Die vier starrten das seltsame Wesen an. Brazil hatte nur den Gedanken, daß es zu ›Alice im Wunderland‹ gehörte.
»Serge Ortega schickt Sie?«fragte er.
Das Wesen nahm die Pfeife aus dem Mund und zeigte einen beleidigten Ausdruck.
»Sir, ich bin der Herzog von Orgondo. Das ist Ghlmon. Die Ulik haben hier nichts zu sagen. Sie sind lediglich unsere Nachbarn. Vor einigen Tagen erst hat Mr. Ortega sich in dieser Sache an uns gewandt, und wir machen uns natürlich große Sorgen. Das Interesse der Ulik liegt — nun, offen gesagt, dem unseren näher. Wir kennen sie und verstehen sie. Wir sind seit Jahrtausenden gut mit ihnen ausgekommen. Mit ihrer Hilfe konnten wir überleben, als sich hier die Umwelt veränderte und der Boden zu Sand wurde. Aber Sie alle — einschließlich Mr. Ortega — sind nur mit unserer Duldung hier, und wir lassen keine Verletzung der Souveränität zu.«
»Was sagt er?«fragte Vardia, und die anderen wirkten ebenso verwirrt. Brazil begriff zum erstenmal, daß sie nichts mehr verstanden. Die Dolmetschgeräte waren mit ihren früheren Körpern verschwunden.
»Verzeihung, Euer Gnaden«, sagte Brazil höflich. »Ich werde übersetzen müssen, weil meine Begleiter keine Dolmetscher haben.«
Die Echse sah die drei Menschen an.
»Hmmm… Höchst merkwürdig. Es hieß, ich hätte mit einer Dillianerin, einer Czillanerin und einem Creiten zu rechnen. Wir hörten, Sie wären eine Antilope, und das scheint als einziges richtig zu sein. Sie sind Mr. Brazil, nicht wahr?«
»Der bin ich. Das männliche Wesen ist Mr. Varnett, das weibliche mit Brüsten Wuju, und das unentwickelte Vardia. Wir mußten durch Ivrom. Das ist an sich schon eine Leistung, möchte ich meinen — unverwandelt hindurchzugelangen, wäre ein Wunder gewesen.«
»Gewiß. Wir hatten aber keine Zweifel, daß Sie durchkommen würden, obwohl der Teufel los war, als Sie drei Tage verschwanden. Wir haben alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um zu ermitteln, wer Sie festhielt.«
»Dann gehörte die Verzauberung nicht zu Ortegas Tricks?«fragte Brazil. »Er schien sehr sicher zu sein, daß wir durchkommen würden.«
»O nein, er rechnete damit, daß Sie steckenbleiben würden«, erwiderte der Herzog gelassen. »Aber wir von Ghlmon beherrschen die Künste besser als die schmutzigen Wilden in Ivrom. Es ging nur darum, Sie zu finden. Wir hatten die andere Gruppe bereits, so daß nichts beeinträchtigt worden ist, solange es auch dauerte.«
»Wie geht es nun weiter?«fragte Brazil ruhig.
»Ach, in dieser Nacht sind Sie natürlich meine Gäste«, erwiderte der Herzog liebenswürdig. »Morgen setzen wir Sie in einen Sandhai-Expreß und bringen Sie zur Hauptstadt Quodlikm, wo Sie mit Ortega und der anderen Gruppe zusammentreffen. Von da an führt Ortega Regie, aber wir werden natürlich aufpassen.«Der Herzog klopfte seine Pfeife aus. Der Inhalt roch wie Schießpulver. »Alles ist für Sie vorbereitet«, sagte er. »Können wir? Es ist nicht weit.«
»Haben wir die Wahl?«fragte Brazil.
Der kleine Dinosaurier wirkte wieder verletzt.
