Fünfzehn

Unter bestimmten Umständen konnten einem sechzehn Tage wie eine sehr lange Zeit vorkommen.

Die Vorschriften und Prozeduren für das Aufsuchen des Sol-Sternensystems mussten erst aus den Archiven hervorgeholt werden, damit alle Offiziere sich damit beschäftigen konnten. Als Geary die Dokumente in seinem Quartier las, fielen ihm zwei Dinge auf. Das eine war das Gefühl, in verstaubten Büchern zu blättern, obwohl digitale Dateien natürlich keinen Staub ansetzen konnten. Das andere war der Eindruck, das alles schon einmal gelesen zu haben.

Wann war das nur? Da muss ich noch ein Ensign gewesen sein. Irgendwann habe ich damals diese Texte aufgerufen und sie gelesen, und dabei habe ich davon geträumt, dass mein Schiff auserwählt sein würde, den alle zehn Jahre stattfindenden Besuch der Alten Erde absolvieren zu dürfen. Das alles kommt mir vor, als wäre es vor einer Ewigkeit geschehen. Wie viele Ensigns sind seitdem zur Flotte gekommen? Und wie viele von ihnen sind in dem hundert Jahre währenden Krieg gefallen? Ich bin mir sicher, dass keiner von ihnen davon geträumt hat, die Alte Erde zu besuchen. Sie haben alle nur darauf gehofft, zu überleben und vielleicht einer von jenen Helden zu sein, von denen junge Männer und Frauen träumen, bis sie schließlich alt genug sind, um zu erkennen, dass der wahre Ruhm niemals denen zuteilwird, die danach streben. Sie haben davon geträumt, wie Black Jack zu sein, aber das war nicht meine Schuld. Die Regierung und die Flotte brauchten einen Helden, und vermutlich war ich plausibel genug, zu einem solchen Helden zurechtgezimmert zu werden, auch wenn ich nichts mit der Legende zu tun habe, die von ihnen geschaffen wurde. Aber die jungen Menschen sind gestorben, weil sie so sein wollten wie ich.

Ich weiß nicht, was Black Jack tun könnte, um der Allianz aus ihrem Schlamassel zu helfen. Ich weiß nicht, was ich tun kann. Aber ich muss irgendetwas versuchen, weil diese Menschen an den Mann geglaubt haben, für den sie mich hielten. Dieser Flug wird keine Lösung bringen, aber ich muss mir was einfallen lassen, wenn wir wieder zurück sind. Vielleicht entdecke ich ja bei Sol etwas, das mich auf eine Idee bringt.

In Verbindung mit den Prozeduren für das Vordringen ins Sol-System gab es einen Hinweis auf ein anderes Dokument, das ebenfalls Gearys Erinnerung anregte. Er las es, wobei sein Lächeln breiter wurde. Noch eine Sache, die in Vergessenheit geraten war.

Die Türglocke zu seinem Quartier wurde betätigt, aber weder Tanya noch Rione noch irgendjemand sonst, mit dessen Besuch Geary hätte rechnen können, kam herein, sondern Senator Sakai. Über eine Minute lang saß er auf dem ihm angebotenen Platz und betrachtete Geary nur wortlos, wobei er seinen üblichen rätselhaften Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Schließlich sprach Sakai mit einer leisen Stimme, die nichtsdestotrotz alle Aufmerksamkeit auf sich zog: »Admiral, Sie sind ein seltenes Exemplar. Ein Anachronismus.«

»Das müssen Sie mir nicht erst noch sagen«, erwiderte Geary und fragte sich, worauf Sakai hinauswollte.

»Jemand aus einer hundert Jahre entfernten Vergangenheit, und das hat Ihnen bei dem Kommando über die Flotte sehr geholfen«, redete Sakai weiter, als habe er Gearys Erwiderung gar nicht gehört. »Es war auch für die Allianz von Nutzen, jedenfalls bislang. Aber das hier ist nicht die Vergangenheit. Wir sind nicht die Menschen, die Sie gekannt haben. Dies hier ist nicht die Allianz, in der sie damals gelebt haben.« Sakai klang weder erfreut noch betrübt über das, was er sagte. Es wirkte vielmehr so, als rede er über etwas, das durch Raum und Zeit weit von hier entfernt war und nichts mit ihm zu tun hatte. »Admiral, was glauben Sie, wem meine Loyalität gilt?«

»Ich glaube, Senator«, antwortete Geary sehr bedächtig, »dass Sie der Allianz gegenüber loyal sind.«

»Interessant. Glauben Sie, das macht mich eher zu einem ungewöhnlichen oder zu einem der typischen Politiker, wie sie in der jetzigen Zeit die Allianz führen?«

Das war eine heikle Frage, mit deren Beantwortung er sich in große Schwierigkeiten hätte bringen können, wäre da nicht seine umfangreiche Erfahrung mit Rione gewesen. »Ich glaube, dass die meisten, wenn nicht sogar alle Politiker, die derzeit die Regierung bilden, glauben, dass sie der Allianz gegenüber loyal sind.«

»Eine interessante Wortwahl, Admiral.«

»Sind Sie nicht meiner Meinung?«, fragte Geary.

