Ein anderer Teil des Feldes

Nathan Brazil reckte sich in seinem riesigen, gepolsterten Ruhesessel auf der Brücke des Frachters ›Stechekin‹, der mit einer Ladung Korn für das von einer Dürre heimgesuchte Coriolanus und drei Passagieren seit neun Tagen von Paradies unterwegs war. Passagiere waren bei solchen Flügen üblich — das Schiff verfügte über ein Dutzend Kabinen —, da Frachtverkehr viel billiger war als Passagierdienst, und einfacher dazu, wenn man sein Ziel möglichst schnell erreichen wollte. Auf jeden Passagierflug nahezu überallhin kamen tausend Frachtflüge.

Die Besatzung bestand allein aus Brazil. Die Schiffe waren jetzt automatisiert, so daß er nur für den Fall eines Defekts da war. Nahrung für alle war vor dem Start zubereitet und in die automatische Küche eingegeben worden. Bei den Gelegenheiten, wenn jemand außerhalb seiner Kajüte oder mit dem Kapitän essen wollte, benützte man eine winzige Messe.

In Wahrheit betrachteten die Passagiere ihn mit größerer Verachtung, als er sie. In einem Zeitalter extremer Anpassung waren Männer wie Nathan Brazil die Außenseiter, die Einzelgänger, diejenigen, welche nicht dazupaßten. Rekrutiert meist von den Barbarenwelten der Grenzbereiche, konnten sie die Einsamkeit ertragen, die endlosen Wochen oft ohne menschliche Gesellschaft. Die meisten Psychologen bezeichneten sie als Soziopathen, Menschen, die sich der Gesellschaft entfremdet hatten.

Brazil mochte die Menschen durchaus, aber nicht die fabrikgefertigten. Er saß lieber hier in seinem Reich, die Sterne auf den großen dreidimensionalen Schirmen vor sich, und dachte darüber nach, warum die Gesellschaft sich ihm entfremdet hatte.

Er war ein kleiner Mann, ungefähr 1,70 m groß, schmächtig und dünn. Er hatte eine dunkle Haut. Zwei funkelnde, braune Augen flankierten eine auffallende Römernase über einem Mund, der sehr breit, dehnbar und voller Zähne war. Sein schwarzes Haar hing lang auf die Schultern herab, war aber strähnig und fett und nicht sauber. Er hatte einen dünnen Schnurrbart und einen noch dünneren Vollbart, der aussah, als habe jemand versucht, eine dichte Haarbürste wachsen zu lassen, aber ohne Erfolg. Er trug einen weiten, grellbunten Kittel, eine dazu passende Hose und Sandalen von widerwärtigem Grün.

Die Passagiere hatten, wie er wußte, eine Heidenangst vor ihm, und das gefiel ihm. Leider würden sie noch fast dreißig Tage unterwegs sein, und Langeweile und Beengung würden sie früher oder später dazu treiben, daß sie sich irgendwo einmischten und auf seinem Schoß landeten.

Ach was, dachte er. Hol sie ruhig alle zusammen. Sie haben lange genug in dem kleinen Aufenthaltsraum im Heck gekauert.

Er betätigte einen Hebel über sich.

»Der Kapitän«, erklärte er mit Tenorstimme, die trotzdem einen rauhen Unterton hatte, so daß sie ein wenig schroff und unabsichtlich sarkastisch klang, »ersucht heute um das Vergnügen Ihrer Gesellschaft beim Abendessen. Wenn Sie wollen, können Sie in dreißig Minuten zu mir in die Messe kommen. Denken Sie sich nichts dabei, wenn Sie keine Lust haben. Ich tue es auch nicht«, schloß er und schaltete den Lautsprecher ab, während er leise in sich hineinlachte.

Warum mache ich das? fragte er sich zum hundertsten — oder zum tausendsten? — Mal. Neun Tage lang jage ich sie herum, tyrannisiere sie und sehe von ihnen so wenig wie möglich. Und wenn ich anfange, gesellig zu sein, geht es daneben.

Er seufzte, streckte die Hand aus und wählte die Speisen an. Jetzt würden sie kommen oder hungern müssen. Er kratzte sich zerstreut und fragte sich, ob er vor dem Essen duschen sollte oder nicht. Nein, entschied er, ich habe erst vor fünf Tagen geduscht; ich nehme einfach ein Deodorant.

Er griff nach dem Buch, das er mit Unterbrechungen gerade las, eine blutige Romanze auf irgendeinem fernen Planeten, vor Jahrhunderten veröffentlicht und von einer überraschten und zufriedenen Bibliothekarin für ihn als Faksimileausgabe hergestellt.

Er nannte Bibliothekare seine Geheimagenten, weil er zu den ganz wenigen Leuten gehörte, die überhaupt Bücher lasen. Bibliotheken waren gewöhnlich Einzeleinrichtungen auf Planeten und wurden nur von sehr wenigen Leuten aufgesucht. Niemand schrieb mehr Bücher, dachte er, nicht einmal diesen Mist hier. Was man an Informationen brauchte, bezog man aus dem Computeranschluß in jedem Haushalt; selbst davon war die übergroße Mehrheit Sprachgeräte, die Fragen beantworteten. Nur die Technokraten mußten lesen.

Nur Barbaren und Wanderer lasen noch.

Und Bibliothekare.

Alle anderen brauchten lediglich einen Schalter zu drehen, um eine volle, dreidimensionale Bild-Ton-und-Geruchs-Schöpfung ihrer eigenen Phantasie oder die einer vom Staat ausgewählten Mannschaft hingebungsvoller Phantasten zu erleben.

Langweiliger Dreck, dachte er. Selbst die Menschen wurden ohne Einfallskraft geboren. Die Phantasiereichen wurden gezügelt — oder beseitigt. Zu gefährlich, wenn mal jemand dachte, außer nach den Maßstäben des Staates.

Brazil fragte sich nebenbei, ob einer seiner Passagiere lesen konnte. Vielleicht das Schwein — sein Name für Datham Hain, der sehr große Ähnlichkeit mit einem Schwein hatte —, aber er las vermutlich nur das Zeug, das er verkaufte, oder ähnlichen Mist. Vielleicht ein Handbuch über zwanzig verschiedene Methoden, jemanden zu erdrosseln, dachte er. Hain machte den Eindruck, als könnte ihm das Genuß bereiten.

Das Mädchen in seiner Begleitung war schwerer zu beurteilen. Wie Hain stammte sie offenkundig nicht von den Kommune-Welten — sie war gereift, um die Zwanzig, und wenn sie nicht so ausgezehrt gewirkt hätte, wäre sie hübsch gewesen. Nicht toll gebaut oder schön, aber hübsch. Sie hatte jedoch einen leeren Blick und war dem fetten Kerl völlig Untertan. Wu Julee hieß sie nach dem Ladeverzeichnis. Julie Wut fragte es in einem Winkel seines Gehirns. Da war es wieder! Verdammt! Er versuchte, die Wurzel des Gedankens zu fassen, aber sie verschwand.

Aber sie sieht chinesisch aus, sagte die kleine Stimme und tauchte wieder unter.

Chinesisch. Das Wort hatte einmal etwas bedeutet. Er wußte es. Wo kamen diese Ausdrücke her? Und warum konnte er sich nicht erinnern, woher sie kamen?

Dann verschwand der Gedanke plötzlich, und er war wieder bei seiner Hauptüberlegung.

Der dritte Passagier — fast das Übliche, dachte er, nur, daß er nie den üblichen, ewig zwölfjährigen Automaten bei seinen Flügen erwischte. Sie waren alle aufgezogen und konditioniert, um gleich auszusehen, gleich zu denken und zu glauben, ihre sei die beste aller Welten. Kein Grund zu reisen. Aber Vardia Diplo 1261 war jedenfalls unter der Oberfläche dasselbe: sah aus wie Zwölf, war flachbrüstig, wahrscheinlich geschlechtslos gemacht, da eine gewisse Beckenbreite festzustellen war. Sie war Kurier zwischen ihrer Welt und dem nächsten Haufen Roboter entlang der Reihe. Brachte ihre ganze Zeit damit zu, Gymnastik zu treiben.

