Datham Hain war mit gespielter Kühnheit durch das Portal gegangen, in Wahrheit hatte er Todesangst. Seine Urängste drängten an die Oberfläche, als das markovische Gehirn jedes Subjekt analysierte und einstufte, nach alten, längst untergegangenen Maßstäben.
Er erwachte schlagartig und schaute sich um.
Er begriff sofort, daß er jetzt farbenblind war, obwohl es statt nur Schwarz, Weiß und Grautönen eine sanfte Sepiaschattierung gab, durch die manches verschwommen aussah und anderes deutlich hervortrat. Seine Tiefenwahrnehmung war immens, stellte er fest. Auf einen Blick konnte er genau sagen, wie weit alles Sichtbare voneinander entfernt war, und sein Gesichtsfeld schien auf 180 Grad erweitert zu sein.
Er schien sich auf einem Gesims über einer unfaßbaren Landschaft zu befinden. Das Land war öd und sandbedeckt, und es gab Hunderte von Kegeln, die wie gleichmäßig geformte Vulkane aussahen. Er strengte seine Augen an und stellte plötzlich fest, daß sich das Bild vergrößerte, jedesmal um das Doppelte. Dabei verstärkte sich auch eine kaum bemerkte haarfeine Linie in der Mitte des Sehbereichs, die zu einem dicken Balken wurde, der das Bild in zwei Ansichten trennte. Es war, als starrte er durch zwei Fenster, vor dem Mittelpfosten stehend.
Da unten waren Wesen, die sich bewegten. Hain starrte fasziniert hinunter. Es waren riesige Insekten, zwischen einem und fast vier Metern lang, bei einer Durchschnittshöhe von fast einem Meter. Sie besaßen zwei große, offenbar facettenreiche Augen, die wie bei Fliegen starr vorn am Kopf saßen. Unter den Augen saßen enorme Kiefer zu beiden Seiten eines Mundes, der einem Papageienschnabel glich. Erstaunt sah er eines der Wesen stehenbleiben und sich mit einer langen schwarzen Zunge das Gesicht putzen.
Der Körper war länglich und schien behaart zu sein. Angelegt auf dem Haar waren Flügel, mehrere Paare, wie Hain erkannte. An der Hinterseite des Körpers zeigte sich eine nackte, knochige Spitze, die zweifellos ein Stachel war.
Hain versuchte, sich das Schicksal eines davon Gestochenen vorzustellen.
Der Kopf schien an einem Scharnier oder Rundgelenk befestigt zu sein. Dann sah Hain zum erstenmal die Fühler, Riesenexemplare, die ein Eigenleben zu besitzen schienen und sich in alle Richtungen bewegten, außer nach vorn — auch senkrecht nach oben. Sie endeten in behaarten Knoten.
Die acht Beine waren dick und ebenfalls dicht mit Haaren bewachsen, die länger waren und abwärts zeigten. Sie besaßen mehrere Gelenke, und er sah zwei von den Wesen ihre Vorderbeine wie Hände gebrauchen, um einen Felsblock zur Seite zu räumen. Er sah, daß die Spitzen nicht aus Haaren bestanden, sondern dornartig waren, bedeckt mit einem klebrig aussehenden Sekret.
Die Insekten bewegten sich manchmal mit unglaublicher Geschwindigkeit, und ab und zu erhob sich eines in die Luft. Offenbar konnten sie bei ihrem Gewicht nicht weit fliegen, aber notfalls einen kurzen Luftsprung machen. Hain entdeckte, daß einige von ihnen Maschinen bedienten! Eine sah aus wie ein Schneepflug und räumte Staub und Schutt von den Wegen, andere dienten keinem sofort erkennbaren Zweck.
Er versuchte, den Kopf zu drehen, um an sich hinabzublicken, aber das ging nicht. Er öffnete den seltsam starren Mund und streckte die Zunge heraus. Sie war über drei Meter lang, beweglich wie ein Arm, und mit einer immens klebrigen Substanz bedeckt.
Ich bin einer von ihnen, dachte er, eher verwundert als angstvoll.