»Ihre Antwort war unvollständig«, sagte Sakai. Der Senator zog die Brauen leicht zusammen und blickte auf einen weit entfernten Punkt. »Nicht alle von uns, die loyal sind und die glauben, dass sie loyal sind, glauben noch an die Allianz. Manche von uns betrachten die Allianz und fragen nicht, ob die Allianz aufhören wird zu existieren, sondern wann der Moment kommen wird.« Er musterte Geary sehr eindringlich. »Und wir fragen uns ebenso, ob Sie, mit ihren antiquierten Idealen aus einer längst vergessenen Zeit, dafür sorgen, dass das, was hier im Zerfall begriffen ist, noch ein wenig länger eine Einheit bleibt, oder ob Ihre Anwesenheit und Ihre Ideale den Zusammenbruch der Allianz noch beschleunigen werden.«

Geary ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Ich würde nichts tun, was der Allianz schaden könnte. Ich habe alle denkbaren Anstrengungen unternommen, um die Allianz zu beschützen und zu erhalten.«

»Admiral, Sie glauben, Sie werden nichts tun, was der Allianz schaden könnte. Sie glauben, all Ihr Handeln hat nur dem Wohl der Allianz gedient.« Sakai schüttelte den Kopf. »Vielleicht bin ich einfach zu abgestumpft oder zu verbittert davon, mitansehen zu müssen, wie Zerstörung zu einer Tugend wurde. Vielleicht sind Sie ja der Held, den die Allianz braucht, aber daran glaube ich nicht.«

»Warum sagen Sie mir das?«

»Womöglich weil Sie einer von den wenigen Verbliebenen sind, die nicht versuchen, mir aus meinen eigenen Worten einen Strick zu drehen. Vielleicht auch aus dem Grund, dass die Wahrheit in der letzten Zeit so selten ausgesprochen wird, dass ich wenigstens ein letztes Mal spüren wollte, wie diese Worte über meine Lippen kommen.« Diesmal verzog Sakai den Mund zum Ansatz eines Lächelns. »Ich bin Politiker, Admiral. Wissen Sie, was man mit Politikern macht, die die Wahrheit sagen? Man wählt sie ab. Wir müssen unsere Wähler belügen, denn sagen wir ihnen die Wahrheit, werden wir dafür bestraft. So wie diese Hunde, die in der Antike für ein Experiment trainiert wurden, lernen wir ebenfalls, genau das zu tun, was uns eine Belohnung einbringt. Irgendwie stolpert das System weiter voran, die Allianz überlebt, aber der Druck nimmt immer dann ein wenig mehr zu, wenn ihre Anführer und die Bevölkerung sich einmal mehr weigern, eine unangenehme Wahrheit zu akzeptieren.«

Dann schwieg Sakai wieder sekundenlang, während er in Gedanken versunken vor sich schaute. »Wir Politiker lügen aus den besten Gründen und mit den besten Absichten«, fügte er schließlich mit monoton klingender Stimme hinzu. »Zum Wohl der Allianz, zum Wohl unseres Volkes. Nur indem wir lügen, dienen wir diesem Volk. Glauben Sie mir das?«

»Ja«, antwortete Geary, was bei Sakai dazu führte, dass ein Funke Erstaunen in dessen Augen aufleuchtete. »Ist das nicht genau das Problem an der Sache? So gut wie jeder glaubt, dass er das Richtige tut. Oder zumindest hat sich so gut wie jeder eingeredet, dass er das Richtige unternimmt, während alle anderen sich irren müssen und nur ihrer eigenen Sache dienen wollen.«

Abermals schaute Sakai ihm in die Augen. »Ich merke, Sie haben mit Victoria Rione gesprochen. Ist Ihnen bewusst, welche Anstrengungen wir unternommen haben, um dafür zu sorgen, dass sie Sie auf Ihrem Flaggschiff während Ihrer Mission ins Enigma-Gebiet wieder begleiten konnte?«

»Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon.«

»Ich bin einer von diesen Politikern, die das Anliegen unterstützt haben.« Ein flüchtiges Lächeln umspielte Sakais Mundwinkel. »Wenn auch vielleicht nicht aus den gleichen Gründen wie andere.«

Was sollte dieses Eingeständnis bedeuten? »Werden Sie mir Ihre Gründe nennen?«

»Zum Teil ja. Die Gesandte Rione … nein, verzeihen Sie, die Delegatin Rione ist … nun, sagen wir … nicht die Art von Waffe, die einfach stur der Richtung folgt, die andere ihr vorgeben. Sie ist das, was man beim Militär als eine intelligente Waffe bezeichnen würde, eine Waffe, die eigenständig denkt. Eine solche Waffe muss sich nicht zwangsläufig so verhalten, wie diejenigen geplant haben, die sie auf die Menschheit loslassen.« Sakai schüttelte den Kopf. »Die Delegatin Rione glaubt auch an die Allianz. Sie ist bereit, alles zu tun, womit sich unsere Vorfahren niemals einverstanden erklärt hätten, nur um die Allianz zu erhalten.«

»Aber was haben Sie von ihr erwartet, was sie tun sollte?«, hakte Geary nach.

»Admiral.« Wieder legte Sakai eine Pause ein, dann warf er Geary einen weiteren forschenden Blick zu. »Die Legende, die sich um Black Jack herum gebildet hat, besagt, er würde zurückkehren, um die Allianz zu retten. Alle waren davon ausgegangen, dass das heißt, Black Jack besiegt die Syndiks. Aber die Rettung der Allianz besteht nicht ausschließlich darin, den Krieg zu beenden. Das ist uns allen inzwischen auf schmerzhafte Weise deutlich geworden. Und nun stellen sich mehr und mehr Menschen in der Allianz die Frage, ob Black Jacks wahre Mission statt eines militärischen Sieges über einen Feind von außen nicht darin besteht, die Allianz dadurch zu retten, dass er sie vor den inneren Kräften bewahrt, die sie zu zerreißen drohen.«

Geary musste sich das instinktive, umgehende Nein verkneifen. Stattdessen schüttelte er den Kopf und antwortete wieder sehr bedächtig. »Ich wüsste gar nicht, wie ich das anstellen sollte. An die Legende habe ich nie geglaubt. Ich glaube nicht, dass das meine Bestimmung oder mein Schicksal ist oder wie immer man das nennen will. Ich versuche nur, meine Arbeit zu erledigen, so gut ich das kann.«