»Versteht sich. Sie können zurück über die Grenze oder ins Meer springen. Aber wenn Sie vorhaben, in Ghlmon zu bleiben, werden Sie tun, was wir wünschen.«
»In Ordnung«, sagte der Antilopenbock. »Gehen wir.«
Sie folgten dem kleinen Dinosaurier schweigend den Strand entlang, etwa einen Kilometer weit. Dort war am Wasser ein riesiges Zelt aus Leinwand oder ähnlichem Stoff errichtet. Am Mittelmast flatterte eine Fahne. Mehrere Ghlmonesen standen in der Nähe und versuchten, ihre Langeweile zu verbergen.
Zwei am Zelt nahmen stramme Haltung an, als der Herzog herankam.
»Alles bereit?«fragte er.
»Der Tisch ist gedeckt, Euer Gnaden«, erwiderte einer. »Alles sollte nach Wunsch geraten sein.«
Der Herzog nickte und betrat das Zelt, gefolgt von den anderen.
Im Inneren sah es aus wie eine Abbildung aus einem mittelalterlichen Handbuch. Der Boden war mit dicken Teppichen bedeckt, in der Mitte stand ein langer, niedriger Holztisch mit merkwürdig riechenden Gerichten. Es gab keine Stühle, aber für die menschlichen Mitglieder der Gruppe wurden rasch Deckenrollen oder Teppichrollen gebracht, damit sie es sich bequem machen konnten.
»Sehr schlicht, aber es wird genügen müssen«, sagte der Herzog. »Das Essen werden Sie vertragen — Botschafter Ortega war hier sehr hilfreich. Wir haben Sie natürlich nicht in diesen Formen erwartet, aber das sollte kein Problem sein. Schade, daß Sie nicht im Schloß untergebracht werden konnten.«
»Wo ist Ihr Schloß?«fragte Brazil. »Ich habe keine Gebäude gesehen.«
»Unter dem Boden, versteht sich«, erwiderte der Herzog. »Ghlmon war nicht immer so wie jetzt. Über Jahrtausende hinweg hat es sich langsam verändert. Wir begriffen, daß wir gegen den Sand nicht aufkamen, und lernten, unter ihm zu leben. Durch Schächte, die ständig reingehalten werden, pumpen Maschinen Luft nach unten. Es ist etwa so, als lebe man in Kuppeln unter der Meeresoberfläche, wie es vorkommen soll. Die Wüste ist unser Meer — mehr, als Sie glauben. Wir können darin schwimmen, wenn auch sehr langsam, und folgen Leitdrähten von einem Ort zum anderen. Wir kommen nur herauf, wenn wir weite Strecken zurückzulegen haben.«
Brazil übersetzte, und Vardia fragte:»Aber woher kommt die Nahrung? Hier wächst doch nichts.«
»Wir sind hauptsächlich Fleischfresser«, erklärte der Herzog, nachdem ihm die Frage übersetzt worden war. »Es gibt im Sand viele Wesen, und ein Großteil ist gezähmt. Wasser ist kein Problem — es gibt die alten Flüsse noch, nur strömen sie unterirdisch. Die Gemüsespeisen hier sind für Sie gedacht. Wir züchten die Pflanzen in Treibhäusern.«
Sie aßen und setzten das Gespräch fort, ohne auf den Zweck der Expedition einzugehen. Nach der Mahlzeit verabschiedete sich der Herzog.
»Dort drüben liegt Stroh, wenn Sie auf den Teppichen nicht schlafen können«, sagte er. »Ich weiß, daß Sie müde sind, und werde Sie nicht stören. Sie haben morgen eine lange Reise vor sich.«
Varnett und Vardia suchten sich weiche Stellen und waren nach wenigen Minuten eingeschlafen. Wuju blieb lange wach, sah schließlich zu Brazil hinüber und entdeckte, daß auch er nicht schlief. Sie ging mühsam hinüber.
»Woran denkst du?«fragte sie leise.
»Über diese Welt denke ich nach. Über die Expedition. Über uns — nicht nur über uns beide, über uns alle. Es geht zu Ende, Wuju. Kein Anfang mehr, nur noch Ende.«
»Was wird aus uns werden, Nathan?«fragte sie.
»Nichts. Alles. Es hängt davon ab, wer du bist«, erwiderte er rätselhaft. »Du wirst sehen, was ich meine. Wenn du die Wahl hättest, wenn du als das, was du bestimmen könntest, zu unserem Sektor des Weltraumes zurückzukehren vermöchtest, was würdest du wählen?«
Sie überlegte.