Ein dünner Glockenton verkündete, daß das Essen serviert war. Er stand auf und ging zur Messe.

Die Messe — niemand wußte, warum sie so genannt wurde — bestand lediglich aus einem großen, am Boden befestigten Tisch und einer Reihe von Stühlen, die Teil des Bodens waren, bis man an einem kleinen Ring zog, worauf sie in die Höhe gingen und zu bequemen Sitzen wurden. Ansonsten war der Raum aus milchig weißem Kunststoff — Wände, Boden, Decke, sogar die Tischplatte. Die Monotonie wurde nur durchbrochen von kleinen Tafeln, die Namen, Baudaten und Eigentümer des Schiffes nannten, sowie von seiner und des Schiffes Bestellung durch die Konföderation und seiner Kapitänsurkunde.

Er ging hinein, rechnete halb damit, daß niemand zur Stelle sein würde, und sah überrascht die beiden Frauen schon am Tisch sitzen. Der dicke Mann stand vor dem Kapitänspatent und las den Text.

Hain trug eine hellblaue Toga, in der er aussah wie Nero; Wu Julee hatte sich ähnlich gekleidet, sah aber damit besser aus. Die Komwelt-Bewohnerin Vardia trug ein schlichtes, einteiliges, schwarzes Gewand. Er nahm nebenbei wahr, daß Wu Julee in Trance verfallen zu sein schien und vor sich hinstarrte.

Hain setzte sich zu ihr, eine steile Falte auf seiner Stirn.

»Was ist an meinem Patent so merkwürdig?«fragte Brazil.

»Dieses Formular«, erwiderte Hain mit sanfter, beunruhigender Stimme. »Es ist so alt. Nach meiner Erinnerung ist es nie benutzt worden.«

Der Kapitän nickte und lächelte, dann drückte er einen Knopf unter seinem Stuhl. Die Speisefächer öffneten sich oben, und vor jedem standen Platten mit dampfender Nahrung. Eine große Flasche und vier Gläser stiegen aus einer runden Öffnung in der Tischmitte.

»Ich habe es vor langer Zeit bekommen«, sagte er, griff nach einem Glas und goß nicht-alkoholischen Wein ein.

»Sie sind also verjüngt worden, Captain?«fragte Hain höflich.

Brazil nickte.

»Sehr oft. Frachtschiffkapitäne sind bekannt dafür.«

»Aber das kostet — es sei denn, man hat Einfluß beim Rat«, meinte Hain.

»Gewiß«, sagte Brazil, während er an seinem synthetischen Fleisch kaute. »Aber wir werden gut bezahlt, sind alle paar Wochen nur wenige Tage im Hafen, und die meisten von uns hinterlegen ihre Gehälter einfach, um zu bezahlen, was wir brauchen. Heutzutage gibt es sonst nicht viel, wofür man es ausgeben kann.«

»Aber das Datum«, warf Vardia ein. »Es ist so alt. Bürger Hain sagte, es seien dreihundertzweiundsechzig Jahre.«

»Nicht so ungewöhnlich«, sagte Brazil achselzuckend. »Ein anderer Kapitän auf dieser Linie ist über fünfhundert.«

»Ja, das ist wahr«, erklärte Hain. »Aber auf dem Patent steht ›Dritte Erneuerung — P. C.‹. Wie alt sind Sie denn nun wirklich?«

Brazil zuckte wieder mit den Schultern.

»Ich weiß es ehrlich nicht. Jedenfalls so alt wie die Aufzeichnungen. Das Gehirn hat eine endliche Aufnahmefähigkeit, so daß jede Verjüngung von der Vergangenheit ein wenig mehr auslöscht. Ich habe manchmal Erinnerungsfetzen, aber nichts, was ich festhalten kann. Ich könnte sechshundert Jahre alt sein — oder sechstausend, obschon ich das bezweifle.«

»Sie haben nie nachgeforscht?«fragte Hain.

»Nein.«Brazil schluckte den Brei hinunter und trank einen Schluck Wein nach. »Scheußliches Zeug«, sagte er und hielt das Glas hoch. »Ich bin durchaus neugierig gewesen, was das betrifft«, fuhr er fort, »aber die Aufzeichnungen hören einfach auf. Ich habe zu viele Bürokratien überlebt. Nun, ich habe ohnehin immer für jetzt und die Zukunft gelebt.«

Hain war mit dem Essen schon fertig und klopfte auf seinen großen Bauch.

»Ich bin in ein, zwei Jahren zur ersten Verjüngung fällig. Ich bin fast neunzig und fürchte, daß ich in den letzten Jahren sehr rücksichtslos mit mir umgesprungen bin.«

»Nun, meine Laufbahn hängt hier an der Wand«, sagte Brazil nach einer Pause, »und was Bürgerin Vardia macht, ist klar. Aber was veranlaßt Sie, zwischen den Sonnensystemen herumzuflitzen, Hain?«

»Ich bin — tja, nun, ein Verkäufer, Captain«, erwiderte der dicke Mann. »Alle Planeten sind in den Überschüssen, die sie produzieren, auf ihre Weise einzigartig. Was auf dem einen Überschuß ist, wird auf dem anderen meist gebraucht — wie das Korn, das Sie in Ihrem schönen Schiff transportieren. Ich bin ein Mann, der solche Geschäfte abschließt.«

»Und Sie, Bürgerin Wu Julee?«fragte Brazil. »Sind Sie seine Sekretärin?«

Das Mädchen wirkte tief verwirrt. Sie hat echte Angst, dachte Brazil erstaunt. Sie wandte sich sofort Hain zu und sah ihn flehend an.

»Meine — äh, Nichte ist sehr scheu und still, Captain«, sagte Hain sofort. »Sie bleibt lieber im Hintergrund. Du bleibst doch lieber im Hintergrund, nicht wahr, meine Liebe?«

Sie erwiderte mit einer Stimme, die vom Nichtgebrauch ganz brüchig war, dünn und ausdruckslos wie jene von Vardia.

»Ich ziehe es vor, im Hintergrund zu bleiben«, meinte sie dumpf wie eine Maschine.

»Verzeihung«, sagte Brazil zu ihr und hob resigniert die Hände.

Seltsam, dachte er. Die eine, die wie ein Roboter aussieht, ist gesprächig und ein bißchen neugierig, und die andere, die wie ein richtiges Mädchen aussieht, ist ein Roboter. Nach dem Aussehen darf man nicht gehen.

Vardia brach das Schweigen. Schließlich war sie für den diplomatischen Dienst erschaffen worden.

»Ich halte es für faszinierend, daß Sie so alt sind, Captain«, sagte sie freundlich. »Vielleicht sind Sie der älteste lebende Mensch. Meine Rasse kennt natürlich keine Verjüngung — sie ist nicht erforderlich.«

Nein, natürlich nicht, dachte Brazil bedrückt. Sie lebten ihre achtzig Jahre als jugendliche Spezialistenglieder im Ameisenstaat ihrer Gesellschaft, dann erschienen sie ruhig vor der örtlichen Todesfabrik, um zu Dünger verarbeitet zu werden.

Ameisenstaat? dachte er erstaunt. Was, zum Teufel, sind Ameisen?

»Nun, alt oder nicht, kann ich nicht sagen, aber es nützt einem nicht viel, wenn man nicht einen Beruf hat wie den meinen«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich immer noch weiterlebe — das muß wohl in mir angelegt sein.«

Vardias Miene hellte sich auf. Das war etwas, das sie verstehen konnte.

»Möchte wissen, was für eine Welt das sein muß, die einen solchen Imperativ des Überlebens verlangt?«meinte sie und bewies damit allen, daß sie überhaupt nichts verstand.

Brazil ging darüber hinweg.