»Ist es wichtig, was Sie glauben?«, fragte Sakai leise. »Der Glaube ist eine gewaltige Macht, Admiral, die zum Guten genauso wirken kann wie zum Schlechten. Glaube kann das zerstören, was unerschütterlich erscheint. Und er kann Dinge bewirken, von denen uns das Wissen sagt, dass sie unmöglich sind. Ich kann die Allianz nicht retten, Admiral. Wenn ich glaubte, dass ich das kann, wäre ich einer jener Narren, die von sich denken, dass sie als Einzige die Weisheit besitzen und dass sie als Einzige wissen, was das Richtige ist. Aber wenn die Menschen Sie sehen, Admiral, dann nehmen sie keinen fehlbaren Menschen wahr, sondern sie sehen Black Jack. Leugnen Sie es nicht. Ich habe Ihre Flotte auf dem letzten Feldzug gegen die Syndiks begleitet. Ich konnte Sie in Aktion erleben, und ich konnte beobachten, wie sich andere Ihnen gegenüber verhielten. Selbst die, von denen Sie gehasst werden und die Ihnen wünschen, dass Sie scheitern, sehen in Ihnen Black Jack. Black Jack kann all die Dinge tun, von denen die, die an ihn glauben, überzeugt sind, dass er sie tun kann. Vielleicht sogar Dinge, die ich persönlich für unmöglich halte.«

»Dieser Glaube an mich könnte aber auch genau das sein, was der Allianz das Genick brechen wird«, wandte Geary ein und machte keinen Hehl aus seiner Verbitterung.

»Ja.« Sakai neigte leicht den Kopf in Gearys Richtung. »Ein interessantes Dilemma.«

»Können Sie mir sagen, ob Sie mir helfen werden, die Allianz zusammenzuhalten?«, wollte Geary wissen. »Nicht als ein mythischer Black Jack, sondern indem ich einfach nur das tue, was ich kann. Werden Sie mir dabei helfen?«

»Warum fragen Sie mich das?«, gab Sakai zurück und lächelte jetzt etwas direkter. »Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass ich lüge, weil das mein Beruf ist und weil die Leute das von mir erwarten. Sie könnten mir nie glauben, ganz gleich welche Antwort ich Ihnen auch geben werde.«

Er lehnte sich zurück und musterte Sakai. Aus irgendeinem Winkel seines Verstands bildete sich in seinem Kopf auf einmal eine Erwiderung, die er gleich darauf aussprach: »Man kann eine Lüge vermeiden, indem man es vermeidet, eine echte Antwort auf eine Frage zu geben, nicht wahr? Präsentieren Sie dem Frager eine vage Erwiderung, und er wird in diese Antwort die Bedeutung hineininterpretieren, die er dort haben will.«

Sakai wurde wieder ernst und sah Geary fasziniert an. »Sie haben sogar sehr viel Zeit mit der Delegatin Rione verbracht. Ich hätte ahnen müssen, dass Sie sich viel von ihr aneignen würden. Deshalb werde ich Ihnen jetzt endlich die Frage beantworten, die Sie mir vorhin gestellt hatten, nämlich was ich mir von dem versprochen habe, was Delegatin Rione auf Ihrem Flaggschiff tun würde. Ich war der Ansicht, dass die Delegatin Rione auf kreative Weise jeglichen Plan vereiteln würde, der gegen Sie gerichtet sein könnte. Darum habe ich mich dafür eingesetzt, dass sie auf Ihr Schiff kommt. Im Gegenzug erlangte ich dadurch Zugang zu einigen anderen … Beratungen, von denen ich ansonsten ausgeschlossen geblieben wäre.«

»Senator, das klingt ja verdächtig danach, dass Sie versucht haben, mir zu helfen«, meinte Geary.

»Nicht Ihnen, sondern der Allianz. Denn ganz gleich, was Sie tun, wie verkehrt oder richtig Ihre Entscheidungen auch sein mögen, die Sie entsprechend Ihren Vorkriegsansichten in Sachen Richtig und Falsch treffen – Sie sind eindeutig kein Narr. Ganz im Gegensatz zu ein paar von denjenigen, die auf andere Weise die Allianz retten wollen.« Sakai hielt seinen Zeigefinger hoch, damit Geary ihn nicht unterbrach. »Admiral, Ihnen ist gesagt worden, dass der Bau neuer Kriegsschiffe gestoppt wurde. In Wahrheit wird aber in diesem Augenblick eine neue Flotte gebaut, deren Kampfkraft es mit Ihrer aufnehmen kann. Ich betone das, weil Letzteres zu einem erheblichen Teil ihren Einsatzzweck darstellt.«

Geary gab sich Mühe, Erstaunen und gleich darauffolgende Empörung vorzutäuschen. »Warum sollte die Regierung mich so in die Irre führen?« Er konnte sich einige Gründe vorstellen, aber er wollte wissen, was Sakai antworten würde.

»Nicht die Regierung führt Sie in die Irre, sondern einige einflussreiche Individuen innerhalb der Regierung tun das. Andere stellen einfach nicht die Fragen, deren Beantwortung zu schwierig sein würde. Wieder andere reden sich ein, dass sich mit zerstörerischen Mitteln kreative Ergebnisse erreichen lassen. Folgendes müssen Sie wissen: Es ist entschieden worden, das Kommando über diese Flotte einem Offizier zu übertragen, der – abhängig davon, wen Sie fragen – entweder die Allianz beschützen wird oder der aktiv der Bedrohung durch einen gewissen Helden entgegenwirken wird, dem die existierende Flotte treu ergeben ist, oder der ein passives Gegengewicht zu der Bedrohung für die Allianz sein wird, die von Ihnen ausgeht.« Abermals ließ Sakai eine kurze Pause folgen. »Die Gründe laufen alle auf ein und dieselbe Strategie hinaus: Eine Mehrheit des Großen Rats ist davon überzeugt, dass man Feuer mit Feuer bekämpfen muss. Fürchtet man sich vor einem hochrangigen Offizier, der die Flotte hinter sich vereint hat, besteht die Lösung darin, ein Gegenstück dazu zu schaffen.«