»Ich habe nie daran gedacht zurückzugehen«, flüsterte sie.
»Aber wenn du es könntest, und wenn du bestimmen dürftest, was würdest du dir aussuchen?«
Sie lachte tonlos.
»Als Farmarbeiterin hatte ich keine Träume. Uns wurde beigebracht, mit allem zufrieden zu sein. Aber als ich im Parteihaus Hure war, unterhielten wir uns manchmal darüber. Frauen und Männer wurden getrennt, und wir wurden mit Hormonen vollgepumpt, aber hinaus kamen wir nicht. Wir erfuhren von den Parteigenossen, wie es draußen war, und träumten davon hinauszukommen, vielleicht andere Welten zu sehen. Nun gut, wenn ich wählen könnte, möchte ich reich sein, so lange leben, wie ich wollte, immer jung und sehr schön sein. Nicht auf einer Kom-Welt, versteht sich.«
»Weiter. Noch etwas?«
»Ich möchte dich unter denselben Bedingungen haben«, erwiderte sie.
Er lachte, ehrlich geschmeichelt und erfreut.
»Aber wenn ich nun nicht da wäre?«fuhr er, wieder ernst geworden, fort. »Wenn du allein wärst?«
»Daran will ich nicht einmal denken.«
»Komm, es ist doch nur ein Spiel.«
Sie hob den Kopf und dachte wieder nach.
»Wenn du nicht da wärst, glaube ich, möchte ich ein Mann sein.«
Hätte Brazil ein menschliches Gesicht besessen, seine Brauen wären vor Entgeisterung hochgezuckt.
»Ein Mann? Warum das?«
Sie zuckte die Achseln und wirkte ein wenig verlegen.
»Ich weiß es eigentlich nicht. Ich habe vorhin gesagt, jung und schön. Männer sind größer, stärker, sie werden nicht vergewaltigt, sie werden nicht schwanger. Ich möchte vielleicht Kinder haben, aber — nun, ich glaube, außer dir könnte mich kein Mann reizen, Nathan. Für die Männer im Parteihaus war ich eine Maschine, eine Sexmaschine. Die anderen Mädchen waren meine wirklichen Mitmenschen, meine Familie. Sie mochten mich. Deshalb hat die Partei mich Hain überlassen, Nathan — ich war so weit, daß ich mit Männern überhaupt nichts mehr anfangen konnte, nur noch mit Frauen. Sie fühlten, sie waren nicht — nun, nicht bedrohlich. Alle Männer, die ich traf, waren es — nur du nicht. Kannst du das verstehen?«
»Ich glaube schon«, sagte er langsam. »Es ist natürlich, wenn man deine Vergangenheit bedenkt. Andererseits gibt es viele Welten, wo Homosexualität akzeptiert wird und man Kinder durch Klonen oder künstliche Befruchtung bekommen kann. Und Männer haben natürlich ebenso viele Probleme und Macken wie die Frauen. Das Gras ist nicht grüner, nur anders.«
»Das könnte das Angenehme daran sein. Ich bin es schließlich noch nie gewesen — so, wie ich vorher nie ein Zentaur war und du nie eine Antilope gewesen bist. Ich weiß, was es heißt, eine Frau zu sein — und es gefällt mir nicht besonders. Außerdem ist das nur ein Spiel.«
»Ja. Möchtest du lieber ein Zentaur sein, als das, was du jetzt bist? Das kannst du, weißt du — du brauchst durch das hiesige Portal nur zu Zone zu gehen und von dort nach Dillia.«
»Ich — ich bin mir nicht sicher. Gewiß, es war schön dort, und ich habe mich wohlgefühlt, aber ich gehörte nicht dazu. Jol war sehr nett, aber ich fühlte mich zu Dal hingezogen, und das geht in Dillia nicht.«
»Das hast du gemeint, als du vor langer Zeit sagtest, man solle sich lieben, ohne Rücksicht darauf, wie man aussieht? Aber was ist mit mir? Wenn ich mich nun in etwas wirklich Monströses verwandeln würde, so fremdartig, daß es keine Beziehung zu dem hätte, was du kennst?«
Sie lachte.
