, während Waffen und Design nach bürokratischen Maßstäben beurteilt werden, aber nicht danach, ob sie eigentlich ihren Zweck erfüllen oder nicht. Und die Offiziere erhalten ihre Auszeichnungen in Abhängigkeit davon, wie exzentrisch sie ihre Frisur gestalten.«

»Der Ordensständer.« Er schaute auf sein Display und sah den Mann auf einmal mit anderen Augen. »Aber sie haben mehrere Schiffe, wir dagegen nur eins. Was ist, wenn ein paar von ihnen die Tänzer verfolgen?«

»Diese Witzbolde könnten die Tänzer-Schiffe allenfalls dann einholen und erwischen, wenn die Tänzer das zulassen würden«, entgegnete Desjani.

»Stimmt. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Tänzer sich aus allem Ärger heraushalten werden. Damit bleiben noch die Alte Erde und die übrigen historischen Stätten hier im Sternensystem. Wir können das Risiko nicht eingehen, dass die einen Treffer abbekommen.«

Sie sah ihn eindringlich an. »Sie glauben doch nicht etwa, dass sie das Feuer auf die Heimat eröffnen werden, oder?«

»Ich weiß es nicht.« Sein Blick wanderte zu der blau-weißen Kugel vor ihm auf dem Display. »Sie und ich, wir sehen diese Welt und können uns nicht vorstellen, ihr etwas anzutun. Doch die Krater auf der Oberfläche zeugen davon, dass andere Menschen in der Vergangenheit Steine auf unsere Heimat geschleudert haben. Was Menschen früher einmal gemacht haben, können sie immer wieder tun. Deshalb dürfen wir es nicht wagen, dass sich diese Verfolgungsjagd bis in den Orbit der Alten Erde hinzieht. Je tiefer wir in das System vordringen, umso näher kommen wir Orten wie der Heimat oder Mars und Venus. Außerdem sind uns da die hin und her pendelnden Schiffe im Weg. Wir müssen das hier draußen hinter uns bringen, wo das All leerer ist, und wir müssen dafür sorgen, dass die Bündler auf uns konzentriert bleiben.«

Das hatte bei Grendel auch funktioniert. Jedenfalls in ausreichendem Maß.

Wenn die Dauntless hier stirbt, wenn Tanya bis zum Ende bleibt, dann werde ich bei ihr bleiben. Was soll’s denn? Ich hatte eine gute Zeit. Einmal habe ich zwar alles verloren, aber jetzt werde ich nicht alles verlieren, was mir etwas bedeutet.

Bei den Vorfahren! Was soll sein, wenn sie im Gefecht stirbt, aber ich nicht?

Dazu darf es nicht kommen. Ich werde dafür sorgen, dass das nicht passiert.

»Also gut, Captain Desjani. Wir werden Ihren Plan umsetzen. Warten Sie noch ein paar Minuten, dann reduzieren Sie die Geschwindigkeit der Dauntless auf 0,05 Licht.« Geary betätigte die interne Komm-Taste. »Delegat Charban, hatten Sie Erfolg?«

Charban zuckte mit den Schultern. »Kann ich noch nicht sagen.«

»Die Dauntless wird deutlich abbremsen, aber wir möchten, dass die Tänzer ohne uns in Richtung Alte Erde weiterfliegen. Können Sie ihnen klarmachen, dass die anderen Kriegsschiffe unsere Feinde sind, die uns und auch sie wahrscheinlich attackieren werden, wenn sie in Reichweite gelangen?«

»Bruderfeinde«, entgegnete Charban. »Das Konzept verstehen die Tänzer. Ich werde ihnen sagen, dass sie mit dem weitermachen sollen, was sie tun, und dann wollen wir hoffen, dass sie sich auch daran halten werden.«

Die Steuerdüsen der Dauntless wurden gezündet, worauf sich das Schiff zu drehen begann, bis der Bug in die Richtung zeigte, aus der sie gekommen waren und aus der sich ihnen die Formation des Bundes näherte. Die Hauptantriebseinheiten erwachten zum Leben, um das Schiff abzubremsen. Dabei fiel Geary auf, dass Desjani nur die Hälfte der Antriebsmodule eingesetzt hatte. Wenn die Bundes-Schiffe die Manövrierfähigkeit der Dauntless auf der Basis dieser Werte kalkulieren sollten, würden sie sich gründlich verrechnen.