Er hob den Kopf und schob die Vorderbeine hoch. Er hatte recht gehabt. Drei Gelenke, alle in jeder Richtung beweglich. Die Spitzen waren Dorne, wie aus Hartgummi, und er experimentierte, indem er hinausgriff und einen kleinen Stein packte. Als seine Beine ihn berührten, verlieh ein klebriges Sekret ihm Halt. Als er losließ, wurde das Sekret fest und fiel ab wie abgestoßene Haut.
Als der Stein zu Boden fiel, bemerkte Hain sofort, daß er das nicht hörte, sondern fühlte, als harten Schlag. Die Fühler, sagte er sich. Sie nahmen Luftbewegung wahr, aber keinen Schall.
Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er Tausende kleiner Impulse durch sie empfing, dann spürte er unfaßbarerweise fast bei jedem einzelnen Ursprung und Entfernung.
Er kam dahinter, daß er etwa drei Meter lang und einen Meter hoch war, also von Durchschnittsgröße. Er bewegte seine Flügel — sechs Paare, stellte er fest —, lang, aber außerordentlich dünn und zerbrechlich, um sein Gewicht zu tragen. Er beschloß, sie nicht auszuprobieren, bis er über seine Anatomie besser Bescheid wußte.
Und wie komme ich von dem Gesims herunter? dachte er. Er beschloß, einen Versuch zu unternehmen, und schob seinen Körper ein wenig vor. Als seine Vorderbeine die Felswand berührten, schieden sie die Substanz aus und klebten fest.
Ermuntert stieß er sich ab und lief an der Wand hinunter. Es ging erstaunlich leicht, und er begriff, daß er sogar an einer Decke würde laufen können, wenn der Klebstoff sein Gewicht trug. Er fragte sich, wie diese Wesen sich miteinander verständigten, und war überaus nervös, als er sich unten einem der Insekten näherte.
Die anderen sahen ihn und blieben stehen.
»Warum stehen Sie einfach herum, Markling?«fragte sein Gegenüber streng. »Haben Sie keine Arbeit?«
Hain war betäubt. Die Sprache war eine Reihe unglaublich schneller Pulsierungen, auf irgendeine Weise von den Fühlern des anderen den seinen übermittelt, und trotzdem hatte er alles verstanden.
»Bitte. Ich bin auf dieser Welt neugeboren und brauche Hilfe und Anleitung«, sagte er.
»Was denn?«fragte der andere. »Krank — oder was ist?«
»Nein, nein«, erwiderte Hain. »Ich komme gerade von Zone, wo ich als einer von euch erwacht bin.«
Der andere dachte kurz nach.
»Hol mich der Teufel! Ein Neuzugang! Hatten seit über zehn Jahren keinen mehr. Sie passen sich gut an. Die meisten sind tagelang zu nichts zu gebrauchen. Na, ich bringe Sie zum nächsten Staatsgebäude, das ist dann deren Problem. Ich habe meine Arbeit. Kommen Sie mit.«
Hain sah, daß sein Führer fast um ein Drittel größer war als er. Die meisten Wesen, an denen sie vorbeikamen, schienen von seiner Größe oder etwas kleiner zu sein. Es gab mehrere große, die das Kommando zu führen schienen.
Sie liefen an einigen der hohen Kegel vorbei und schließlich an einem hinauf, der nicht anders aussah, und oben in das Loch hinein. Der obere Teil des Kegels, ungefähr zehn Meter hoch, war hohl, und sie liefen nicht nur abwärts, sondern am Überhang entlang.
Der Boden bestand aus Metall. Tunnels, mit Fliesen ausgelegt, beleuchtet von langen Leuchtröhren, führten wie Speichen hinaus. Sie waren breit genug, um zwei von den Wesen aneinander vorbeizulassen.
Hain sah türlose Öffnungen zu großen Kammern, die angefüllt waren mit allen möglichen seltsamen Gegenständen und in denen oft Dutzende der Insekten an der Arbeit waren. Schließlich erreichten sie eine Kammer, über deren Eingang ein Lichter-Sechseck zu sehen war. Im Inneren des Hexagons befand sich ein breiter grauer Ring, darin ein kleinerer schwarzer, in diesem ein weißer Punkt. Das erinnerte Hain ein wenig an die Rückansicht seines Führers, mit dem bedrohlichen Stachel.