»Das ist doch verrückt. Wollen die einen Bürgerkrieg heraufbeschwören?«

»Sie glauben, dass sie so die Allianz retten. Die Rettung der Allianz besteht für sie darin, dass sie die Mittel schaffen, mit denen sie zerstört werden kann, und dass sie diese Mittel einem Mann an die Hand geben, dessen Begehren sie zerstören wird. Sie finden, das ist verrückt? Dann haben Sie völlig recht. Diese Leute sehen nun einmal nur das, was sie sehen wollen.«

Geary stand auf und ging langsam vor Sakai auf und ab, da er einfach nicht länger stillsitzen konnte. »Wenn die Regierung auf Maßnahmen besteht, die wahrscheinlich die Allianz zerstören werden, was zum Teufel soll ich dann machen, um sie zu retten?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht gar nichts. Vielleicht würden Ihre besten Absichten den erwähnten Bürgerkrieg gerade erst heraufbeschwören.«

»Warum kommen Sie mir dann überhaupt so weit entgegen, dass Sie mir sagen, warum die Regierung was macht?«, wollte Geary aufgebracht wissen.

Sakai seufzte leise. »Der Glaube der anderen an Ihre Fähigkeiten, Admiral, ist Ihre mächtigste Waffe. Er könnte Sie in die Lage versetzen, eine Allianz zu retten, die ich bereits für den Untergang geweiht halte. Könnte – das muss ich betonen. Es ist nur eine kleine Hoffnung, aber sie ist immer noch besser, als sich der Verzweiflung zu ergeben und zuzusehen, wie andere ach so schlaue und ach so gewiefte Leute den Verlust von allem herbeiführen, was uns wichtig ist.«

»Wer erhält den Befehl über diese neue Flotte?«

»Admiral Bloch.«

Die Antwort kam ohne zu zögern, ohne einen Versuch, sich zu drücken. Wieso?

»Obwohl dem Großen Rat bekannt sein muss, dass Bloch einen Staatsstreich für den Fall geplant hatte, dass sein Angriff auf die Heimatwelt der Syndiks bei Prime erfolgreich verlaufen wäre?«

»Ja, obwohl ihm das bekannt ist.« Sakai schaute wieder in die Ferne, als sehe er dort etwas, das Geary verborgen blieb. »Ich frage mich, warum ich es immer noch versuche. Aber dann denke ich an meine Kinder und an deren Kinder. Was soll aus ihnen werden, wenn die Allianz zerfällt? Ich denke an meine Vorfahren. Wenn der Tag kommt, an dem ich vor sie trete, was soll ich dann sagen, was ich mit dem Leben angefangen habe, das mir gewährt wurde. Wie werden sie über mich und über mein Handeln urteilen?« Er zuckte mit den Schultern. »Mein Wunsch ist, dass ich ihnen gegenübertreten und ihnen sagen kann, dass ich nicht gekniffen habe. Vielleicht sind alle meine Bemühungen zum Scheitern verurteilt, dann aber wenigstens nicht aus dem Grund, dass ich aufgegeben habe.«

»Sie glauben eigentlich nicht, dass es hoffnungslos ist«, mutmaßte Geary.

Senator Sakai stand auf, seine Miene verriet wieder nichts von dem, was in ihm vorging. »Sagen wir lieber, Admiral, ich habe Angst davor, zuzugeben, dass es hoffnungslos ist.«

Nachdem Sakai gegangen war, kehrte Gearys Blick zurück zu der Datei, die er zuletzt zum Thema Rückkehr ins Sol-Sternensystem geöffnet hatte.

Ich bin also ein Anachronismus? Meinetwegen. Traditionen halten uns zusammen, aber unter dem Druck des Krieges sind viele von diesen Traditionen in Vergessenheit geraten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass dieser anachronistische Admiral noch ein paar Anachronismen mehr wiederauferstehen lässt.

»Wir sind im Begriff, die Linie zu überqueren«, sagte Geary.

Tanya, die in sein Quartier gerufen worden war, sah ihn verständnislos an. »Welche Linie?«

»Die Linie.«

»Ach, die Linie. Hm, jetzt bin ich immer noch so schlau wie zuvor.«

»Die Grenze des Sol-Sternensystems«, erklärte er geduldig.

»Sternensysteme haben keine Grenzen.« Sie tippte etwas auf dem Display ein, dann wartete sie auf die Resultate. »Ach so, Sie meinen die Heliosphäre. Das Gebiet um einen Stern herum, das die Grenzen eines Sternensystems definiert. Davon habe ich noch nie gehört.«

Eine solche Aussage hätte eigentlich erstaunlich sein müssen, kam sie doch von der Befehlshaberin eines Schlachtkreuzers, deren Karriere sie über Hunderte Lichtjahre und in unzählige Sternensysteme geführt hatte. Aber es war keineswegs erstaunlich. »Das liegt daran, dass die Heliosphäre eines Sterns weit über jene Region hinausreicht, in der sich Sprungpunkte finden und in der Hypernet-Portale positioniert werden«, erklärte Geary. »Die Heliosphäre eines Sterns reicht bis weit in das Dunkel zwischen den Sternen hinein, in jenes Gebiet, in das die Schiffe der Menschen nie vordringen – oder besser gesagt, in das sie schon lange nicht mehr vordringen.«

»Also gut. Und warum ist das jetzt wichtig?«

»Die Heliosphäre von Sol bestimmt die Grenze des Sol-Sternensystems«, sagte Geary. »Das ist die Region, in der die Sonnenwinde von Sol vorherrschen.«

»Ja«, gab Desjani mit übertriebener Geduld zurück, während sie weiter die Resultate ihrer Abfrage durchlas. »Im Fall von Sol reicht die Heliosphäre ungefähr zwölf Lichtstunden weit hinaus«, zitierte sie. »Oder rund hundert Astronomische Einheiten. Was um alles in der Welt ist denn eine Astronomische Einheit?«

»Ein alte Maßeinheit. So wie ein Parsek.«

»Ein was?«

»Schon gut«, sagte Geary knapp.