Durch dieses Manöver schrumpfte die Zeit bis zum Zusammentreffen mit den Verfolgern rasch zusammen, und Lieutenant Yuon meldete gleich darauf: »Noch vierzig Minuten, dann werden die Bundes-Kriegsschiffe in der Lage sein, auf uns zu feuern, sofern ihre Waffenreichweite der unseren entspricht.«

Geary nickte beiläufig, da er die Tänzer nicht aus den Augen lassen wollte. Sie hatten zwar die Drehung der Dauntless zunächst mit vollzogen, aber jetzt drehten sie sich in die andere Richtung und flogen mit unveränderter Geschwindigkeit weiter. So weit, so gut. »Tanya, wenn wir die geschätzte Reichweite ihrer Raketen erreicht haben, überlasse ich es Ihnen, wann Sie mit der Dauntless welche Manöver vornehmen wollen.«

»Danke, Admiral.« Desjani sah zu ihren Wachhabenden. »Versetzen Sie die Dauntless in volle Gefechtsbereitschaft, allerdings ohne dass die Senatoren davon auch nur einen einzigen Ton mitbekommen. Sorgen Sie dafür, dass sie in ihrem Abteil nichts zu hören kriegen.«

Geary nickte überzogen. »Wir wollen sie ja nicht bei ihrer Diskussion stören. Dafür ist die viel zu wichtig.«

»Ah … ja, richtig. Lasst das alle wissen, Leute.«

In den Korridoren und Abteilungen, in denen tags zuvor noch ausgelassen gefeiert und gelacht worden war, herrschte jetzt rege Betriebsamkeit, da Offiziere und Matrosen zu den Gefechtsstationen eilten. Echte Waffen wurden scharfgemacht, echte Ziele wurden erfasst, und weder Jupiters Dreizack noch Callistos Bogen würden diesmal über das Resultat entscheiden.

»Alle Abteilungen melden volle Gefechtsbereitschaft«, sagte Lieutenant Castries.

Vor Desjani tauchte das Bild von Master Chief Gioninni auf. »Captain, als Senior-Unteroffizier an Bord dieses Schiffs möchte ich den Vorschlag unterbreiten, dass Sie erklären, was los ist. Es kursieren alle möglichen Gerüchte, und da wir hier im Sol-Sternensystem sind, machen sich die Leute über andere Dinge als sonst üblich Gedanken.«

»Ein guter Vorschlag, Master Chief«, stimmte Desjani ihm zu. »Admiral Geary wird zur Crew sprechen.«

Werde ich das?

»Vielen Dank, Captain.« Dann verschwand Gioninnis Bild.

»Sobald Sie bereit sind, Admiral«, sagte Desjani und lächelte ihn an.

»Vielen Dank, Captain«, gab Geary zurück und wiederholte absichtlich Gioninnis Worte. »Haben Sie zufällig noch eine Kopie von meiner Ansprache? Ich habe nämlich offenbar mein Exemplar verlegt, und ich kann mich kaum noch daran erinnern, was ich sagen wollte.«

»Nein, leider nicht. Aber ich weiß noch, um was es im Kern ging«, antwortete Desjani völlig selbstverständlich und ließ sich nicht anmerken, dass sie lediglich improvisierte. »Es ging um die Verteidigung von Sol und der Alten Erde gegen Aggressoren, die uns bereits ins Visier genommen haben.«

»Da wäre ich nie drauf gekommen«, kommentierte er und ordnete einen Moment lang seine Gedanken. »Unsere Chancen stehen bedenklich schlecht, Tanya. Wie soll ich der Crew Hoffnung machen, wenn jedem bewusst sein dürfte, in welcher Lage wir uns befinden?«

»Wir brauchen keine Hoffnung«, erwiderte sie. »Keiner von uns hat gehofft, den Krieg gegen die Syndiks zu überleben, und es hat auch niemand gehofft, das Ende dieses Krieges miterleben zu dürfen. Wir konnten darauf hoffen, die nächste Schlacht zu gewinnen, aber selbst wenn alles gegen uns sprach, haben wir wie die Wahnsinnigen gekämpft. Hoffnung ist etwas für Menschen, die davon ausgehen, dass sie eine bessere Zukunft erleben werden. Wir haben vor langer Zeit aufgehört, von so etwas auszugehen, stattdessen haben wir gelernt, ohne einen solchen Glauben zu leben. Bis wir Sie gefunden haben. Ist Ihnen das nie bewusst gewesen?«