»Du meinst, wie die Fledermaus oder vielleicht eine Meerjungfrau?«
»Nein, das sind vertraute Formen. Ich meine eine echte Monstrosität.«
»Solange du innerlich gleich bleibst, würde sich nichts ändern«, antwortete sie ernsthaft. »Warum redest du eigentlich so? Rechnest du mit einer solchen Verwandlung?«
»Auf dieser Welt ist alles möglich«, erinnerte er sie. »Wir haben nur einen Bruchteil von dem gesehen, was geschehen kann. Du hast nur sechs Hexagons gesehen, sechs von fünfzehnhundertsechzig. Es gibt viel seltsamere Dinge. Wir werden bald den neuen Datham Hain treffen«, sagte er grimmig. »Er ist ein weibliches Rieseninsekt — wahrlich ein Ungeheuer.«
»Jetzt paßt das Äußere zum Inneren«, zischte sie. »Monster sind nichts Rassisches, sondern sie haben mit dem Geist zu tun. Er ist sein ganzes Leben ein Monstrum gewesen.«
Er nickte.
»Hör zu, vertrau mir. Hain wird bekommen, was er verdient — wie alle. Im Schacht werden wir alle sein, was wir gewesen sind, und dann kommt die Abrechnung.«
»Sogar du?«fragte sie. »Oder bleibst du eine Antilope?«
»Nein, keine Antilope«, sagte er geheimnisvoll, dann wechselte er das Thema. »Nun, vielleicht ist es besser, wenn es vorbeigeht. In zwei Tagen ist es soweit.«
Nach einer langen Pause sagte sie:»Nathan, hast du deshalb so lange gelebt? Bist du ein Markovier? Varnett glaubt es.«
Er seufzte.
»Nein, kein Markovier — nicht direkt. Aber sie sollen es ruhig glauben. Ich brauche das vielleicht, um zu verhindern, daß alles zu früh auseinanderfliegt.«
Sie sah ihn betäubt an.
»Du meinst, du hast die ganze Zeit Andeutungen fallen lassen, daß du einer der Erbauer dieser Welt bist, und es war alles nur Bluff!«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Kein Bluff, nein. Aber ich bin sehr alt, Wuju — älter, als sich irgend jemand das vorstellen kann. So alt, daß ich mit meinen eigenen Erinnerungen nicht leben konnte. Deshalb blockierte ich sie und war, bis ich auf dieser Welt ankam, auf herrliche Weise ahnungslos. Der Schock der Verwandlung in Murithel brachte alles zurück, aber es ist so vieles! Man kann einfach nicht alles erfassen. Doch diese Erinnerungen verschaffen mir einen Vorteil — ich weiß Dinge, von denen ihr keine Ahnung habt. Ich bin nicht unbedingt schlauer oder weiser als ihr, aber ich besitze die ganze Erfahrung von Tausenden Lebensspannen. Das hilft mir.«
»Aber sie glauben alle, daß du den Schacht für sie in Betrieb nimmst«, meinte sie. »Alles, was du gesagt hast, zeigt, daß du dich auskennst.«
»Das war der Grund, warum Serge uns am Leben gelassen hat«, erklärte er. »Deshalb sind wir unterstützt und weitergetrieben worden. Ich bin überzeugt, daß mein kleiner Sprechapparat eine zusätzliche Schaltung hat, damit Serge mithören kann. Es stört mich nicht mehr. Deshalb konnte er uns helfen, deshalb wußte er, wo wir waren und was mit uns geschah. Deshalb werden wir mit ihm zusammentreffen; so ist das alles vorbereitet worden. Für den Fall, daß er mich nicht verwenden kann, benutzt er Skander oder Varnett — denkt er.«Er sah sie an. »Und du bist eine Geisel, Wuju. Damit hat er mich in der Hand.«
»Wenn es nun wirklich darauf ankäme? Würdest du wegen mir tun, was er verlangt?«