Mehrere kleine und mittelgroße Wesen arbeiteten hier; offenbar handelte es sich um eine Art Büro. Riesengroße Druckmaschinen, die aussahen wie Schreibmaschinen, standen überall herum, während Fernsehschirme wiedergaben, was die Wesen mit ihren Vorderbeinen auf sonderbaren Tastaturen schrieben. Die Tastatur war eine Anordnung von offenbar gleichartigen Würfeln, vierzig oder fünfzig an der Zahl, die bei Berührung kurz aufleuchteten. Auf den Bildschirmen entstand ein irres Punktmuster ohne erkennbare logische Anordnung. Wenn der Schirm voll war, trat ein Hinterbein gegen einen großen Stift, der Schirm war leer, und es wurde weitergetippt.
Lesen kann ich die Sprache also nicht, dachte Hain. Nun, man kann nicht alles haben.
Der Führer wartete geduldig, bis jemand ihn bemerkte und aufsah.
»Ja?«fragte der Arbeiter böse.
»Habe den Markling auf der Straße gefunden, behauptet, ein Neuzugang zu sein«, sagte Hains Führer.
Was konnte ein Markling sein?
»Augenblick«, erwiderte der andere. »Ich stelle fest, ob Ihre Hoheit Sie empfängt.«Er ging durch einen Nebeneingang und blieb einige Minuten fort. Als er wieder auftauchte, sagte er:»Ihre Hoheit empfängt den Neuzugang. Nur diesen. Sie gehen wieder an Ihre Arbeit.«
»Gut«, entgegnete der Führer, drehte sich um und ging.
Hain sammelte seinen ganzen Mut und betrat den Nebenraum.
Im Inneren befand sich das größte Wesen, das er je gesehen hatte. Seine Haare waren weiß.
Es lagen ein paar Kisten und Säcke herum, und es gab eine der Schreibmaschinen mit einem viel größeren Bildschirm. Das war alles. Das riesige Wesen hob sich auf die hinteren vier seiner acht Beine.
»Wie ist Ihr Name?«fragte es.
»Datham Hain, Hoheit«, erwiderte er respektvoll.
Der Funktionär fuhr nachdenklich mit der Zunge über seinen Schnabel. Schließlich ging er zur Schreibmaschine und tastete etwas ein. Der Schirm füllte sich mit den seltsamen Punkten. Das Wesen studierte sie minutenlang, dann drehte es sich um.
»Normalerweise würden wir Sie nur ausbilden und konditionieren, Sie würden sich anpassen oder sterben. Aber in diesem Fall haben wir eine besondere Aufgabe für Sie. Schade, daß Sie als Markling aufgetaucht sind, aber das war zu erwarten. Sie werden hier in der Nähe untergebracht — einer meiner Mitarbeiter zeigt es Ihnen. Essen Sie zuerst einmal. Die meisten Neuzugänge kommen hungrig hier an. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, was das ist, wir können fast alles essen. Warten Sie in Ihrer Unterkunft, bis ich Anweisungen vom Kaiserlichen Hauptquartier erhalte.«
»Hoheit, darf ich eine Frage stellen?«
»Ja, ja«, sagte der andere ungeduldig. »Also?«
»Was ist ein Markling?«
»Hain, das Leben im akkafischen Reich ist hart und billig. Die Kindersterblichkeit ist enorm hoch, die Gründe werden Sie kennenlernen. Deshalb werden, um den Fortbestand der Rasse zu sichern, für jedes männliche ungefähr fünfzig weibliche Wesen geboren. Ein Markling ist ein weiblicher Akkafier, Hain. Sie haben eine Geschlechtsumwandlung erlebt.«
Datham Hain wurde von einem der Büroangestellten in einen großen Raum voller seltsamer Tiere, Pflanzen und Würmer geführt, die zum Teil noch lebten. Als Akkafier sich zu ernähren, war nicht erfreulich, jedenfalls für Hains unangepaßte Psyche, aber notwendig. So schlecht schmeckte das Zeug auch gar nicht, und es füllte die Leere in den offenbar mehrfach vorhandenen Mägen.
Entdeckt zu haben, daß er jetzt weiblich war, schockierte Hain nicht besonders; die Sexualität hier würde so völlig anders sein, daß es ohnehin kaum eine Rolle spielte. Beunruhigend war nur, daß die Männer allein zu bestimmen schienen. Die Nirlings, wie die männlichen Wesen genannt wurden, waren größer, beherrschten den Staat und die Technologie. Die Weibchen, zumeist geschlechtslos gemacht, leisteten die Arbeit, dem Anschein nach unter einem inneren Zwang.