»Eine, die lange tot und untergegangen ist, meine ich«, sagte er trocken.

»Ich glaube, wir gehen in unsere Kabinen zurück, Captain«, sagte Hain, stand auf und reckte sich. »Um die Wahrheit zu sagen, das einzige, was anstrengender ist, als irgend etwas zu tun, ist, gar nichts zu tun.«Julee erhob sich fast im selben Augenblick, und sie gingen gemeinsam hinaus.

Vardia sagte:»Ich werde wohl auch gehen, Captain, doch ich hätte gern wieder Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen und mir vielleicht die Brücke anzusehen.«

»Aber gern«, erwiderte er liebenswürdig. »Ich nehme hier alle Mahlzeiten zu mir, und Gesellschaft ist immer willkommen. Vielleicht essen wir morgen miteinander, unterhalten uns, und ich zeige Ihnen danach, wie das Schiff gesteuert wird.«

Als er in der Messe allein war, sah er sich die leeren Teller an. Hain hatte, wie erwartet, keinen Bissen übriggelassen, ebenso Vardia und er selbst — die Mahlzeiten wurden einzeln nach den jeweiligen Vorlieben und dem Körperbau zubereitet.

Julees Essen war fast unberührt. Sie hatte im Teller nur herumgestochert.

Kein Wunder, daß sie dahinsiecht, jedenfalls körperlich, dachte er. Aber warum seelisch? Sie war ganz gewiß nicht Hains Nichte, und er bezweifelte, ob sie eine Angestellte sein konnte.

Was dann?

Er drückte auf den Abräumknopf und versenkte die Stühle, dann kehrte er auf die Brücke zurück.

Im Weltraum waren Frachterkapitäne natürlich das Gesetz. Sie mußten es sein. Alle Schiffe besaßen Sicherheitsvorkehrungen, die bei jedem Kapitän verschieden waren, aber auch solche, die allen gemeinsam waren, wenn auch nur diesen Kapitänen bekannt.

Brazil ließ sich in seinem Kommandosessel nieder und blickte auf den Projektionsschirm, der noch immer die fast unveränderte Sternenwelt zeigte. Sie sah sehr realistisch und eindrucksvoll aus, war aber unecht, eine Computersimulation; der Balla-Drubbik-Antrieb, der Überlichtgeschwindigkeit erlaubte, war in seiner Art außerdimensional. Außerhalb des Energieschachts des Schiffes befand sich 3° einfach nichts, was menschlichen Begriffen zugänglich gewesen wäre.

Er tippte auf der Computertastatur ein: ›ICH VERMUTE ILLEGALE HANDLUNGEN. KABINE 6 AUF DEM LINKEN, KABINE 7 AUF DEM RECHTEN BILDSCHIRM ZEIGEN.

Der Computer ließ eine kleine gelbe Lampe aufflammen, um anzuzeigen, daß er die Anweisung erhalten und den Code des Kapitäns registriert hatte, dann wurde das simulierte Sternenfeld durch die nebeneinanderliegenden Ansichten der beiden Kabinen ersetzt.

Die Tatsache, daß in allen Kabinen Kameras versteckt waren und von den Kapitänen bedient werden konnten, war ein streng gehütetes Geheimnis, obschon bei mehreren Personen, die zufällig dahintergekommen waren, die Konföderation dieses Wissen gelöscht hatte. Aber mit diesen Methoden war so mancher Wahnsinnige und Pirat gefaßt worden, und Brazil wußte auch, daß die Hafenbehörden der Konföderation sich die Aufzeichnungen dessen ansehen würden, was er live sah, um ihn nach seinen Motiven zu befragen. Man tat so etwas nicht leichtfertig.

Kabine 6 — Hains Kabine — war leer, aber der Gesuchte befand sich in Wu Julees Kabine 7. Ein weniger erfahrener, weniger abgestumpfter Mann wäre von der Szene abgestoßen gewesen.

Hain stand an der geschlossenen und verriegelten Tür und war völlig nackt. Wu Julee, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht, war ebenfalls nackt.

Brazil drehte den Ton auf.

»Komm, Julee«, befahl Hain. Es stand nicht im Zweifel, was er erwartete.

Das Mädchen zuckte angstvoll zurück.

»Bitte! Bitte, Meister!«flehte sie mit all der hysterischen Leidenschaft, die sie vor anderen Augen verbarg.

»Wenn du es getan hast, Julee«, sagte Hain leise. »Erst dann.«

Sie tat, was er verlangte.

Weniger erfahrene und weniger abgestumpfte Männer wären von dem Anblick abgestoßen worden, gewiß.

Brazil begann, sich zu erregen.

Als sie fertig war, flehte Wu Julee den dicken Mann erneut an, ihn ihr zu geben. Brazil wartete aufmerksam, schon halb im klaren darüber, was das sein mußte. Er mußte nur sehen, wo es versteckt war und wie es geschützt wurde.

Hain versprach ihr, es zu bringen, und zog seine Toga wieder an. Er entriegelte die Tür und schaute sich im Korridor um, ging zu seiner eigenen Kabine und sperrte die Tür auf. Der unsichtbare Zeuge blickte auf Kabine 6.

Hain kam herein und zog unter dem Waschbecken einen kleinen, schmalen Aktenkoffer heraus. Er verfügte über den wirksamsten Sicherheitsverschluß, stellte Brazil fest — fünf kleine Quadrate, darauf programmiert, fünf von Hains zehn Fingerabdrücken in einer gewissen Reihenfolge aufzunehmen. Hains Körper verdeckte die Kombination, aber das spielte ohnehin keine Rolle — ohne Hains Berührung würde das ganze Innere sich in einem Säurebad sofort auflösen.

Hain öffnete den Koffer vor einem Fach mit Schmuck und Körperschminke. Normal genug, und der Einsatz schien tief genug zu sein, den ganzen Koffer auszufüllen. Keine Zollprobleme.

Durch den dünnen Kunststoff, der die zusätzliche Sperre verdeckte, betätigte er eine zweite Fingerabdruck-Kombination, und das Fach löste sich heraus und schien auf etwas anderem zu schweben. Der dicke Mann hob das Fach heraus.

Zum erstenmal bemerkte Brazil, daß Hain hauchdünne Handschuhe trug. Er hatte nicht gesehen, wie er sie angezogen hatte — vielleicht schon vor der Szene, die er zuvor beobachtet hatte —, aber sie waren da.

Der dicke Mann griff hinein und zog einen winzigen Gegenstand heraus, der vor Feuchtigkeit beinahe tropfte. Brazil konnte sehen, daß der ganze Kofferboden damit ausgefüllt war. Sein Verdacht hatte sich bestätigt.

Datham Hain war Schwamm-Händler.

Das Schmuggelgut wurde ›Schwamm‹ genannt, weil es genau das war — ein fremdes Schwammgewächs von einer fernen Meereswelt, die inzwischen durch die Konföderation zum Sperrgebiet erklärt worden war.

Brazil erinnerte sich an die Hintergründe. Ein schöner Planet, zum größten Teil Ozean, aber mit Millionen von Inseln, durch ein Netz von Untiefen miteinander verbunden. Tropisches Klima, außer an den Polen. Die Welt glich einem Paradies, und die Tests hatten ergeben, daß es für den Menschen nichts Schädliches gab. Eine Versuchskolonie — zwei-, dreihundert Leute — wurde, wie üblich, für die fünfjährige Prüfzeit auf den beiden größten Inseln abgesetzt. Freiwillige, das verstand sich von selbst, die letzten Überbleibsel der Pioniere unter der Menschheit.

Wenn sie überlebten und florierten, gehörte ihnen die Welt — um sie zu entwickeln oder mit ihr anzufangen, was sie wollten. Da aber die Prüfinstrumente des Menschen nur das Bekannte und das Theoretische zu analysieren vermochten, gab es keine Möglichkeit, eine Bedrohung zu entdecken, die so fremdartig war, daß man sie sich nicht einmal hatte vorstellen können. Das war der eigentliche Grund für die Prüfzeit.

