Das Zentrum in Czill

Vardia erhielt einen einfachen Auftrag in der Computerforschung. Sie lernte schnell, auch wenn sie von dem Projekt nicht viel erfaßte.

Das Leben gefiel ihr sehr. Es hatte ein Ziel und diente den gesellschaftlichen Bedürfnissen.

Nach einigen Wochen wurde ihr bei der Arbeit ab und zu schwindlig. Die Anfälle traten oft ohne erkennbare Ursache auf und verschwanden ebenso unvermittelt. Nach einigen solchen Episoden suchte sie die Klinik im Zentrum auf. Die Ärzte nahmen einige Untersuchungen vor und erklärten ihr das Problem.

»Sie verdoppeln sich«, sagten sie. »Kein Anlaß zur Sorge. Es ist sogar wunderbar — vor allem, da Sie erst so kurz bei uns sind.«

Vardia war wie betäubt.

»Was wird aus meiner Arbeit?«fragte sie.

»Das wirkt sich praktisch nicht aus. Sie werden einfach wachsen, während jede Zelle ihr Duplikat hervorbringt. Aus Ihrem Rücken wächst Ihr zweites Ich hervor. Dabei wird man ein wenig schwindlig und schwach und kurz vor dem Abschluß desorientiert.«

»Wie lange dauert es?«

»Vier Wochen, wenn Sie normal weitermachen. Etwa zehn Tage, wenn Sie Tag und Nacht verwurzeln wollen.«

Sie beschloß, es rasch hinter sich zu bringen, suchte sich eine ruhige Stelle abseits des Zentrums und verwurzelte sich. Am dritten Tag brauchte sie Wasser und ging zum Fluß hinunter. Das Entwurzeln war schwieriger, als sie angenommen hatte. Sie kam sich vor, als wiege sie eine Tonne, und konnte kaum das Gleichgewicht halten. Sie spürte das Gewächs an ihrem Rücken.

Am Ufer sah sie einen Umiau.

Sie hatte sie natürlich auch im Zentrum gesehen, aber nur im Vorbeigehen. Hier befand sich zum erstenmal eines der Wesen ganz in der Nähe. Es schien schlafend im Sand zu liegen.

Die Umiau hatten den Unterleib eines Fisches, silbrigblaue Schuppen, die zu einer flachen, geteilten Schwanzflosse führten. Über der Taille blieb die hellblaue Farbe, aber die glänzenden Schuppen verschwanden und machten glatter, harter Haut Platz. Knapp unter der Trennungslinie befand sich eine große Vaginalhöhle.

Die Umiau hatten zwei große und sehr feste Brüste und das Gesicht einer Frau, die, wäre sie in Nathan Brazils Welt gewesen, als wunderschön gegolten hätte, trotz der Haare, die wie Silberflitter aussahen, und der grellblauen Lippen. Die Ohren, normalerweise von den Haaren bedeckt, waren wie winzige Muscheln geformt, die Nase besaß Hautklappen, die beim Atmen auf- und zugingen, vermutlich, um beim Schwimmen Wasser fernzuhalten. Die langen, muskulösen Arme endeten in langen, dünnen Fingern und einem Daumen, die alle durch Schwimmhäute verbunden waren.

Vardia trat ins Wasser, um zu trinken, und sah am Ufer andere Umiau schwimmen oder liegen. Der Fluß war hier seicht, in der Mitte aber zwei Meter tief.

Sie trank und kehrte langsam an Land zurück. Dabei klatschte sie durch das Wasser und weckte die Schläferin.

»Na, hallo!«sagte letztere mit angenehmer, melodischer Stimme. Die Umiau konnten die Laute der Czill-Sprache hervorbringen, was umgekehrt den Czillanern nicht gelang.

»Es — es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe«, sagte Vardia.