»Schön«, erwiderte sie. »Das ist also die Linie, von der Sie geredet haben? Der Rand der Blase, der die Heliosphäre von Sol definiert? Aber das ist ja mitten im Nichts. Niemand entfernt sich im realen Raum so weit von einem Stern. Warum auch? Da gibt es nichts weiter als tote Steine, die ihre Bahnen ziehen.«

»Tanya, es gab einmal eine Zeit, da konnte man nicht einfach ein Hypernet-Portal oder einen Sprungpunkt benutzen, um zu anderen Sternen zu reisen. Die Flüge zu den ersten anderen Sternen, die von unseren Vorfahren besucht wurden, führten über diese Linie. Die musste einst körperlich mit einem Raumschiff überschritten werden, bevor man einen anderen Stern erreichen konnte. Deshalb kam dem eine große Bedeutung zu. Für die Menschheit bedeutete es, den Stern hinter sich zurückzulassen, der uns hervorgebracht hatte, und ins Universum vorzustoßen.«

»Das war unseren Vorfahren wichtig?« Tanya betrachtete das Display über Gearys Schreibtisch mit neu gewonnenem Respekt. »Ja, natürlich war es das. Das war der Punkt, an dem ein Schiff und alle Menschen an Bord Sol endgültig verließen.«

»Ganz genau. Das wurde damals groß gefeiert. Und selbst nachdem wir die Sprungtechnologie entdeckt hatten und die Heliosphäre nicht mehr körperlich durchfliegen mussten, wurde dennoch auf den Schiffen der Linie gedacht, wenn sie sie überquerten. Bei den Heliosphären anderer Sterne war das nicht wichtig, aber bei Sol schon. Es war sehr bedeutsam, wenn man von sich sagen konnte, dass man ein Reisender war.«

»Ein … Reisender?«

»Wenn man diese Linie überquert hat, darf man sich so nennen«, erläuterte Geary. »Das ist die Tradition.«

»Unsere Vorfahren haben das gemacht?«

»Ja.«

Desjani nickte. »Dann sollten wir das auch so handhaben. Wieso können Sie sich daran erinnern? Ich wüsste nicht, dass jemals irgendjemand ein Wort davon gesagt hat.«

»Früher schickte die Flotte alle zehn Jahre ein Schiff zurück nach Sol«, sagte er, »um den Jahrestag zu feiern, an dem die erste interstellare Mission aus dem Orbit der Alten Erde aufbrach. Wir schickten nur alle zehn Jahre ein Schiff hin, weil es zu meiner Zeit noch keine Hypernet-Portale gab und es ein weiter Weg war. Ich bin nie hingereist, aber ich sprach mit Leuten, die an Bord eines dieser Schiffe gewesen waren, und zu der Zeit war die Überquerung dieser Linie noch eine wichtige Angelegenheit.«

»Aber im Krieg konnten wir es uns nicht leisten, ein Schiff zur Alten Erde zu schicken«, sagte Desjani. »Diese frühen Jahre waren von Verzweiflung geprägt. Selbst auf ein einziges Schiff konnten wir nicht für eine so lange Zeit verzichten.«

Geary nickte. »Das nächste Schiff hätte nicht ganz ein Jahr nach dem ersten Angriff der Syndiks zur Alten Erde fliegen sollen, aber dann kam der Krieg dazwischen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie darüber spekuliert wurde, welches Schiff wohl ausgewählt werden würde. Aus heutiger Sicht muss das eigenartig wirken, aber vor der Schlacht bei Grendel drehte sich eines der wichtigsten Gesprächsthemen darum, welches Schiff die Reise unternehmen durfte.«

Tanya sah ihn verdutzt an. »Das war Ihre größte Sorge?«

Mit einem Mal fühlte er sich beschämt. Tanya und alle anderen Crewmitglieder in der Flotte hatten ihre ganze Karriere, ihr ganzes Leben lang nur den Krieg gegen die Syndiks gekannt. Ihre Sorge hatte darum gekreist, ob sie überleben oder sterben würden. Wie soll sie sich ein Universum vorstellen, in dem das wichtigste Thema die Frage ist, welches Schiff einen Ausflug nach Sol unternehmen würde? Wie könnte ich mich jemals Menschen überlegen fühlen, deren Leben von weitaus schwerwiegenderen Ereignissen geprägt wurde als alles, was ich damals mitgemacht habe?

»Ja«, antwortete er schließlich.

»Ich … nehme an, das war damals ziemlich wichtig«, sagte Tanya, aber ihr war anzuhören, dass sie vergeblich nachzuvollziehen versuchte, wie das überhaupt erwähnenswert sein konnte. »Diese Sache mit dem Überqueren der Linie kann ich begreifen«, fügte sie hinzu. »Und auch die Feier anlässlich der ersten Reise zu einem anderen Stern. Das muss wirklich enorm gewesen sein. Damals sind die Menschen tatsächlich mit Unterlicht durch das Dunkel zwischen den Sternen gereist. Als kleines Mädchen habe ich darüber gelesen.« Ihre Augen nahmen einen entrückten Ausdruck an, während sie zu lächeln begann. »Das Schiff zu den Sternen. Ich erinnere mich noch gut daran, weil ich das Buch immer und immer wieder gelesen habe. Es ging um ein Mädchen und einen Jungen an Bord eines Raumschiffs. Sie wurden beide auf dem Schiff geboren, weil es ein Generationenschiff war. Die Reise dauerte so lange, dass die Crew, die die Alte Erde verlassen hatte, unterwegs an Altersschwäche sterben würde. Ihre Kinder lernten, wie man das Schiff bedient und die Reise fortsetzt, und es würden erst deren Kinder sein, die den anderen Stern erreichten.«

Geary musste ebenfalls lächeln. »Ich habe das gleiche Buch gelesen. Ich wollte dieser kleine Junge sein. Zu einem anderen Stern konnte jeder reisen, das war da nichts Besonderes mehr. Aber nur Menschen wie er haben jemals die Schwärze durchquert. Seit wir den Sprungantrieb entdeckt haben, ist niemand mehr in das Große Dunkel vorgedrungen.«