Die Menschen hatten sich also niedergelassen und gelebt und geliebt und gespielt und auf ihren Inseln gebaut.

Fast einen Monat lang.

Dann fingen sie an, wahnsinnig zu werden, die Angehörigen dieser Kolonie. Sie entwickelten sich zurück — zuerst langsam, dann zunehmend schneller. Sie verwandelten sich in primitive Tiere, als das, was von ihnen Besitz ergriffen hatte, ihre Hirne zerfraß. Sie wurden wie wilde Affen, nur ohne selbst die winzigsten Reste irgendwelcher Überlegung. Schließlich starben sie an ihrer Unfähigkeit, auch nur die Grundanforderungen von Essen und Unterkunft zu bewältigen. Die meisten ertranken; einige brachten sich gegenseitig um.

Und aus ihren Leibern wuchsen schließlich die hübschen Blumen der Insel in neuer Fülle.

Wissenschaftler kamen zu dem Schluß, daß eine Art elementarer Organismus — nicht mit dem Grundstoff Kohlenstoff oder Silikon, sondern den Eisenoxyden im Gestein ihrer schönen Insel — durch die Luft nicht auf sie direkt, sondern auf die synthetischen Lebensmittelrationen einwirkte, die sie mitgebracht hatten, um davon zu leben, bis sie ihre Landwirtschaft aufbauen konnten.

Und sie hatten ihn gegessen, und er hatte sie zerfressen.

Aber es hatte einen Überlebenden gegeben — eine Frau, die sich in den riesengroßen Schwammkolonien an einem besonders felsigen Ufer versteckte. Sie war dann auch gestorben — aber fast drei Wochen später als die anderen, als sie nicht mehr jeden Abend zurückkam, um im Schwammbett zu schlafen.

Die natürlichen Absonderungen des Schwammes wirkten als Hemmer — nicht als Gegenmittel. Solange ein Opfer jedoch täglich das Sekret zugeführt bekam, schien der mutierte Stamm unwirksam zu sein. Ließ man den Stoff fort, begann der Verfallsprozeß von neuem. Wissenschaftler hatten jedoch Proben von dem mutierten Stamm und des lebenden Schwammes mitgenommen, um sie in ihren Labors auf fernen Welten zu studieren. Man hatte angenommen, alles sei danach vernichtet worden — aber offenbar war dem nicht so. Übelste Elemente hatten sich etwas davon verschafft und entwickelten es im unbekannten Raum in ihren eigenen Labors.

Die perfekte Ware.

Wenn man den Stoff Leuten insgeheim ins Essen tat, steckte man sie an. Wenn dann die ersten Symptome auftauchten und die ganze Umgebung vor Rätsel stellten, erschien der Händler auf dem Plan. Er linderte die Schmerzen und führte den Normalzustand herbei, indem er einem ein bißchen Schwamm gab — wie Hain in eben diesem Augenblick Wu Julee eine Dosis verabreichte.

Die Konföderation half einem nicht. Sie behielt eine Schwammkolonie auf der gesperrten Welt für die Betroffenen bei, wo man ein normales, wenn auch sehr primitives Dasein führen und jede Nacht ein Schwammbad nehmen konnte. Das heißt, wenn man das Opfer noch hinzuschaffen vermochte, bevor die Krankheit zu weit fortgeschritten war und es sich nicht mehr lohnte.

Die Schwamm-Händler suchten sich nur die Reichsten und Mächtigsten aus — oder ihre Kinder, wenn ihre Welt Familien kannte. Für den täglichen Schwammbedarf wurde nichts verlangt, o nein. Man tat nur, was sie verlangten, wenn sie etwas verlangten.

Es herrschte sogar der Verdacht, so viele Machthaber der Konföderation seien dem Stoff verfallen, daß das der Grund sei, weshalb man nie ernsthaft nach einem Gegen- oder Heilmittel gesucht hatte.

Denn Macht war das überragende Ziel der Schwamm-Händler.

Nathan Brazil fragte sich, wer Wu Julee war. Die Tochter eines hohen Machthabers oder Bankiers oder Industriellen? Vielleicht das Kind des Exekutivleiters der Konföderation? Sie war wohl eher eine Versuchsperson, dachte er. Es lohnte nicht, sich bloßzustellen.

Sie war zweifellos Hains absolute Sklavin. Die Krankheit hatte in ihr bis kurz vor dem Punkt Fuß fassen dürfen, wo sie unkontrollierbar wurde. Menschlich, ja, aber wahrscheinlich der Intelligenzquotient schon halbiert, ständig von leichten Schmerzen geplagt, die zunahmen, sobald die Wirkung des Schwamm-Antitoxins nachließ. Eine wirksame Demonstration, die es dem Händler ersparte, eine unschuldige Person zu infizieren und den Dingen freien Lauf zu lassen. Das geschah im Bedarfsfall natürlich auch — aber es war nicht gut, einen langen Zeitraum entstehen zu lassen, in dem den Agenten der Konföderation offenbar wurde, daß ein Schwamm-Händler frei herumlief.

Brazil fragte sich beiläufig, warum das Mädchen nicht Selbstmord beging. Er glaubte, daß er das in einem solchen Fall getan hätte. Ein Opfer ist aber wahrscheinlich schon zu hilflos, um daran zu denken, bis es begreift, daß Selbstmord der einzige Ausweg ist, entschied er.

Brazil blickte wieder auf den Bildschirm. Hain hatte den Koffer wieder verschlossen und weggestellt und legte sich schlafen. Raffiniert, der Koffer, dachte der Kapitän. Schwamm ist außerordentlich stark komprimierbar und braucht nur so viel Meerwasser, daß er feucht bleibt. Er wuchs sogar in dem Koffer, dachte er. Wenn man Stücke verteilte, wuchsen neue nach. Das war der Grund, warum ein Opfer stets nur die Mindestmenge erhielt — wenn man genug davon in die Hand bekam, konnte man ihn selbst züchten.

Wu Julee lag auf ihrem Bett, ein Bein hing herab. Sie atmete schwer, aber auf ihrem Gesicht war eine Art Idiotenlächeln zu sehen.

Linderung für einen weiteren Tag, der kleine Schwammwürfel geschluckt, während der Körper das Beweismaterial aufspaltete.

Nun drehte sich Brazil doch der Magen um.

Was warst du, Wu Julee, bevor Datham Hain ein Essen servierte? fragte er sich. Studentin oder Gelehrte oder Spezialistin wie Vardia? Eine verwöhnte Göre? Eine Jungfrau, die vielleicht eines Tages Kinder zur Welt zu bringen hoffte?

Alles fort, dachte er düster. Die Aufzeichnungen würden Hain eindeutig überführen — und das Syndikat der Schwamm-Händler würde ihn auch opfern. Im höchsten Fall hatte er von Zwangsselbstmördern gehört, wenn sie Psychosonden oder dergleichen über sich ergehen lassen mußten. Sie würden von ihm nichts bekommen als sein Leben.

Aber Wu Julee — ohne Schwamm brauchte sie, von ihrem Zielpunkt aus gerechnet, bei Höchstgeschwindigkeit achtzehn Tage, um die verdammte Planetenkolonie zu erreichen, und sie befand sich bereits vor oder am Stadium unkontrollierbarer Ausbreitung der Krankheit.

Sie würde als hirnlos vegetierendes Wesen ankommen, unfähig zu allem, was nicht vom autonomen Nervensystem gesteuert wurde, nachdem sie den Großteil der Reise als Tier zugebracht hatte. Ein, zwei Tage danach würde ihr Nervensystem zerfressen werden, und sie mußte sterben.

Man würde sich also nicht die Mühe machen, sondern sie einfach zur nächsten Todesfabrik schicken, um von ihr wenigstens noch etwas zu haben.

Man sagte, Nathan Brazil sei ein harter Mann: erfahren, tüchtig und kalt wie Eis, jeder Gedanke nur für sich selbst.