»Das macht nichts«, erwiderte die Umiau und gähnte. »Ich sollte ohnehin meine Zeit nicht mit Schlafen vergeuden. Die Sonne trocknet mich aus, und ich habe danach stundenlang Fieber.«Sie bemerkte Vardias Zustand. »Verdopplung, wie?«

»J-ja«, sagte Vardia verlegen. »Das erstemal. Es ist furchtbar.«

»Kann ich verstehen«, erklärte die Meerjungfrau. »Ich habe diesmal das Ei in diesem Zyklus nicht weitergegeben, aber das nächstemal kommt es.«

Vardia beschloß, eine Weile am Fluß zu verwurzeln, und tat es.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie zögernd. »Sind Sie demnach weiblich?«

Die Umiau lachte.

»So sehr wie Sie«, sagte sie. »Wir sind Hermaphroditen. In einem Jahr erzeugen wir ein Ei, dann geben wir es an einen anderen weiter, wo es mit Sperma beschossen und entwickelt wird. Im nächsten Jahr bekommt man das Ei selbst. Im dritten Jahr ist man Neutrum, dann geht es wieder von vorne los.«

»Man kann also nicht enthaltsam sein?«fragte Vardia unschuldig.

Die Umiau lachte wieder.

»Gewiß, aber wenige tun es, außer sie lassen sich sterilisieren. Wenn der Trieb kommt, tut man es, Kleine.«

»Ist es denn so angenehm?«

»Unglaublich«, erwiderte die andere.

»Wenn das bei mir nur auch so wäre. Mir ist ganz elend.«

»Nur keine Sorge. In eurem langen Leben geschieht das nur zwei- oder dreimal.«Sie blickte in die Sonne. »Es wird spät. War angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten, aber ich muß fort. Es wird schon werden.«Sie kroch ins Wasser und schwamm davon.


* * *

Die nächsten Tage waren langweilige Wiederholungen der vorangegangenen, auch wenn sie sich ab und zu mit anderen Umiau unterhielt. Am neunten Tag, als sie wieder Wasser brauchte, stellte sie fest, daß sie sich kaum bewegen konnte. Sie brauchte eine Ewigkeit, um ans Wasser zu kommen, und unterwegs stürzte sie hin. Sie vermochte sich nicht mehr aufzurichten und mußte warten bis zum Abend, als andere kamen, sie aufhoben und ihr zu einer Stelle halfen, wo sie sich wieder verwurzeln konnte.

Der zehnte Tag war der schlimmste. Sie konnte überhaupt nicht klar denken, sah und hörte sogar alles doppelt, und es schien ewig anzuhalten.

Am elften Tag war sie im Delirium, aber gegen Mittag spürte sie plötzlich eine Befreiung, als hätte eine geisterhafte Hälfte von ihr sie verlassen. Alles war plötzlich wieder normal, doch sie war so geschwächt, daß sie am hellen Tag das Bewußtsein verlor.

Der zwölfte Tag wurde auf normale Weise hell, und sie fühlte sich viel besser. Sie entwurzelte sich, trat zögernd einen Schritt vor.

»Das ist schon viel besser«, sagte sie laut.

Und genau im selben Augenblick sagte eine andere Stimme genau das Gleiche! Sie drehten sich beide um.

Zwei identische Vardias starrten einander an.

»Du bist also der Zwilling«, sagten sie gleichzeitig.

»Ich nicht, du!«erklärten sie beide beharrlich.

Oder doch nicht? dachte jede. Ob der Zwilling es wußte?

Alles war verdoppelt, sogar Persönlichkeit und Erinnerungen. Deshalb sagten und taten sie dasselbe, begriffen beide. Werden wir je wissen, wer wer ist? dachten sie beide. Oder kam es gar nicht darauf an? Sie kamen beide aus demselben Körper.

Gemeinsam gingen sie zum Zentrum.

Am Empfang wurden sie zu verschiedenen Zimmern geführt und von den Ärzten untersucht. Sie wurden beide für gesund und arbeitsfähig erklärt und jede einem anderen Bereich des vorherigen Projekts zugeteilt, wenn auch mit ähnlichen Pflichten.