»Ich unterhielt mich einmal mit Jaylen Cresida darüber«, erzählte Tanya mit gesenkter Stimme, während ihr Gesicht einen betrübten Zug annahm, als sie an ihre tote Kameradin dachte. »Die Beobachtungen, die diese Leute mit ihren Instrumenten aufgezeichnet haben, werden heute immer noch benutzt. Jaylen hatte sich mit einem Teil davon eingehend beschäftigt. Wir verlassen uns immer noch auf deren Daten, was die Natur des Weltalls fernab von einem Stern angeht, weil sich nie wieder jemand auf den Weg gemacht hat, um neue Daten zu sammeln.«

»Tatsächlich?« Sein Blick wanderte zu dem Schott ihm gegenüber, als könnte er hindurchsehen und dahinter ins All jenseits der Blase aus nichts blicken, in der sich die Dauntless in Richtung Sol bewegte. »Die Instrumente müssen doch seitdem erheblich verbessert worden sein. Man sollte meinen, dass irgendjemand mal eine automatisierte Mission vorgeschlagen hätte, um die Daten zu aktualisieren.«

Desjani zuckte mit den Schultern. »Wir waren anderweitig beschäftigt.«

Geary hätte sich am liebsten für seine idiotische, unüberlegte Äußerung geohrfeigt. Anderweitig beschäftigt! Mit einem verzweifelten Krieg, der hundert Jahre gedauert hatte. »Ich weiß. Ähm … es gehört eine Zeremonie dazu, wenn man die Linie überquert. Es ist Ihr Schiff, deshalb liegt das ganz an Ihnen. Allerdings ist es eine Tradition.«

»Was für eine Zeremonie?« Sie begann wieder zu lesen. »Ist das Ihr Ernst? Das ist … ja, okay, das geht … Nein, das auf keinen Fall. Der Rest erscheint machbar. Absurd, aber machbar. Ich schätze, unsere Vorfahren besaßen mehr Humor, als ich ihnen zugetraut hätte. Werden unsere ach so wichtigen Senatoren und unsere nicht ganz so wichtigen Delegaten auch daran teilnehmen?«

»Es ist freiwillig«, antwortete er.

»Mit anderen Worten: Ich muss sie einladen?«

»Ja, einladen müssen Sie sie schon.«

»Lassen Sie mich eine Sache besonders betonen«, hatte Desjani ganz im Tonfall eines Befehlshabers zu ihren Offizieren und Senior-Unteroffizieren gesagt. »Das alles muss ein Spaß bleiben. Wir alle haben viele zermürbende und harte Jahre hinter uns, in denen Spaß üblicherweise bedeutete, dass man zwischen zwei Kampfeinsätzen ein paar hektische Stunden auf einem fremden Planeten oder in einer Orbitaleinrichtung verbrachte und dabei so viele Verletzte zu beklagen waren wie nach jedem durchschnittlichen Gefecht. Das läuft heute anders ab. Sie alle müssen sicherstellen, dass es ein Vergnügen bleibt. Wenn sich an irgendeiner Stelle andeutet, dass daraus etwas anderes werden könnte, wenn die Gefahr droht, dass sich jemand verletzen könnte, dann schreiten Sie ein und setzen dem Treiben ein Ende, ehe etwas passieren kann. Ich werde während dieser Zeit in den Korridoren der Dauntless unterwegs sein, und das Gleiche erwarte ich von jedem, der nicht Teil dieser Zeremonie ist. Irgendwelche Fragen? Nein? Dann raus mit Ihnen. Vergnügen Sie sich und sehen Sie zu, dass alle anderen auch ihren Spaß haben.« Dann wechselte Desjani zu einer lässigeren Haltung und lächelte ihre versammelten Offiziere an. »Das ist ein Befehl.«

Ein Teil der Hauptkorridore des Schiffs war für ein Spießrutenlaufen vorbereitet worden, dessen Zweck es war, für Scheinverletzungen und echte, wenn auch harmlose Demütigungen zu sorgen. In einem Gang hatten die Matrosen Vorrichtungen aufgestellt, mit denen man jedem, der an ihnen vorbeiging, falsche Tätowierungen aufsprühen konnte, deren spezielle Farben sich nach wenigen Minuten wieder auflösten. Als Geary dort vorbeiging und ihm auf die Vorderseite seiner Uniform in großen kunstvollen Lettern der Spruch »Was würde Black Jack machen?« aufgesprüht wurde, fiel ihm auf, dass diese Tätowierungen viel zahmer und nicht annähernd so zweideutig waren wie einige, die er bei anderen Offizieren gesehen hatte.

In einem anderen Gang hatten die Programmierer ein Labyrinth aufgebaut, aus dem man nur entkam, wenn man das richtige Muster herausfand. An wieder anderer Stelle verteilten die für die Ernährung der Crew der Dauntless zuständigen Spezialisten uralte Syndik-Verpflegungsriegel, die man während des Rückzugs aus dem Syndik-Heimatsystem auf einer verlassenen Raumstation gefunden hatte. Wer sich in der Vergangenheit am lautesten über das schlechte Essen an Bord beschwert hatte, wurde hier gezwungen, ein paar Bissen Syndik-Verpflegung runterzuwürgen.

Ein weiteres Spießrutenlaufen erwartete einen im Gang zum Shuttlehangar. Die Waffen, die die Matrosen und Marines vorweisen konnten, rangierten von Stoffhasen und Luftballons über das ein oder andere Gummihühnchen bis hin zu einem flauschigen Löwen. Als Geary grinsend durch den Korridor ging, wurde er von den Veteranen zahlloser erbitterter Schlachten mit diesen harmlosen, albernen »Waffen« traktiert, während sich die Frauen und Männer vor Lachen bogen.