Er benötigte ein paar Augenblicke, ehe er sagte: »Ich schätze nein.«

»Erzählen Sie den Leuten einfach, dass wir uns diesen Kampf nicht ausgesucht haben, dass wir ihn aber trotzdem gewinnen werden.«

»Na gut.« Er gab dem Komm-Wachhabenden ein Zeichen, damit der das Komm-System so schaltete, dass er überall an Bord zu hören war, nur nicht in dem Abteil, in dem die Senatoren und Rione diskutierten. »Hier spricht Admiral Geary. Wie Sie vermutlich schon gehört haben, sind wir bei unserem Eintreffen im Sol-Sternensystem darauf aufmerksam geworden, dass eine der Regierungen aus den umliegenden Sternensystemen eine Kriegsflotte hergeschickt und damit gegen die Unverletzlichkeit von Sol verstoßen hat. Diese Kriegsschiffe haben die Bewohner von Sol bedroht, und sie haben von uns gefordert, dass wir uns ihnen ergeben sollen. Von den Bewohnern Sols wurde uns mitgeteilt, sie seien nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Wir werden von denjenigen angegriffen, die das Sol-Sternensystem und die Alte Erde bedrohen. Wir haben den Kampf nicht gesucht, und wir haben ihn auch nicht herbeigeführt. Aber da die Kriegsschiffe der Aggressoren unseren Weg zum Hypernet-Portal blockieren, da sie die Tänzer bedrohen und eine Gefahr für die Alte Erde selbst darstellen und da sie auf Abfangkurs zu uns gegangen sind, bleibt uns keine andere Wahl, als zu kämpfen. Die Chancen stehen zwar nicht gut, aber da wir kämpfen müssen, werden wir auch gewinnen.«

Er konnte nur hoffen, dass der Jubel der Crew nicht von den Senatoren gehört wurde, und falls doch, würden die mit ein wenig Glück glauben, dass es immer noch etwas mit dem Feierlichkeiten vom Tag zuvor zu tun hatte. »Ich würde sagen, das war ganz gut«, wandte er sich an Tanya.

»Es wäre noch besser gewesen, wenn Sie nur das weitergegeben hätten, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Was ich gesagt habe, kam dem ziemlich nahe.«

»Sie sind nicht mein Redakteur, Admiral.« Mit einer Hand tippte sie leicht auf ihre Armlehne. »Eine halbe Stunde bis zum Kontakt. Es wird den Senatoren vermutlich auffallen, wenn wir Gefechtsmanöver fliegen.«

»Vermutlich ja.« Mehr sagte er nicht dazu.

»Eine weitere Nachricht von den Kriegsschiffen«, meldete der Komm-Wachhabende.

Der Ordensständer schien verärgert und verblüfft zugleich zu sein; wie jemand, der es nicht gewöhnt war, dass man sich ihm widersetzte, und der daher nicht so recht wusste, wie er damit umgehen sollte. »Ihnen geht allmählich die Zeit aus, um die Ihnen erteilten Anweisungen auszuführen. Es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, Anordnungen zu wiederholen. Schalten Sie jetzt die Schilde ab, und verringern Sie Ihre Geschwindigkeit, sonst werde ich alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit und Unversehrtheit dieses Systems zu gewährleisten.«

Geary tippte auf die Antwort-Taste. »Es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, Befehle eines unbedeutenden Befehlshabers einer unbedeutenden Streitmacht zu befolgen, die eine unbedeutende Ansammlung an Sternensystemen repräsentiert. Beenden Sie sofort alle aggressiven Aktivitäten in diesem Sternensystem und ändern Sie sofort Ihre Vektoren, um dieses System mittels einer Methode Ihrer Wahl zu verlassen. Sol kann sich nicht selbst verteidigen. Aber wir können es, und wir werden es, so wie wir auch uns selbst verteidigen werden. Geary, Ende.«

Desjani grinste ihn an. »Ich glaube, die Senatoren wären mit dieser Wortwahl bestimmt nicht einverstanden.«