»Dazu wird es nicht kommen, glaub' mir. Varnett kennt sich auch aus, nur hat er es in seiner jugendlichen Erregung wieder vergessen.«
»Was wirst du dann tun?«
»Ich führe sie alle hin, ich werde ihnen zeigen, was sie sehen wollen, aber sie werden entdecken, daß diese Schatzsuche von Dornen strotzt, wenn sie erfahren, wie der Preis aussieht. Ich wette, daß sie ihn für zu hoch halten, wenn sie im Kontrollraum ihrer Träume stehen.«
Sie schüttelte staunend den Kopf und sagte:»Ich verstehe kein Wort.«
»Du wirst es verstehen«, erklärte er, »um Mitternacht am Schacht der Seelen.«
Die Fahrt war unbequem und holperig. Sie fuhren auf einem großen Holzschlitten mit Kufen. Gezogen wurde er von acht riesigen Tieren, die sie nicht ganz sehen konnten — Sandhaie, wie die Ghlmonesen sie nannten. Nur mächtige, graue Rücken und enorme, rasiermesserscharfe Flossen waren zu sehen, als sie ihre Last zogen und von einem Ghlmonesen mit Zügeln dirigiert wurden.
Die Sandhaie waren riesige Säugetiere, die im Sand lebten wie Fische im Wasser. Sie atmeten Luft — wenn ihre großen Rücken aus dem Sand tauchten, öffnete sich ein großes Nasenloch — und erreichten eine Geschwindigkeit von acht bis zehn Kilometern in der Stunde.
Am Ende des Tages waren alle wund und durchgeschüttelt, aber sie hatten über die Hälfte der Strecke hinter sich. Sie legten Teppiche auf den Sand und aßen Nahrung, die vom flammenden Atem ihres Fahrers erhitzt worden war.
Der nächste Tag glich dem ersten. Sie kamen an einigen anderen Schlitten vorbei und sahen einzelne Ghlmonesen mit großen Sätteln auf Sandhaien reiten. Gegen Abend tauchten vor ihnen Gebäude auf, die sich als Türme und Zinnen aus kleinen Bausteinen entpuppten, fünfzig und mehr Meter in die Luft ragend. An einem Tor zwischen zwei Türmen hielten sie an. Ein Dinosaurier in roter Livree kam auf sie zu.
»Sind Sie die Fremden von Orgondo?«fragte er knapp.
»Das sind sie«, erwiderte ihr Fahrer. »Ich muß mich um meine Haie kümmern. Sie haben sich überanstrengt.«
»Wer von Ihnen ist Mr. Brazil?«fragte der Würdenträger.
»Ich.«
Der andere sah ihn verblüfft an, erholte sich aber schnell und sagte:»Kommen Sie mit. Die anderen werden untergebracht.«
»Geht ruhig mit«, sagte Brazil. »Es wird keine Schwierigkeiten geben. Ich komme nach, sobald ich kann.«
Sie entfernten sich mit einem der Dinosaurier, und Brazil sah den Rotgekleideten an.
»Was nun?«fragte er.
»Botschafter Ortega und die andere fremde Gruppe lagern in der Nähe der Avenue«, sagte der Saurier. »Ich soll Sie hinführen.«
»Wohlan«, antwortete Brazil ruhig.
Die Avenue erwies sich als breiter Graben, dreißig Meter oder mehr, gleich hinter den Türmen und Zinnen. Sie befand sich außerdem fünfzehn Meter unter der Oberfläche, aber trotz nur kleiner Befestigungen schien kein Sand hineinzuwehen, sondern darüber hinwegzufliegen.
Breite Steinstufen führten zu der glatten, fast schimmernden Oberfläche hinunter. Brazil stieg mit Mühe hinunter. Die Gebäude von Ouodlikm schienen auf beiden Seiten an der Avenue emporzuragen. Es gab viele Treppen und Hunderte von Türen, Fenstern und sogar Schießscharten auf beiden Seiten der Avenue-Mauer. Das Tal selbst schien sich auf der rechten Seite Brazils bis zum Ozean, auf der linken bis zum Horizont zu erstrecken.