Aber Nathan Brazil weinte im Dunkeln allein auf der Brücke seines Schiffes.

Weder Hain noch Wu Julee kamen noch einmal zum Essen, obwohl er den dicken Mann oft sah und dieser die Vorspiegelung unschuldiger Freundschaft aufrechterhielt.

Vardia erinnerte ihn eines Tages daran, daß er versprochen habe, ihr die Brücke zu zeigen.

»Gewiß«, sagte er. »Warum nicht gleich?«

Sie machten sich auf den Weg vom Aufenthaltsraum im Heck nach vorn, auf dem großen Laufgang über der Fracht.

»Ich möchte nicht neugierig sein«, sagte er zu ihr, »aber ist Ihr Auftrag von lebenswichtiger Bedeutung?«

»Sie meinen, Krieg oder Frieden, etwa in diesen Begriffen?«erwiderte Vardia. »Nein, das kommt nur selten vor. Sie können ruhig wissen, daß ich nichts von den Botschaften weiß, die ich überbringe. Sie sind blockiert, und nur der Schlüssel bei unserer Botschaft auf Coriolanus kann freisetzen, was ich zu sagen habe. Dann wird die Information gelöscht, und ich werde heimgeschickt, mit oder ohne einer Antwort. Aber am Tonfall und Gesichtsausdruck der Leute, die mir die Botschaft übergeben, kann ich gewöhnlich erkennen, ob es etwas Ernstes ist, und das trifft diesmal gewiß nicht zu.«

»Möglicherweise hängt es mit der Ladung zusammen«, meinte Brazil, als sie die Messe betraten, hindurchgingen und einen zweiten, kürzeren Laufgang überquerten. Die gewaltigen Motoren, die das Echt-All-Kraftfeld um sie aufrechterhielten, pulsierten unter ihnen. »Wissen Sie, wie schlecht es auf Coriolanus steht?«

»Nicht allzu schlimm«, meinte sie achselzuckend. »Es herrscht noch keine umfassende Hungersnot. Das wird erst in einigen Monaten der Fall sein, wenn die Ernte nicht eingebracht werden kann, weil es das letzten Mal nicht geregnet hat und der Boden zu hart ist. Dann wird man diese Fracht brauchen. Warum fragen Sie?«

»Ach, nur aus Neugier«, erwiderte er gepreßt.

Sie betraten die Brücke, und Vardia sah sich alles an, eifrig wie ein Kind, wollte alles erklärt und vorgeführt haben.

Den Computer bestaunte sie besonders.

»Ich habe noch nie einen gesehen, bei dem man schreiben und lesen muß«, erklärte sie ihm mit der Ehrfurcht, die echten Altertümern gebührte.

»Nun, man gewöhnt sich daran«, erwiderte er. »Er ist genauso modern und leistungsfähig wie ein anderer. Ich habe es ausprobiert und komme mit diesem besser zurecht. Obwohl ich wenig zu tun habe, muß ich im Notfall in Sekundenbruchteilen entscheiden. Es ist besser, in einer solchen Lage instinktiv anzuwenden, was man weiß.«

Sie entdeckte seine Taschenbücher mit den bunten Umschlägen, und er fragte sie, ob sie lesen könne, aber sie sagte, nein, wozu auch? Bestimmte Berufe auf ihrer Welt verlangten natürlich die Fähigkeit zu lesen, aber nur sehr wenige.

Er war jedenfalls froh darüber, daß sie nicht lesen konnte. Er hatte einen sehr beunruhigenden Augenblick durchgemacht, als sie an den Computer getreten war und er bemerkte, daß er vergessen hatte, die Anzeige abzuschalten.

Der Computer hatte seine übliche halbstündliche Warnung ausgespuckt.

UNERLAUBTE KURSÄNDERUNG‹, stand auf dem Schirm. ›DIESE MASSNAHME IST NICHT GERECHTFERTIGT. DER KURS WIRD AUFGEZEICHNET UND DER KONFÖDERATION NACH ERREICHEN DES ZIELES SOFORT MITGETEILT.‹ Und sie fragte sich, warum er keinen sprechenden Computer hatte.

So flogen sie auf neuem Kurs weiter, ohne daß außer Brazil oder dem Computer jemand etwas von ihrem neuen Ziel ahnte.

Ein Geniestreich, gratulierte er sich, nachdem Vardia gegangen war. Die Antworten der Kurierperson hatten sein Gewissen erleichtert, was Coriolanus anging. Sie würden ihr Korn bekommen — eben verspätet. Inzwischen würde Hain Wu Julee weiter mit Schwamm versorgen, bis der Tag kam, an dem sie die Schwamm-Welt selbst erreichten. Dort würde er zwei Passagiere verlieren — Wu Julee würde leben, und Hain würde der Kolonie als Drogenhändler vorgestellt werden.

Brazil glaubte, daß kein Marinegericht der Galaxis ihn verurteilen würde; außerdem hatte er schon die größte Zahl von mündlichen und schriftlichen Verweisen aller Kapitäne.

Ein lauter, hohl klingender Gongton schreckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er dröhnte durch das Schiff. Brazil sprang auf und starrte auf den Computerschirm.

NOTSIGNALFELD AUFGEFANGEN‹ Stand dort. ›ERWARTE ANWEISUNGEN‹ Er schaltete zuerst den Gong ab, dann drückte er auf die Taste der Bordsprechanlage. Seine drei Passagiere waren natürlich alle besorgt.

»Keine Aufregung«, sagte er. »Es ist nur ein Notzeichenfeld. Ein Raumschiff oder eine kleine Kolonie ist in Schwierigkeiten und braucht Hilfe. Ich muß den Ruf beantworten. Es wird also eine kleine Verzögerung geben. Warten Sie ab, ich halte Sie auf dem laufenden.«Er wandte sich dem Computer zu und wies ihn an, die Koordinaten des Signals zu berechnen. Es gefiel ihm gar nicht — das Signal mußte von einer Stelle kommen, die weitab von seinem vorgesehenen Kurs lag. Das vergrößerte die Gefahr vorzeitiger Entdeckung. Trotzdem konnte er einen solchen Ruf nicht übergehen. Er war selbst schon zu oft durch solche Notrufe gerettet worden, und die Chancen, daß jemand anderer ihn auffing, waren gering.

Die Schiffsmotoren stöhnten, dann verklang das Pulsieren, das Teil seines Alltags war, zu einem dumpfen Hintergrundgeräusch, als das Energiefeld rund um das Schiff mit dem Normalraum verschmolz.

Auf den beiden Bildschirmen erschien plötzlich die wirkliche, nicht die nachgemachte Galaxis — und mit ihr ein Planet. Ein großer, wie er sah. Felsig und rötlich im schwachen Licht einer Zwergsonne.

Er verlangte vom Computer die Koordinaten. Die Bildschirme blieben lange leer, dann erwiderte er: ›dalgonia, stern arachnis, TOTE WELT, MARKOVISCHEN URSPRUNGS, KEINE WEITEREN INFORMATIONEN. unbewohnt‹, fügte er überflüssigerweise hinzu. Es verstand sich von selbst, daß dort nichts leben konnte, was er kannte.

NOTRUFKOORDINATEN FESTSTELLEN UND STELLE VERGRÖSSERN‹, gab er ein, und der Computer suchte das triste Panorama Quadrant für Quadrant ab. Schließlich verharrte er an einer bestimmten Stelle und brachte sie stark vergrößert auf den Schirm.

Das Bild war körnig und voll ›Schnee‹, aber die Szene zeigte deutlich ein kleines Lager. Irgend etwas schien damit nicht in Ordnung zu sein.

Brazil brachte das Schiff in eine stationäre Umlaufbahn und schickte sich an, hinunterzufliegen und nachzusehen. Zuerst drückte er wieder auf die Sprechtaste.