»Ganz sicher nicht.« Ob es Rione gelingen würde, die Senatoren zu beschäftigen, bis die Dauntless ins Gefecht zog? Die Chancen würden sich nur noch weiter verschlechtern, wenn ihnen jemand in den Plan pfuschte, den sie sich überlegt hatte. »Mir fällt gerade etwas ein.«

»Etwas Gutes oder etwas Schlechtes?«

»Etwas Gutes. Da Rione eine Stimme hat, kommen insgesamt vier Stimmen zusammen. Die drei Senatoren unter sich hätten nach einigem Hickhack mit zwei zu eins für eine gewisse Vorgehensweise stimmen können. Aber bei vier Stimmen kann Rione jedes Mal in die andere Richtung tendieren, wenn sich eine Mehrheit abzeichnet, und so für ein Patt sorgen. Senator Navarro muss gewusst haben, dass sie dazu in der Lage sein würde, und vermutlich hat er deswegen sein Stimmrecht auf sie übertragen.« Sowenig Navarro für das hässliche Taktieren übrighat, unter dem die Allianz so leidet, war er trotzdem raffiniert genug, um sich einen Weg zu überlegen, wie er mich vor allen Einmischungsversuchen durch die Senatoren bewahren kann. Aber wenn er vorausgeahnt hat, dass so etwas erforderlich würde, hat er dann auch geglaubt, dass ich in eine Situation wie diese geraten könnte? Wusste er, dass jemand versuchen würde, diesen Hinterhalt bei Sol zu planen? Oder hat Navarro einfach nur für den schlimmsten Fall vorsorgen wollen?

»Zehn Minuten bis zum Erreichen des geschätzten Gefahrenbereichs«, sagte Lieutenant Yuon.

»Werden Sie den Bug auf sie gerichtet lassen?«, wollte Geary wissen. Die Dauntless flog seit der Drehung um hundertachtzig Grad zur Verringerung der Geschwindigkeit immer noch recht schnell rückwärts durchs All.

»Bis zu dem Moment, an dem ich damit rechne, dass sie ihre Raketen auf uns abfeuern werden«, bestätigte Desjani. »Ich will, dass meine stärksten Waffen und die stärksten Schilde in ihre Richtung weisen.«

Die verbleibenden Minuten verstrichen mit der Langsamkeit, die sich immer dann einstellte, wenn man auf den kritischen Moment wartete. Sobald die Dauntless in den Gefahrenbereich der gegnerischen Raketen gelangte, blieben nur noch Sekunden, um zu reagieren, doch bis dahin lehnte sich Geary mit gelassener Zuversicht zurück und wartete ab, dass Desjani den Befehl gab. Sie schien gar nicht mehr wahrzunehmen, dass er neben ihr saß, so sehr war sie auf ihr Display fixiert.

»Wir erreichen …«

Lieutenant Yuon unterbrach sich, als die Dauntless sich nach unten bewegte und mit maximalem Schub ihrer Hauptantriebseinheiten beschleunigte. Zugleich zündeten die Steuerdüsen an der Backbordseite, sodass das Schiff auf einer Strecke von etlichen Zehntausend Kilometer um die eigene Achse schleuderte.

Geary hielt sich an seinem Sessel fest, da die Trägheitsdämpfer die auf das Schiff einwirkenden Fliehkräfte nicht mehr ausgleichen konnten. Die Dauntless reagierte mit einem tiefen Ächzen auf diese Überbeanspruchung. Auf seinem Display kennzeichneten rote Warnsymbole eine Raketensalve, die eine scharfe Kurve beschreiben musste, um der Dauntless noch folgen zu können.

»Sie haben zuerst gefeuert«, sagte Desjani. »Erbitte Erlaubnis, das Feuer zu erwidern.«

Die Bundes-Schiffe hatten nicht nur das Feuer eröffnet, sie hatten auch gleich einen ganzen Schwarm Raketen auf sie abgefeuert, statt erst einmal einen einzelnen Warnschuss abzugeben. Damit war auch die Frage beantwortet, ob sie auf die Zerstörung der Dauntless aus waren. »Erlaubnis erteilt. Ergreifen Sie alle erforderlichen Maßnahmen zur Verteidigung der Dauntless und der Tänzer-Schiffe.«

Der Hinweis auf eine eingehende Nachricht pulsierte aufgeregt vor ihm. Die Senatoren hatten das letzte Manöver natürlich bemerkt, mutmaßlich, weil sie von ihren Sitzen befördert worden waren.