Brazils Hufe klapperten auf der glatten Fläche. Er überragte zahllose Buden, wo alles mögliche verkauft wurde, und die Massen, die ihn anstarrten und ihm den Weg freimachten. Er und sein Begleiter gingen zum Ozean, vorbei an den letzten Läden, zu einem amtlicher aussehenden Bereich, vor dem eine Schranke aufgebaut war.
Der Begleiter ging darauf zu, zeigte einen Ausweis vor, die Schranke ging hoch, und sie durften hindurch. Im Inneren gab es zahllose Bewacher. In der Mitte der Avenue waren ein Akkafier, eine Czillanerin, eine Umiau, offenbar in einer rechteckigen Wanne, und noch etwas anderes zu sehen.
Brazil betrachtete Der Erahner und Der Rel, und die letzten Bruchstücke fügten sich in das Bild. Die Rolle dieses Wesens aus dem Norden war ihm von Anfang an unklar gewesen, und er wußte nichts von seinem Hex, aber es stand fest, daß das Ding für vieles verantwortlich war, was sich zugetragen hatte.
Es war dunkel geworden, und die Sterne kamen heraus. Man hatte kleine Gaslampen angezündet.
»Bleiben Sie bei den anderen«, sagte sein Begleiter. »Ich hole Botschafter Ortega.«
Brazil ging zu den fremden Wesen, ließ sie aber bis auf die Umiau unbeachtet.
»Sie sind also Elkinos Skander«, sagte er.
Die Meerjungfrau sah ihn erstaunt an.
»So? Und wer oder was sind Sie?«
»Nathan Brazil«, erwiderte er knapp. »Der Name sagt Ihnen wenig? Vielleicht sollte ich lieber sagen, daß ich hier bin, um sieben Morde zu rächen.«
Die Umiau öffnete verblüfft den Mund.
»Sieben — was, zum Teufel, soll das heißen?«
»Ich war der Kapitän des Frachters, der die Leichen auf Dalgonia gefunden hat. Sieben verkohlte Leichen auf einer nackten Welt. Keiner von den Toten hatte Ihnen etwas getan.«
»Ich habe sie nicht getötet«, antwortete Skander mürrisch. »Das war Varnett. Aber was ist schon damit? Wäre es Ihnen lieber, diese Welt den Koms zu öffnen?«
»Das war es also«, sagte Brazil bedrückt. »Die sieben sind gestorben, weil Sie fürchteten, ihre Regierungen könnten die Kontrolle übernehmen. Skander, Sie wissen, wer Sie getötet hat, und ich weiß es, aber dazu kommt noch, daß sie aus einem so zweifelhaften Grund nicht hätten sterben müssen. Das Portal hätte sich für sie nicht geöffnet.«
»Doch! Es ging auf, als Varnett und ich den mathematischen Schlüssel zum Computer fanden. Und es war noch offen, so daß Sie und Ihre Begleiter hineinfielen!«
Brazil schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, Skander. Es war nur offen, weil ihr beiden es habt öffnen wollen. Das ist der Schlüssel. Obwohl Sie nicht wußten, daß das Portal nicht zum dalgonischen Gehirn führte, sondern hierher, wußten Sie, daß es irgendein Tor geben mußte, und Sie versuchten verzweifelt, es zu finden. Sie hatten schon vorher beschlossen, Varnett und die anderen zu töten. Varnett wußte das. Er wollte das Portal finden, und seine Todesangst führte ihn hin. Das öffnete es, nicht Ihre mathematischen Entdeckungen. Es hatte sich seit den Markoviern nicht mehr aufgetan und konnte es nur unter den richtigen Bedingungen tun.«
»Wie sind Sie dann hindurchgestürzt?«gab Skander zurück. »Warum hat es sich für Sie geöffnet?«
»Das hat es nicht getan. Obwohl ich hätte wissen sollen, daß es da war.«
»Aber es hat sich für uns geöffnet, Brazil«, warf Hain ein.