Die größte Attraktion fand sich im Shuttlehangar, dem größten Abteil des Schiffs, wo die Unwürdigen, die in die Gemeinschaft der Reisenden aufgenommen werden wollten, erst einmal vor die »Herrscher« des Sol-Sternensystems treten mussten.

Master Chief Gioninni, der die Rolle des König Jupiter spielte, saß auf einem beeindruckenden Thron, den er aus einem Rettungssitz zurechtgebaut hatte. Zudem hatte er sich einen langen wallenden Bart angeklebt, und es war Gioninni sogar gelungen, einen Dreizack aufzutreiben, eine antike Waffe mit einem zwei Meter langen Schaft, der in Spitzen mit bedrohlichen Widerhaken auslief. Dazu trug er eine Krone, die er in einer der Werkstätten der Dauntless hatte anfertigen lassen. Überzogen war der Kopfschmuck mit einer glänzenden Schicht Gold, das eigentlich für die Reparatur von elektronischen Bauteilen gedacht war.

Geary beschloss, sich davon zu überzeugen, dass dieses Gold auf jeden Fall in die Reparaturbestände zurückgeführt wurde, damit es nicht für irgendwelche privaten Zwecke abgezweigt werden konnte. Dann fiel ihm ein, dass Desjani sich zweifellos längst darum gekümmert hatte.

Die Krone wies neun Zacken auf, jeder stand für einen der Planeten im Sol-Sternensystem; in der Mitte fand sich Jupiter als der größte von ihnen. Es hatte einige Diskussionen über die Anzahl der Zacken gegeben, da die Vorfahren sich offenbar nicht hatten festlegen können, wie viele Planeten denn nun Sol umkreisten. Durch die Geschichte hindurch schwankte die Zahl zwischen neun und acht, dann zwölf, schließlich nur noch sechs, bis man zu acht zurückkehrte und dann wieder auf neun ging, wie es die jüngsten offiziellen Aufzeichnungen besagten. Letztlich hatte sich Geary auf die aktuellste Zahl festgelegt, und das war nun einmal die Neun gewesen.

Rechts neben König Jove saß Königin Callisto (normalerweise besser bekannt als Senior Chief Tarrini) und trug eine identische Krone. Sie hielt keinen Dreizack in der Hand, sondern einen Bogen von antikem Design. Die Pfeile in ihrem Köcher wirkten so echt und so gefährlich wie der Dreizack, mit dem Gioninni herumfuchtelte, auch wenn in Wahrheit vermutlich alles ganz harmlos war. Doch nach der Art zu urteilen, wie Senior Chief Tarrini ihren Bogen hielt, schien sie darauf gefasst zu sein, ihn als Knüppel einzusetzen, sobald der König oder sonst jemand zusätzlich ein wenig diszipliniert werden musste.

Links von Jupiter saß Davy Jones in der Gestalt von Gunnery Sergeant Orvis, Kommandant über die an Bord der Dauntless befindliche Abteilung der Marines. Orvis hielt einen Richterhammer vor sich, als sei auch der eine Waffe.

»Jove kann ich ja noch nachvollziehen«, sagte Charban, der neben Geary stand und auf dessen Brust eine Bodentruppen-Tätowierung mit einem passenden Spruch prangte. »Das ist der größte Planet im Sol-Sternensystem. Und Callisto ist einer der größten Monde von Jupiter, auf dem sich früher einmal die größte von Menschen erbaute Kolonie im äußeren Sternensystem befand. Das ergibt für mich alles einen Sinn. Aber wen oder was soll dieser Davy Jones darstellen? Ich habe nachgesehen, aber es gibt keinen frühen Raumschiffkommandanten, der so heißt.«

»Davy Jones war eine mythische Figur«, entgegnete Geary, »von dem die Seeleute auf der Erde glaubten, dass er über den Meeresgrund herrschte, auf hoher See Katastrophen auslöste und die Seelen von toten Matrosen an sich riss.«

»Ah, verstehe.« Charban blickte zu den drei Senatoren, die zögerlich den Hangar betreten hatten und sich nun unschlüssig umsahen. »Dann ergibt das einen Sinn.«

»Nein, das ist nicht wahr«, beklagte sich Senatorin Suva. »Was haben die Ozeane der Alten Erde mit dem Weltall zu tun?«

»Wir sind immer noch Matrosen, Senatorin«, erklärte Geary ihr. »Wir segeln zwar auf einem viel größeren Ozean, dem es an Wasser und allem anderen fehlt, aber die Arbeit ist immer noch die gleiche.«

Senatorin Costa reagierte darauf mit einem Schnauben. »Ich kann mich zwar nur an wenig aus der antiken Geschichte erinnern, aber ich weiß, dass Matrosen auf den Meeren der Alten Erde die meiste Zeit über betrunken waren. Das dürfte auch das alles hier erklären, denn das kann nur für jemanden einen Sinn ergeben, der zuvor genug getrunken hat.«

Senator Sakai kommentierte das alles nicht, er schien auf die zwei Sirenen konzentriert zu sein, die zu beiden Seiten der zwei Monarchen und des Richters standen. Die Sirenen – eine Frau und ein Mann – waren aus den Reihen der Matrosen und Marines gewählt worden. Den alten Traditionen entsprechend waren die Uniformen der zwei so modifiziert worden, dass sie verlockend und unentrinnbar aussahen. Allerdings hatte Geary in der Vergangenheit von Feiern gehört, bei denen die Modifikationen mit solchem Enthusiasmus in Angriff genommen worden waren, dass die beiden Darsteller der Sirenen kaum noch Stoff am Leib getragen hatten. Captain Desjani hatte jedoch von vornherein klargestellt, dass es auf ihrem Schiff eine eindeutige Definition für eine verlockende Bekleidung geben würde, von der die Uniformen selbst nicht einen Millimeter abzuweichen hatten.