»Ja?«

Senatorin Costa sah ihn von einem virtuellen Fenster aus zornig an. »Was ist da los?«

»Die Kriegsschiffe der Bundes-Flotte haben ohne Provokation von unserer Seite das Feuer auf uns eröffnet, Senatorin. Dabei haben sie eine Salve auf uns abgefeuert, die genügt hätte, die Dauntless zu zerstören, hätten wir nicht sofort ein Ausweichmanöver unternommen.« Fragen Sie nichts weiter. Fragen Sie bloß nicht weiter.

Gearys stummes Stoßgebet wurde erhört. Costa fragte nicht, was die Dauntless derzeit machte, stattdessen verschwand ihr Bild ohne ein weiteres Wort. Zweifellos ging sie davon aus, dass der Schlachtkreuzer lediglich ein Ausweichmanöver flog, um die Gefahrenzone zu verlassen.

Auf Gearys Display kamen die Raketen der Dauntless weiterhin näher, da sie erheblich engere Kurven fliegen konnten als der Schlachtkreuzer. Ihre Abfangvektoren waren längst auf einen Punkt ausgerichtet, den die Dauntless in Kürze erreichen würde, wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehielt.

Aber auf Desjanis Befehl hin bewegte sich das Schiff auf einmal nach oben und nach Steuerbord. Die Raketen mussten darauf erst ihren Kurs korrigieren und flogen weit gestreckte Kurven, wobei sie massiv Treibstoff verbrauchten, da sie in aller Eile das jüngste Manöver des Schlachtkreuzers ausgleichen mussten.

»Admiral?« Lieutenant Igers Gesichter war soeben neben Geary aufgetaucht. »Sir, die Anzahl der abgefeuerten Raketen entspricht der Zahl der Raketenschächte, die wir bislang bei den Bundes-Schiffen feststellen konnten.«

»Gut, dann ist … was?« Geary musste sich mit einer Hand festhalten, da Desjanis jüngstes Manöver sie soeben in die andere Richtung schleuderte. »Das ist alles? Bei so vielen Schiffen? Das heißt, die großen Schiffe verfügen jeweils über nur zwei Schächte?«

»Und die kleineren Schiffe haben überhaupt keine«, bestätigte Iger seine Schlussfolgerung.

Geary schaute auf die statistischen Daten. »Diese Schiffe sind kaum besser gepanzert als unsere Hilfsschiffe. Sie sind etwas besser bewaffnet, aber nur geringfügig. Warum baut jemand ein so großes, so teures und kunstvoll verziertes Schiff und bestückt es dann mit so wenigen Waffen?«

»Das … das weiß ich nicht, Sir.«

Tanya hatte recht. Diese Leute haben beim Design ihrer Schiffe völlig vergessen, dass sie damit auch noch Krieg führen wollen. »Captain Desjani, Ihre Einschätzung hinsichtlich der Feuerkraft dieser Kriegsschiffe war zutreffend.«

»Danke, Admiral. Mehr will ich gar nicht wissen.«

Die Gefahrensymbole auf Gearys Display erloschen, da die gegnerischen Raketen mittlerweile ihren Treibstoff aufgebraucht hatten. Sie konnten ihre Flugbahnen nicht länger korrigieren und rasten nun auf ihrem letzten Vektor in die endlose Leere des Alls davon.

Desjani ließ die Dauntless inzwischen wieder auf einen Kurs gehen, der sie nach unten und nach Backbord brachte, während die Bundes-Formation im Begriff war, unter ihnen hindurchzurasen. Diese Schiffe blieben alle stur auf ihren Vektoren, unterdessen nahm die Dauntless letzte kleinere Kurskorrekturen vor.

»Ziele festgelegt«, erklärte Desjani mit lauter und fast schon unnatürlich klarer Stimme. »Ladies and Gentlemen, ich will diese Schiffe haben. Sorgen Sie dafür, dass jeder Schuss ein Treffer wird.«

Dann jagte die Dauntless auch schon durch den Rand des einen Flügels der Bundes-Formation und hatte die gegnerischen Schiffe so schnell hinter sich zurückgelassen, dass das menschliche Auge diesem Geschehen nicht mehr folgen konnte. Die Dauntless zitterte immer noch leicht, da alle Waffen auf den Gegner abgefeuert worden waren, die eine Chance hatten, ins Ziel zu treffen.