»Ich fürchte, ich muß Sie achtern einsiegeln«, sagte er zu seinen Passagieren. »Ich muß auf dem Planeten etwas nachprüfen. Wenn ich in acht Standardstunden nicht zurück bin, bringt das Schiff Sie automatisch mit Höchstgeschwindigkeit nach Coriolanus. Sie haben also nichts zu befürchten.«

»Kann ich mitkommen?«fragte Vardias Stimme.

Er lachte leise.

»Nein, bedaure, die Vorschriften. Sie stehen über die Sprechanlage ständig mit mir in Verbindung, wissen also immer, was vorgeht.«

Er schlüpfte in einen Raumanzug, was er schon seit Jahren nicht mehr getan hatte, stieg durch eine Luke in der Brücke in ein Abteil unter dem Motorenschacht und setzte sich in den kleinen Lander. Fünf Minuten danach war er unterwegs.

Der Schiffscomputer führte ihn über Funk zu der Stelle, die er nach knapp einer Stunde erreichte. Er klappte das Dach auf — die kleine Maschine besaß keine eigene Druckkabine — und kletterte hinunter. In der geringeren Schwerkraft kam er sich vor, als sei er drei Meter groß. Das Schiff wurde natürlich zur Bequemlichkeit aller unter 1 G gehalten.

Er brauchte nur wenige Minuten, um sich die Umgebung anzusehen und die Aufzeichnungsgeräte im Schiff zu unterrichten, während die Passagiere sorgenvoll jedes Wort mithörten.

»Es ist ein Basislager, wie wissenschaftliche Expeditionen es benutzen«, sagte er. »Zeltanlagen, Moduln, ziemlich modern — scheint aus irgendeinem Grund alles explodiert zu sein.«Er wußte, daß das unmöglich war — und wußte, daß sie es wußten —, aber es war trotzdem so. Er fragte sich gerade laut, was dazu geführt haben konnte, als er die aufeinandergestapelten Druckanzüge in der Nähe der Schleuse bemerkte. Er ging hinüber und griff nach einem.

»Die Anzüge liegen außerhalb — leer. So, als hätte sie jemand hier hingeworfen. Die Explosion, oder was immer hier stattgefunden hat, kann es nicht gewesen sein, weil sie keine Schäden aufweisen.«Er ging zu den Schlafzelten. »Tja«, sagte er, »ein ziemlich übler Tod. Sie starben, als das Vakuum eindrang, wenn nicht die Explosion sie getötet hat. Hmmm… Sieben. Kann ich nicht verstehen. Es sieht wüst aus, aber die Explosion hat eigentlich nicht mehr bewirkt, als die Zelte zu zerreißen. Das hat aber vollauf genügt.«Er trat an eine andere Stelle. »Seltsam, da scheint jemand an der Energieanlage manipuliert zu haben. Es ist unverkennbar. Jemand hat auf reinen Sauerstoff umgestellt und den Rest der Luft abgedreht. Danach genügt ein Funke. Macht mir aber Sorgen. Dagegen gibt es zwei Dutzend Sicherheitsvorkehrungen. Jemand muß das mit Absicht getan haben.«Er schwieg kurze Zeit. »Ich habe gerade die Betten gezählt. Ein Schlafraum für fünf Personen, einer für drei und ein Einzelraum — vermutlich für den Leiter des Unternehmens. Nur im Einzelraum und in einem Bett von den fünf keine Leichen. Hmm… Es waren sieben Druckanzüge. Hätten neun sein sollen.«Seine Zuhörer hörten ihn eine Weile herumgehen. Schließlich fuhr er fort:»Zwei Flugzeuge fehlen, also müssen die Vermißten anderswo auf dem Planeten sein. Man kann mit Gewißheit davon ausgehen, daß zumindest einer von ihnen die anderen umgebracht hat.«

Wieder blieb es lange still. Die Passagiere im Frachtschiff hielten den Atem an.

»Jetzt wird es noch seltsamer«, meldete sich der Kapitän wieder. »Ich bin am Notsignal. Es befindet sich ungefähr einen Kilometer außerhalb des Lagers, auf einem niedrigen Kamm. Aber es ist nicht eingeschaltet.«

Es vergingen fast zwei weitere Stunden, bevor Nathan Brazil zum Schiff zurückkehrte. Er zog den Anzug nicht aus, legte aber den Helm auf seinen Sitz, während er den Computer befragte, der ihm bestätigte, daß er nach wie vor ein Signal vom Notpeiler dort unten empfing.

Nur wußte Brazil, daß das nicht sein konnte. Es war einfach nicht möglich.

Er entsperrte das Achterdeck und ging zu den Passagieren, die alle im Aufenthaltsraum saßen.

»Was halten Sie nun davon, Captain?«fragte Hain.

»Tja, ich fange langsam an, an Geister zu glauben. Der Signalgeber ist nicht in Betrieb. Um ganz sicherzugehen, habe ich ihn vor dem Rückflug demoliert. Aber das Signal hier oben ist trotzdem unüberhörbar.«

»Es muß ein anderes Signal sein«, meinte Vardia logisch.

»Nein. Ein Computer macht auf diesem Gebiet einfach keine Fehler.«

»Dann gehen wir von dem aus, was wir wissen«, schlug Hain vor. »Wir wissen, daß ein Signal da ist — nein, nein, lassen Sie mich ausreden«, sagte er, als Brazil etwas einwerfen wollte. »Wie gesagt, es gibt ein Signal. Es wurde von jemandem ausgelöst, der mutmaßlich zu den Überlebenden gehört. Jemand — oder etwas — wünscht, daß wir hinuntergehen, wollte, daß wir die Station finden, will irgend etwas.«

»Eine bösartige fremde Zivilisation, Hain?«sagte Brazil skeptisch. »Hören Sie auf. Wir haben bis jetzt — wie viele? — an die tausend Sonnensysteme erforscht, und jedes Jahr werden es mehr. Wir haben Überreste der Markovier gefunden — eine ihrer Städte befindet sich in der Nähe des Lagers, vermutlich hat die Gruppe sich damit befaßt — und jede Menge tierisches und pflanzliches Leben. Aber keine lebenden, jetzt bestehenden fremden Zivilisationen.«

»Aber das ist doch nur eine Winzigkeit!«wandte Hain ein. »Es gibt eine Milliarde Sterne. Sie kennen die Chancen.«

»Aber nicht hier, innerhalb unseres Bereichs«, sagte Brazil.

»Doch, er hat recht, wissen Sie«, warf Vardia ein. »Vielleicht hat jemand — oder etwas — uns entdeckt.«

»Nein«, sagte der Kapitän, »das ist es nicht. Es gibt eine einfachere Erklärung. Was da unten geschehen ist, war kaltblütiger, menschlicher Mord durch ein Mitglied der Gruppe. Aus welchem Wahnsinn heraus, kann ich nicht sagen. Mit dem, was sie haben, können sie den Planeten nicht verlassen. Und wenn sie nicht vorher verhungern, schnappt sie ihr Schiff, das sie abholen soll.«

»Sie meinen, Sie wollen nicht versuchen, sie zu finden?«fragte Vardia. »Aber das müssen Sie! Sonst meldet sich vielleicht irgendein anderes Schiff, und die Mörder überwältigen die Leute darin, bevor sie etwas ahnen.«

»Ach, die Aussichten, daß andere den Notruf hören, sind verschwindend gering«, sagte Brazil geduldig.

»Ich versichere Ihnen, das letzte, was ich tun möchte, ist, auf einer unbekannten Welt einen Mörder zu jagen«, sagte Hain tonlos, »aber Bürgerin Vardia hat recht. Wenn wir sie gefunden haben, könnte das anderen auch passieren.«

Brazil zog erstaunt die Brauen hoch.

»Können Sie mit einer Pistole umgehen?«fragte er den dicken Mann. »Oder Sie, Vardia?«

»Ich kann es und habe es schon getan«, erwiderte Hain ruhig.