An der linken Hüfte trugen beide Sirenen eines jener Multifunktionswerkzeuge, die gemeinhin als Swiz-Messer bekannt waren. An der rechten Hüfte hatten sie eine Rolle Klebeband festgemacht. Dieser Symbolismus, überlegte Geary, musste sogar von den Tänzern schnell erfasst werden, sollten sie dem Treiben an Bord der Dauntless zusehen. Allerdings würden die Aliens vermutlich nicht verstehen, dass die Sirenen auf der einen Seite Hilfe anbieten konnten, wenn niemand sonst greifbar war, dass sie auf der anderen Seite aber auch jene Art von Versuchung fernab der Heimat darstellten, die nur Probleme nach sich zog, wenn man sich erst mal auf sie eingelassen hatte.

Ein glückloser Matrose hatte sich gerade eben mit Mühe durch eine Erklärung gehangelt, wie die mythischen Objekte mit Namen Postbojen mutmaßlich angeordnet werden mussten, um Nachrichten zwischen den Sternen zu übermitteln. Nach einer schroffen Geste von König Jupiter und einer schwungvollen Gebärde mit dem Bogen von Königin Callisto wies Davy Jones den Matrosen an, sich in die gegenüberliegende Ecke zu stellen und für seine Kameraden gut hörbar ein langes, satirisches und sehr gewagtes Lied mit dem Titel »Die Gesetze der Flotte« vorzutragen, ehe er einen neuen Anlauf wagen konnte.

Tosender Jubel brandete auf, als Captain Desjani den Shuttlehangar betrat. Sie ging an den jubelnden Matrosen und Marines vorbei, bis sie bei Master Chief Gioninni angekommen war und ihm einen warnenden Blick zuwarf.

Der grinste sie nur breit an und sagte: »Captain Desjani, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«

»Königin Callisto hat an Captain Desjani nichts auszusetzen«, erklärte Senior Chief Tarrini zustimmend.

Gunnery Sergeant Orvis ergänzte: »Von Davy Jones wird sie für würdig befunden, Ihr Reich zu betreten.«

Gioninni wurde ernst, zog eine Augenbraue hoch und verkündete mit tiefer Stimme: »Captain Desjani, Sie werden hiermit verurteilt, den Schlachtkreuzer Dauntless zu befehligen, das beste Schiff der Flotte, dessen Crew leider nur aus Faulpelzen, Außenseitern, Schurken, Versagern und schlampigen Matrosen besteht, wie sie das Weltall noch nicht erlebt hat. Können Sie aus solchen Verlierern richtige Matrosen machen, Captain?«

Das anschließende Gelächter war zwar ausgelassen, aber Desjani antwortete laut genug, um gehört zu werden: »Das habe ich bereits erledigt.«

»Dann treten Sie in mein Reich namens Sol ein, Captain Desjani, und werden Sie Mitglied des altehrwürdigen Ordens der Reisenden.«

Erneut brandete Jubel auf, Tanya ging an Geary vorbei, salutierte und zwinkerte ihm zu. Er erwiderte den Salut und sah zu Charban und den Senatoren. »Sie können auch gern die Bekanntschaft des Königs und seiner Königin machen.«

Charban straffte mit dramatischer Überspitzung die Schultern und marschierte auf die königliche Familie von Sol zu, doch Costa und Suva zögerten. Sakai schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das ist eine Veranstaltung für das Militär, Admiral. Da sollten wir uns nicht einmischen.«

»Es ist eine Veranstaltung für jeden, der im All unterwegs ist«, korrigierte Geary ihn.

»Wir sind … nicht so wie Sie«, erklärte Senatorin Suva, in deren Stimme eine Spur von Bedauern mitzuschwingen schien.

»Sind Sie sich da ganz sicher?«, fragte Geary.

Die drei Senatoren sahen ihn daraufhin an, als hätten sie noch nie zuvor über diese Frage nachgedacht.

Am nächsten Tag erreichten sie Sol.

Alle Fröhlichkeit der Feier vom Tag zuvor war wie weggewischt, abgesehen von einem Plüschhasen, der von einer Höllenspeerbatterie adoptiert und zum Maskottchen gemacht worden war. Aber weder diese noch eine andere Waffe an Bord der Dauntless war feuerbereit. Die Schilde arbeiteten mit maximaler Leistung, aber das war nur ein notwendiger sekundärer Schutz gegen Strahlung und andere Gefahren. Ansonsten kam der Schlachtkreuzer so friedfertig ins System geflogen, wie es einem Kriegsschiff nur möglich war.

»Mir gefällt das überhaupt nicht«, grummelte Desjani zum x-ten Mal, während sie in ihrem Sessel auf der Brücke saß.

»Die Voraussetzungen für den Besuch des Sol-Sternensystems lassen keine Ausnahmen zu«, erwiderte Geary ebenfalls zum x-ten Mal. »Außerdem ist das System entmilitarisiert. Hier gibt es keine Waffen und keine Gefahren.«

»Diese Beschreibung passt auf keinen Ort, an dem sich Menschen aufhalten«, wandte Desjani ein.

»Zwei Minuten bis zum Verlassen des Hypernets«, verkündete Lieutenant Castries. Direkt neben ihr rangelten die drei Senatoren um den einzigen Beobachterplatz auf der Brücke. Rione und Charban waren ebenfalls anwesend, um diesem historischen Moment beizuwohnen. Für sie hatte Lieutenant Yuon auf der anderen Seite der Brücke Platz geschaffen.

Die letzte Minute verstrich in völligem Schweigen, da jeder mit seinen eigenen Gedanken befasst war.

Dann verschwand schlagartig das Nichts, und damit hatten sie das Hypernet verlassen. In der Ferne strahlte ein Lichtpunkt, der Sol kennzeichnete, den Heimatstern der Menschheit.

Aber Geary blieb keine Zeit, die Aussicht zu genießen, da sein Blick auf einen anderen Teil seines Displays gelenkt wurde. Dort blinkte ein Dutzend Warnsymbole, die auf Kriegsschiffe unbekannter Bauart aufmerksam machten.

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