Begegnungen im All liefen oft so schnell ab, dass Menschen gar nicht rechtzeitig reagieren konnten. Automatisierte Systeme waren dagegen mühelos in der Lage, das Geschehen zu verfolgen und die richtige Millisekunde zu wählen, damit das Geschoss genau in dem Moment eine Stelle im All passierte, wenn sich dort das anvisierte Schiff befand. Die Sensoren der Dauntless waren aktuell damit befasst, den Ausgang des Zusammentreffens mit der gegnerischen Flotte zu bewerten, während der Schlachtkreuzer selbst wieder nach Steuerbord drehte, um hinter den Bundes-Schiffen aufzutauchen.

Ein Flügel der feindlichen Formation war vollständig verschwunden, drei Korvetten waren ausgelöscht worden, zerrissen vom Sperrfeuer aus Höllenspeeren und Kartätschen, während der Megakreuzer auf dieser Seite in mehrere große Stücke auseinandergebrochen war, die hinter der restlichen Formation durchs All trudelten.

Zwar hatten die Bündler das Feuer erwidert, doch die meisten Geschosse waren an den Schilden der Dauntless gescheitert, lediglich eines war weit genug vorgedrungen, um die Hülle zu beschädigen.

»Bringen Sie den Kartätschenwerfer wieder ans Laufen«, befahl Desjani, die frustriert klang, aber nicht triumphierend. »Wir haben nicht genügend von ihnen erwischt, und jetzt sind wir diejenigen, die den Gegner jagen«, murmelte sie an Geary gewandt, während der Antrieb die Dauntless auf eine noch höhere Geschwindigkeit beschleunigte.

»Die kriegen wir schon«, sagte er in einem Tonfall, der deutlich mehr Zuversicht versprühte, als er in Wahrheit empfand. Mit einem Auge achtete er auf die Anzeige, die angab, unter welcher Belastung die Schiffshülle stand. Der Wert näherte sich der roten Gefahrenzone, da Desjanis Manöver das Schiff bis an die Grenzen dessen trieben, was die Trägheitsdämpfer kompensieren konnten.

Plötzlich kam Unruhe auf, und Geary sah aus dem Augenwinkel, dass die Senatoren auf die Brücke zurückgekehrt waren.

»Was ist denn hier los?«, wollte Senatorin Suva aufgebracht wissen.

»Wir verteidigen die Tänzer entsprechend den Befehlen, die mir die Regierung erteilt hat«, erwiderte Geary, während Desjani es vorzog, die Politiker gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen.

»Dann dienten die von diesem Schiff abgefeuerten Waffen der Verteidigung?«, fragte Senator Sakai in seinem üblichen milden Tonfall.

»Das ist korrekt.«

»Wir befinden uns in einer Gefechtssituation«, warf Rione ein. »Unsere Anwesenheit auf der Brücke stört.«

Costa und Suva drehten sich zu ihr um, doch bevor sie energisch widersprechen konnten, sagte Sakai: »Die Delegatin Rione hat recht.«

»Hat sie nicht«, hielt Suva dagegen. »Dieser Held hat einen weiteren Krieg begonnen, während sie uns da unten festgehalten hat.«

Rione sah Suva kühl und entschlossen in die Augen. »Wer hat den ersten Schuss abgefeuert, Admiral?«

»Das haben sie gemacht«, antwortete er. »Eine Raketensalve wurde auf uns abgefeuert, als wir in Reichweite kamen. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns gegen eine Streitmacht zur Wehr zu setzen, über die uns die Behörden des Sol-Sternensystem gesagt haben, dass sie ungebeten hier aufgetaucht ist und nach wie vor als unerwünscht gilt.«

Lieutenant Yuon räusperte sich zögerlich, um so die Diskussion zu unterbrechen. »Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit werden wir innerhalb von zweiundvierzig Minuten in Reichweite der Formation des Bundes gelangen.«

»Wir jagen sie?«, fragte Suva fassungslos. »Wenn sie uns töten wollen, warum machen wir dann nicht einfach einen großen Bogen um sie?«