»Das bleibt der Militärkaste überlassen«, antwortete Vardia, »aber ich kann mit dem Degen umgehen und habe einen Ehrendegen dabei. Er durchbohrt einen Druckanzug.«

Sie eilte in ihre Kabine und brachte einen glänzenden, wunderschönen Degen mit.

»Man bekommt schnelle Reflexe und starke Muskeln davon«, sagte sie.

»Und was ist mit Wu Julee?«fragte Brazil, den Blick auf Hain gerichtet.

»Sie geht hin, wo ich hingehe«, erwiderte Hain bedächtig, »und im Notfall wird sie uns mit ihrem Leben schützen.«

Da bin ich sicher, dachte Brazil mürrisch. Auf jeden Fall dich.


* * *

Bei Druckanzügen gab es keine Probleme; sie dehnten sich oder schrumpften und paßten sich fast jedem menschlichen Träger an, wenngleich Hain mit dem seinigen gewisse Schwierigkeiten hatte. Sie waren außerordentlich leicht, und sobald der Helm aufgesetzt und die Abdichtung betätigt war, nahm der Träger ihn kaum noch wahr. Die Luft wurde durch zwei kleine, leichte Filter an beiden Helmseiten erneuert und gereinigt. Der Vorrat reichte für fast einen ganzen Tag. In einem Notfall konnte das Rettungsboot den Luftbedarf für fünfzehn Personen einen Monat lang liefern, so daß es genug für jeden gab.

Brazil führte sie zuerst zum Notpeiler, nur um sich noch einmal zu vergewissern, daß er sich nicht irrte. Sie untersuchten ihn gründlich und waren sich darin einig, daß er nie und nimmer senden konnte.

Aber der kleine Monitoranschluß im Rettungsboot bestand darauf, daß er es tat.

Sie stiegen wieder ein und fegten nach Norden. Der Schiffscomputer hatte die beiden vermißten Fähren auf einer Ebene am Nordpol geortet.

»Warum sollten sie da oben sein?«sagte Vardia zu Brazil.

»Nach meiner Vorstellung konnte der Mörder einen im Basislager nicht in die Falle locken, der sich eine Fähre nahm und davonflog. Es muß eine Verfolgungsjagd gegeben haben, und auf der Ebene sind sie wohl zusammengetroffen. Wir werden es gleich wissen, weil wir bald da sind.«

Da das Rettungsboot über Raumantrieb verfügte, konnte Brazil die weite Strecke überwinden, indem er in eine Umlaufbahn zurückkehrte und dann abbremste. Auf diese Weise verkürzte sich die Flugzeit auf knapp über neunzig Minuten. Er bremste ab und überflog eine letzte Hügelkette.

»Da sind sie!«rief Vardia. Sie starrten auf die beiden kleinen Maschinen, die im Zwielicht zwei kleine Silberscheiben am Rand einer kleinen Bodenverfärbung waren.

Brazil umkreiste die Stelle mehrmals.

»Ich sehe niemanden«, meldete Hain. »Keine Spur von Leben, kein Druckanzug, nichts. Vielleicht sind sie noch in den Maschinen.«

»Okay«, sagte Brazil. »Ich setze ein paar hundert Meter davon entfernt auf. Hain, Sie bleiben am Boot und geben mir Deckung. Die beiden Frauen bleiben im Boot. Wenn uns etwas zustoßen sollte, holt das Schiff das Boot zurück.«

Es gab einen sanften Aufprall, und sie waren auf der Oberfläche von Dalgonia gelandet. Brazil griff in den breiten schwarzen Gürtel, den er über dem Druckanzug trug, zog eine der beiden Pistolen heraus und gab sie Hain.

Die Pistolen sahen harmlos aus, konnten aber kurze Energieimpulse von einem bis fünfhundert in der Sekunde ausstrahlen, wobei letztere zwar nicht zielgenau waren, aber ein kleines Regiment niedermähen konnten. Es gab eine Einstellungsmarke ›Betäubung‹, mit der ein Mensch für eine halbe Stunde oder länger gelähmt werden konnte, aber die beiden Männer stellten die Waffen auf höchste Leistung ein.

Weit im Süden lagen sieben Tote.

Brazil schob sich in der unheimlichen Stille des Beinahe-Vakuums aus der Luke und ging hinter dem Boot in Deckung. Hain mühte sich hinter ihm heraus und stellte sich am Bug auf.

Brazil trat langsam vor.

Er hatte die erste der beiden Maschinen nach weniger als zwei Minuten erreicht.

»Noch kein Lebenszeichen«, sagte er über Funk. »Ich steige hinauf und schaue hinein.«Er kletterte die Außenleiter hoch und ging zur Einstiegsluke. »Immer noch nichts. Also.«Es dauerte nur drei Minuten länger, hineinzusteigen und festzustellen, daß niemand an Bord war. Er durchsuchte auch die zweite Maschine, die ebenfalls leer war, allerdings erkennen ließ, daß darin jemand viele Stunden verbracht hatte.

Brazil rief sie alle zu sich und warf einen belustigten Blick auf Vardia, die ihren kleinen Degen umklammerte.

»Seht euch hier den Boden an«, sagte er und deutete auf die Fußabdrücke einer Person im Druckanzug, die zu einer Stelle führte, wo in weitem Umkreis der Staub aufgewühlt war. »Meine Theorie scheint zu stimmen. Der erste war hier, sah den zweiten landen und versteckte sich auf der Maschine. Als der Verfolger niemanden sah, ging er hierher und wurde von oben angesprungen. Sie kämpften hier miteinander, dann ergriff der eine die Flucht, und der andere lief hinter ihm her.«

Vardia folgte den Spuren mit dem Blick. Plötzlich erstarrte sie und glotzte auf den Boden.

»Captain! Kommt alle her!«rief sie drängend. Sie stürmten auf sie zu. Sie zeigte auf den Boden vor sich.

Der feine Staub war hier dünner, und das Gestein war hier eher grau als rötlich, aber zuerst sahen sie nicht, was sie meinte. Brazil ging hin und bückte sich. Dann begriff er.

An der Stelle, wo ein Mann hingetreten war, genau dort, wo die beiden Gesteinsflächen sich berührten, war ein halber Fußabdruck zu sehen. Wo das Grau begann, war der Staub unberührt.

»Wie ist das möglich, Captain?«fragte Vardia erschrocken.

»Es muß eine Erklärung geben. Ich bin sicher, daß die Spuren drüben weitergehen.«

Sie gingen ein ganzes Stück auf dem grauen Boden weiter. Plötzlich blieb Vardia stehen und schaute sich um.

»Captain!«stieß sie entsetzt hervor. Die anderen folgten ihrem Beispiel und drehten sich ebenfalls um. Vardia zeigte auf die Schiffe, wo sie hergekommen waren.

Da waren keine Flugzeuge. Da war kein Rettungsboot. Nur eine öde, ununterbrochene rötliche Ebene, die sich bis hin zu den Bergen erstreckte.

»Ja, aber was…«stieß Brazil hervor.

»Was ist passiert?«fragte Hain mit dünner Stimme.

Plötzlich machte sich eine Vibration bemerkbar, einem kleinen Erdbeben vergleichbar. Sie stürzten alle zu Boden.

Brazil fing den Sturz ab und blieb auf Händen und Knien liegen. Er riß den Kopf hoch.

Die ganze Umgebung schien plötzlich von unheimlichen, blauweißen Blitzen erfüllt zu sein, die zu Tausenden aufzuckten.

Wu Julee schrie gellend auf.

Dann gab es nichts als Dunkelheit und die seltsamen, bläulichen Blitze, die jetzt mit goldenen Funken vermischt zu sein schienen. Sie hatten alle das Gefühl, als stürzten sie hinab, wirbelten durch die Luft einem bodenlosen Abgrund entgegen. Es gab kein Oben, kein Unten, nichts als dieses Schwindelgefühl.

Und Wu Julee kreischte ununterbrochen.