»Nicht für Sie, Hain, nicht für mich oder Vardia«, erwiderte Brazil. »Aber in unserer Gruppe war eine Person, die alle Hoffnung verloren hatte, die sterben wollte, um ihrem Schicksal zu entgehen. Das Gehirn, das für solche Dinge empfindlich ist, fing das auf und lockte uns mit dem falschen Notsignal nach Dalgonia. Das Portal öffnete sich, als Wu Julee auf ihm stand — und wir fielen alle hinein.«
»Jetzt weiß ich, wer Sie sind!«rief Skander. »Vardia hat mir von Ihnen erzählt, als wir in Der Nation festgehalten wurden. Sie sagte, die Schiffe seien plötzlich verschwunden. Ich nahm an, daß Sie das veranlaßt hatten, daß Sie ein Markovier waren. Alles paßte dazu. Außerdem ist doch klar, daß Sie eine Kontrollgruppe wie diese nicht auf der Schacht-Welt zurücklassen, ohne sie zu überwachen.«
»Die Tatsache, daß es das Mädchen war und nicht Brazil, das das Portal öffnete, macht Ihre Schlußfolgerungen nicht ungültig, Doktor«, sagte eine heisere, ruhige Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um und sahen die riesige Gestalt Serge Ortegas, fünf Meter Schlange und zwei Meter dicker, sechsarmiger Rumpf.
»Serge, ich hätte es besser wissen müssen«, sagte Brazil gutmütig.
Der Ulik zuckte mit allen sechs Schultern.
»Ich habe hier eine sehr gute Masche, Nate. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich glücklich bin, und das stimmt auch. Ich höre die meisten Botschaften in beiden Zonen ab und zeichne alles auf. Ich stelle fest, was vorgeht, und wenn ich und mein Volk ein Interesse an der Sache haben, greife ich ein.«
Brazil nickte und hätte gelächelt, wäre ihm das möglich gewesen.
»Es ist kein Zufall gewesen, daß Sie uns in Empfang genommen haben, nicht wahr? Sie wußten schon, daß ich da war?«
»Gewiß. Kleine Kameras schalten sich ein, wenn jemand durch den Schacht kommt. Sind sie von der alten Menschheit, dann bin ich als erster zur Stelle.«
»Bei mir sind Sie aber nicht erschienen«, warf Skander ein.
»Ich kann nicht immer in dem verdammten Büro sein. War aber Pech, weil ich Sie lange aus den Augen verlor.«
»Sie haben mich seit Czill verfolgt, nicht wahr, Serge«? sagte Brazil. »Wie haben Sie das gemacht?«
»Ein Kinderspiel«, erwiderte der Ulik. »Czill wird von uns mit Maschinenteilen beliefert. Der Dolmetscher braucht nur mit einer fast unsichtbaren Zusatzschaltung versehen zu werden, wenn man die richtige Frequenz kennt. Die Reichweite ist nicht enorm, aber ich wußte, wo Sie waren, und mit meinem Einfluß konnte ich so ziemlich alles erfahren. Ich glaube zu wissen, was Sie sind Nate, und ich glaube, Sie wissen, daß Sie das Spiel nach meinen Regeln spielen sollten.«
»Oder Sie töten die anderen?«
»Aber, Nate! Habe ich das gesagt? Immerhin habe ich Skander hier, und wenn alles andere scheitert, Varnett. Ich würde Sie vorziehen. Ich glaube, Sie sind nicht von dem Nathan Brazil verschieden, den ich früher kannte. Ich wette, daß Ihre Persönlichkeit keine falsche Fassade oder Konstruktion ist, sondern Ihr wahres Ich, gleichgültig, wer Ihre Eltern waren. Sie kennen mich besser als jeder andere, also wissen Sie ohnehin, was ich tun werde. Führen Sie die Gruppe hinein?«
Brazil sah ihn kurz an.