Geary aktivierte das Display für die Beobachterplätze. Die um einen Flügel beraubte Formation des Gegners war auf einer langen, flachen Flugbahn unterwegs, die viel weiter im Inneren des Sternensystems auf die der Tänzer traf. »Sie verfolgen immer noch die Tänzer und befinden sich auf Abfangkurs zu ihnen. Sie haben bereits erkennen lassen, dass sie die Tänzer mit der gleichen Härte attackieren werden, mit der sie auch gegen uns vorgegangen sind. Was würden Sie an unserer Stelle tun, Senatorin?«

Suva hielt sich eine Hand vor ihre Augen, schließlich nickte sie. »Ich bin nicht dumm, Admiral. Unsere Diskussionen mit dem Bundes-Befehlshaber waren noch unergiebiger als die mit meinen Kollegen vom Großen Rat. Zu viele Leute, die zu sehr auf ihrer Meinung beharren. Und einige von ihnen wollen überhaupt nicht aufhören zu debattieren. Tun Sie, was erforderlich ist, um uns alle zu retten. Wir werden anschließend versuchen, die Bescherung so gut wie möglich aufzuräumen.« Sie klang niedergeschlagen und erschöpft.

Costa warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Jetzt sehen Sie ja, warum unsere vorangegangenen Entscheidungen notwendig waren, damit die Sicherheit der Allianz gewähr–«

»Wollen Sie jetzt über diese Entscheidungen reden?«, ging Sakai dazwischen. Er sprach zwar ausnehmend ruhig, dennoch gelang es ihm, Costa ins Wort zu fallen.

Die Senatorin zuckte zusammen und sah sich um, als hätte sie einen Moment lang tatsächlich vergessen, wo sie sich befand. »Ich … Nein.« Ihr Blick wanderte zu Rione. »Einige Individuen mögen zwar ein Stimmrecht erhalten haben, aber das berechtigt sie noch lange nicht dazu, alles zu erfahren, was der Große Rat für die Allianz getan hat.«

»In der Hinsicht schätze ich mich sogar glücklich«, gab Rione nur scheinbar amüsiert zurück, da ihr Tonfall etwas äußerst Bissiges durchblicken ließ. »Oder meinten Sie alles, was der Große Rat der Allianz angetan hat? Es könnte sein, dass ich mehr weiß, als Sie glauben, Senatorin. Es könnte sogar sein, dass viele Leute mehr wissen, als Sie glauben.«

Costa, die ganz gezielt Gearys Blick auswich, stürmte von der Brücke, gefolgt von Suva, die Rione diesmal keinen feindseligen, sondern einen fragenden Blick zuwarf. Dann verließ auch Rione die Brücke, ebenso Sakai, der sich wie üblich keine Gefühlsregung anmerken ließ.

Die versammelten Lieutenants und Wachhabenden sahen erstaunt mit an, wie die Politiker sich zurückzogen, waren aber klug genug, nichts dazu zu sagen.

»Widmen Sie sich bitte alle wieder Ihren Aufgaben«, wies Desjani ihre Brückencrew an. Obwohl sie sich nicht umgedreht hatte und es auch so ausgesehen hatte, als seien ihr die streitenden Politiker gar nicht bewusst gewesen, kam ihr Befehl genau in dem Moment, als sich die Luke hinter ihnen schloss.

Geary gab sich alle Mühe, selbst auch nicht länger über die Senatoren nachzudenken, und konzentrierte sich wieder auf die Situation. »Wir sollten sie eingeholt haben, kurz bevor sie die Tänzer abfangen können.« Da sie sich aber hinter der Formation befanden, würden sie sich mit der konzentrierten Feuerkraft der gegnerischen Schiffe konfrontiert sehen, ohne allerdings in der Lage zu sein, deren Beschuss auszuweichen – es sei denn, sie drehten ab, womit sie sich aber ihrerseits um die Möglichkeit brachten, auf die Kriegsschiffe zu feuern.

Plötzlich schnappte Tanya nach Luft und zeigte auf ihr Display. »Nein, wir werden sie nicht vorher eingeholt haben. Sehen Sie nur, die Tänzer haben kehrtgemacht und Kurs auf uns genommen. Sie werden lange vor uns mit den Bundes-Kriegsschiffen zusammentreffen.«

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