Plötzlich lagen sie auf einer flachen, glasglatten, schwarzen Oberfläche. Ringsum brannte Licht, und sie schienen ein Bauwerk vor sich zu haben — so, als befänden sie sich in einem großen Lagerhaus.

Eine Weile noch drehte sich alles um sie. Sie waren schwindlig und erbrachen sich, mit Ausnahme Brazils, in ihre Helme, die das Zeug sofort wegspülten. Brazil erholte sich als erster und setzte sich auf dem schwarzen, glasartigen Boden auf.

Es war ein Zimmer, sah er — nein, eine riesige Kammer mit sechs Seiten. Die glasige Fläche war ebenfalls ein Sechseck, umgeben von einem Geländer und einem Laufgang. Ein einzelnes großes Licht, ebenfalls mit sechs Seiten, hing über ihnen an der gewölbten Decke. Der Raum war riesig, stellte Brazil fest, und konnte ohne Mühe ein kleines Frachtschiff aufnehmen.

Die anderen waren da. Vardia setzte sich bereits auf, aber Wu Julee schien ohnmächtig geworden zu sein. Hain blieb schwer atmend am Boden liegen. Brazil raffte sich mühsam auf und ging schwankend zu Wu Julee hinüber. Er konnte feststellen, daß sie noch atmete, aber bewußtlos war.

»Alles in Ordnung?«rief er den anderen zu. Vardia nickte und versuchte aufzustehen. Er half ihr auf die Beine. Hain stöhnte und raffte sich mühsam hoch.

»Ungefähr ein G«, sagte Brazil. »Interessant.«

»Was nun?«fragte Datham Hain.

»Das Geländer scheint Lücken zu haben — die nächste ist hier drüben auf Ihrer rechten Seite. Am besten versuchen wir es dort.«Er hob Wu Julees schlaffen Körper hoch und ging voran. Sie war leicht wie eine Feder.

Er blickte dumpf auf sie hinunter. Was wird jetzt aus dir werden, Wu Julee? dachte er. Aber ich habe es versucht. Und wie ich es versucht habe!

Sie öffnete die Augen und blickte durch die getönten Sichtscheiben in die seinen. Vielleicht war es die sanfte Art, wie er sie trug, vielleicht sein Ausdruck, vielleicht aber auch die Tatsache, daß sie ihn sah und nicht Hain, aber sie lächelte.

Auf halbem Weg wurde sie viel schwerer, stellte er fest, als das Adrenalin, das beim Fallen in sein Blut gepumpt worden war, verbraucht wurde. Schließlich mußte er aufgeben und sie auf die Beine stellen. Sie erhob keinen Widerspruch, aber als sie weitergingen, klammerte sie sich fest an seinen Arm.

Was auch immer geschehen mochte, sie war nicht mehr Hains Besitz.

Stufen, die aus poliertem Stein zu bestehen schienen, führten zu der Lücke im Geländer — es waren sechs. Schließlich standen sie alle auf einer Art Plattform, von der sich ein Transportband erstreckte, das aber nicht in Bewegung war.

Sie sahen alle den Kapitän an, obwohl er selbst nicht wußte, wie es weitergehen sollte.

»Hm«, sagte er, »wenn wir hierbleiben, verhungern oder ersticken wir. Wir sollten uns wenigstens ansehen, wo wir sind. Es muß ja einen Ausgang geben.«

»Vermutlich sechs«, sagte Hain beißend.

Brazil trat auf eines der Transportbänder, das sich sofort in Bewegung setzte. Die Bewegung kam so unerwartet, daß er immer weiter davongetragen wurde, bevor irgend jemand etwas sagen konnte.

»Steigt lieber auf«, rief er, »sonst verlieren wir uns! Ich weiß nicht, wie man das Ding anhält!«

Er fuhr immer weiter von den anderen davon, bis Wu Julee endlich auf das Band trat. Die beiden anderen folgten ihr sofort.

Die Geschwindigkeit war nicht hoch, aber schneller, als man flott gehen konnte. Bevor Brazil sich umsah, tauchte eine größere, breitere Plattform auf. Er glitt hinauf, stolperte, stürzte und rollte ein ganzes Stück weit.

»Vorsicht! Da kommt eine Plattform!«rief er. Die anderen sahen sie und ihn rechtzeitig und konnten absteigen.

»Offenbar soll man auf dem Band gehen«, meinte Vardia. »So, wie wir jetzt auf die Plattform getreten sind. Es gibt sogar mehrere Bänder, eines immer ein bißchen langsamer als die anderen.«

Das Band kam plötzlich zum Stehen.

»Hier gibt es keine Tür«, sagte Hain. »Wollen wir weiter?«

»Denke schon — holla!«rief Brazil, als er hinaustreten wollte: Das andere Band lief plötzlich in der Gegenrichtung.

»Da scheint uns jemand begrüßen zu wollen«, meinte Brazil spaßhaft, zog aber trotzdem seine Pistole, was auch Hain tat.

Sie konnten eine Riesengestalt auf sich zukommen sehen und traten alle an den hinteren Rand der Plattform zurück. Als die Gestalt näher kam, konnten sie sehen, daß sie mit nichts im bekannten Universum Ähnlichkeit hatte.

Man beginne mit einem schokoladenbraunen menschlichen Oberkörper, unfaßbar breit und so gerippt, daß die Brustmuskeln quadratische Platten zu sein schienen. Ein ovaler Kopf, ebenso braun und unbehaart bis auf einen riesigen, weißen Walroß-Schnurrbart unter einer breiten, flachen Nase. Sechs Arme — in zwei Reihen zu je drei Exemplaren am Oberkörper angebracht —, außerordentlich muskulös, aber, bis auf das Schulterpaar, an Kugelgelenken befestigt wie die Scheren einer Krabbe. Darunter verschmolz der Oberkörper-Rumpf zu einer immensen braun-gelb gestreiften Reihe von Schuppen, die zu einer gewaltigen, schlangenartigen unteren Hälfte führte, eingerollt, aber offensichtlich fünf Meter lang oder länger, wenn ausgestreckt.

Während das Wesen sich der Plattform näherte, betrachtete es sie mit großen, menschlich aussehenden Augäpfeln, die kohlschwarze Pupillen besaßen. Als es den Rand der Plattform erreichte, klatschte der untere linke Arm auf das Geländer. Das Band blieb kurz vor der Plattform stehen. Dann starrten sie einander eine Ewigkeit lang, wie es schien, nur an — die vier Menschen in geisterhaft weißen Druckanzügen und dieses Wesen irgendeiner unvorstellbar fremden Herkunft.

Das Fremdwesen deutete schließlich auf sie und zeigte mit den obersten Armen an, sie sollten die Helme abnehmen. Als sie sich nicht rührten, deutete es noch einmal auf sie und schien tief einzuatmen.

»Ich glaube, er versucht uns klarzumachen, daß wir hier atmen können«, sagte Brazil vorsichtig.

»Sicher, das glaubt er, aber was atmet er?«warf Hain ein.

»Keine andere Wahl«, sagte Brazil. »Unsere Luft geht ohnehin bald zu Ende. Wir sollten es ruhig riskieren.«

»Ich tue es«, sagte unerwartet Wu Julee und entriegelte ihren Helm, ließ ihn herabfallen und atmete ein.

Und atmete weiter.

»Das genügt mir«, sagte Vardia, und sie und Brazil taten dasselbe. Hain zögerte noch eine Weile, aber als er sah, daß alle anderen noch atmeten, nahm auch er seinen Helm ab.

Die Luft erschien ein wenig feucht und ziemlich sauerstoffreich — sie spürten einen leichten Schwindel, der aber rasch verging — war aber sonst durchaus gut.

»Was nun?«fragte Hain.

»Weiß der Teufel«, sagte Brazil ehrlich. »Wie sagt man zu einer Riesen-Walroß-Schlange guten Tag?«

»Na, hol mich doch der Henker«, rief die Walroß-Schlange in perfekter Konföderations-Sprache, »wenn das nicht Nathan Brazil ist!«

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