Nach dem Essen wurde Hain zu einem Ruheraum gebracht, der mehrere Stockwerke hoch war, eine gewaltige unterirdische Wand von Zellen, jede gerade groß genug, eines der Wesen aufzunehmen. Die Arbeit ging offenbar rund um die Uhr weiter, und die Arbeiter lösten sich in Schichten ab. Hain kletterte mühelos hinauf und schob sich in die zugewiesene Zelle. Sie war warm und außerordentlich feucht, viel angenehmer als die trockene Luft im Büro. Es gab eine Art Teppich aus Tierhaaren, und eine kleine Tafel mit zwei Knöpfen, von denen einer hineingedrückt war. Neugierig drückte Hain den anderen. Sie hatte offenbar ein Radio vor sich, aus dem seltsam angenehme Geräusche drangen. Eine Welle der Erleichterung verlief über ihren Insektenleib, und sie verfiel in einen traumlosen Schlaf.
Der Büroangestellte ging zur Steuerkonsole der Aufseherin unter den Zellenreihen und sagte:»Auf Befehl Ihrer Hoheit muß der Markling in Eins-Achtundneunzig im Schlaf gehalten werden, bis man nach ihm verlangt. Der Beruhiger soll bei Schichtwechsel weiterlaufen.«
Die Aufseherin drückte auf zwei Knöpfe und nickte. Hain war in seligem Schlaf gefangen, bis die Knöpfe wieder gelöst wurden. Der Angestellte kehrte zurück ins Büro des Barons, um Bericht zu erstatten. Der große weiße Nirling nickte zustimmend. Als der Angestellte gegangen war, trat er an seine Kommunikationskonsole und wählte die Nummer des Palastes. Nach langer Zeit meldete sich jemand.
»Hier Baron Kluxm von Sub-Hex Neunzehn. Ich habe eine wichtige Nachricht zur sofortigen Vorlage im Staatsrat Ihrer Majestät.«
»Der Staatsrat ist nicht versammelt«, kam gelangweilt die Antwort. »Hat das nicht Zeit, Baron?«
»Eben nicht. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
»Ich verbinde mit General Ytil vom Kaiserlichen Stab. Er wird entscheiden.«
Bevor Kluxm etwas antworten konnte, hörte er ein Knacken, dann sagte eine andere Stimme:»Ytil.«
»Ich hatte heute einen Neuzugang, General, einen von jenen, auf die wir achten sollten.«
»Einen Neuzugang? Welchen?«
»Sein Name lautet Datham Hain. Als gewöhnliche Markling-Brüterin.«
»Markling-Brüterin! Schade! Aber sich vorzustellen, daß wir einen haben! Hmmm. Das könnte sogar unser Vorteil sein. Ich muß meine Unterlagen und Aufzeichnungen aus Zone durchgehen, doch wenn ich mich recht erinnere, ist Hain der habgierige und ehrgeizige Typ.«
»Ja, das geht aus meinen Unterlagen hervor«, bestätigte Kluxm. »Sie war hier aber ungewöhnlich respektvoll und still. Scheint sich sehr gut angepaßt zu haben.«
»Ja, ja, das war zu erwarten. Hain ist klug genug, das Gesellschaftsgefüge und ihre Grenzen darin klar zu erkennen. Wo ist sie jetzt?«
»In einem Ruheraum in meiner Nähe. Mit vollem Magen und bei Schlafmusik dürfte es zwei, drei Tage dauern, bis der Hunger sich wieder durchsetzt.«
»Ausgezeichnet. Ich rufe den Staatsrat zusammen, und wir lassen sie holen, wenn es soweit ist. Sie sind sehr zu loben, Baron.«
Klar, dachte Kluxm düster. Und du schreibst alles auf dein Konto.
Der General hastete durch den Palastkorridor, nahm in einem Sicherheitsraum ein kleines, schwarzes, edelsteinartiges Gerät an einer langen Kette an sich, hängte es über seinen rechten Fühler und stieg hinunter zum untersten Stockwerk des Palastes.
Der akkafische General trat mit schnellen Schritten in die Dunkelheit am Ende des Kellerkorridors.
Und kam in Zone heraus.