»Warum alle, Serge? Warum nicht nur Sie und ich?«
»Ach, kommen Sie, Nate! Wofür halten Sie mich? Sie wissen, wie man hineinkommt, ich nicht. Sie wissen, was dort ist — ich nicht. Mit den anderen kann ich Sie zügeln. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen hier, keiner läßt den anderen die Oberhand gewinnen. Sie werden sogar alle bewaffnet sein, mit Pistolen, die jeden von euch töten können, aber nicht mich. Ich habe mir Immunität gegen Hains Stachel verschafft, das ist also keine Bedrohung, und körperlich bin ich um so viel stärker als jeder von euch, daß ich es gern mit euch aufnehme.«
»Sie rechnen sich immer alles aus, wie?«sagte Brazil seufzend. »Warum mußten wir dann so kämpfen und so weit laufen, Serge? Warum haben Sie uns nicht einfach alle zusammengeholt und hierhergebracht?«
»Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin Sie wollten«, erwiderte Ortega ehrlich. »Skander suchte immer noch, Varnett hatte aufgegeben, und sonst wußte niemand Bescheid. Ich ließ mich von den Expeditionen also einfach hierherleiten. Als ich sah, wohin es ging, sorgte ich für eine Verlangsamung, damit ich vor Ihnen hier sein konnte. Noch niemand hat den Weg hinein gefunden, und es ist oft versucht worden.«
»Aber wir wissen jetzt, daß der Eingang am Ende der Avenue ist«, sagte Der Rel plötzlich. »Und von Skander erkenne ich, daß die Zeit des Zutritts Mitternacht ist.«
»Richtig«, nickte Brazil. »Das Wissen allein bringt euch aber noch nicht hinein. Ihr braucht den besonderen Wunsch, zum Schachtzentrum zu gelangen, und eine Grundgleichung, um dem Schacht mitzuteilen, daß ihr wißt, was ihr tut.«
»Die Varnett-Beziehung«, sagte Skander. »Die offene Gleichung der markovischen Gehirnproben, nicht?«
»Gewiß«, meinte Brazil. »Es sollten schließlich keine Markovier ferngehalten werden. Die Bedingungen dieser Welt sind solcher Art, daß die Beziehung einfach nicht zu entziffern ist. Es war reiner Zufall, daß ihr sie entdeckt habt. Auf Dalgonia hättet ihr sie nicht verwenden können, weil sie eine Antwort verlangt, um vollständig zu sein, eine Ergänzung. Sozusagen ›Was ist dein Wunsch?‹, worauf man seinen Wunsch in der mathematisch richtigen Form ausdrücken muß. Aber in diesem Fall wird die Vervollständigung vom Gehirn übernommen, wenn man die Frage stellt — eine Umkehrung.«
»Aber wenn er ein Markovier ist, warum kann er sich nicht einfach mit dem Gehirn in Verbindung setzen und allen Problemen ausweichen, die er hier hatte?«fragte der Slelcronier.
Brazil sah die Pflanze erstaunt an.
»Ich dachte, Sie wären Vardia — aber die Stimme klingt ganz anders.«
»Vardia ist mit einem Slelcronier verschmolzen«, erklärte Der Rel und berichtete kurz von der Begegnung mit den Blumenwesen. »Sie besitzt viel Weisheit und beachtliche Geisteskräfte, aber Ihre Freundin ist ein so winziger Teil des Ganzen, daß die Czillanerin praktisch tot ist«, schloß Der Rel.
»Verstehe«, sagte Brazil langsam. »Nun, es hat hier ohnehin zu viele Vardias gegeben. Unsere ist das Original und wieder menschlich geworden. Ebenso Wuju und Varnett«, sagte er zu Ortega.
»Varnett?«Skander setzte sich plötzlich im Becken auf. »Varnett ist bei Ihnen?«
»Ja, und keine Tricks, Skander«, sagte Ortega warnend, »sonst befasse ich mich persönlich mit Ihnen.«Er sah Brazil an. »Das gilt auch für Sie, Nate.«
»Es wird keine Probleme geben, Serge«, erklärte Brazil müde. »Ich führe Sie alle in den Schacht, dann zeige ich Ihnen, was Sie wollen — was Sie alle wollen. Ich beantworte alle Fragen, kläre alles auf.«
»Ist uns recht«, erwiderte Ortega, aber seine Stimme klang ein wenig beunruhigt.