»Werde ich meinen Zwilling je wiedersehen?«fragte die Vardia in Flügel 4.

»Vermutlich«, erwiderte die Aufseherin. »Aber wir führen euch schnell auf verschiedene Arbeitsgebiete, damit jede ihren eigenen Weg gehen kann.«

Inzwischen arbeitete die andere Vardia, nachdem sie dieselbe Frage früher gestellt und dieselbe Antwort erhalten hatte, in einem anderen Bereich, mit einer Umiau zusammen, die Endil Cannot hieß.

Eines Tages fragte sie Cannot, wonach sie eigentlich forschten. Bisher hatten sie nur Legenden und Altweibermärchen aus vielen Rassen in die Computer eingegeben, um gemeinsame Faktoren zu finden.

»Den gemeinsamen Faktor haben Sie doch schon bemerkt, nicht wahr? Den einen Satz, meine ich. Bis Mitternacht am Schacht der Seelen. Vielleicht ein poetischer Ausdruck für ›niemals‹ oder ›ewig‹.«

»Aber warum ist es wichtig? Ich meine, es ist doch nur ein ›Alter Spruch‹?«

»Nein. Wenn es ein Spruch nur einer Rasse oder auch benachbarter Rassen wäre, dann sähe es anders aus. Aber sogar die Rassen im Norden kennen ihn. Ein paar von den ganz primitiven Hexagons verwenden ihn offenbar als religiösen Gesang. Warum? Und der Spruch reicht ewig zurück. Die schriftlichen Aufzeichnungen sind hier bis zu zehntausend Jahre alt, die mündliche Überlieferung ein Vielfaches davon. Der Satz kommt immer wieder vor. Warum? Was will er uns sagen? Das ist es, was ich wissen muß. Es könnte uns den Schlüssel zu diesem verrückten Planeten mit seinen fünfzehnhundertsechzig Rassen und verschiedenen Biome liefern.«Sie sah Vardia an. »Die Welt heißt ›Schacht-Welt‹, aber die einzigen Schächte, die wir kennen, sind die Eingangs-Schächte an beiden Polen. Das ist das Problem, wissen Sie. Sie sind beide Eingänge, nicht Gegensätze.«

»Muß es denn einen Ausgang geben? Kann das keine Sackgasse sein?«

Cannot schüttelte den Kopf.

»Nein, das ergäbe keinen Sinn und würde meine Theorie über den Haufen werfen.«

»Und wie lautet diese Theorie?«

Cannots Augen trübten sich.

»Sie sind eine kluge Person, Vardia«, sagte sie. »Vielleicht verrate ich sie Ihnen eines Tages.«

Und das war alles.

Ein, zwei Tage danach kam Vardia in Cannots Büro und sah sie Lichtbilder einer gewaltigen Wüste von roten, gelben und orangeroten Farbtönen unter einem wolkenlosen blauen Himmel betrachten. Im Hintergrund wurde alles verschwommen und undeutlich. Es sah aus wie eine halb durchsichtige Wand, dachte Vardia und sprach den Gedanken aus.

»So ist es, Vardia«, erwiderte Cannot. »Das ist die Äquatorbarriere — und da muß ich hin, obwohl keines der Sechsecke dort viel Wasser besitzt und die Reise schwer werden wird. Da, sehen Sie sich das an.«

Vardia sah eine Aufnahme der Wand mit den besten Filtern. Die Gegenstände waren noch immer vage, aber sie konnte genug erkennen, um sich in einem Punkt sicher zu sein.

»Da ist ein Laufgang!«rief sie. »Wie der um den Zone-Schacht!«

»Genau. Und darüber möchte ich mehr wissen. Könnten Sie heute nacht durcharbeiten?«

»Ja, ich denke schon«, sagte Vardia. »Ich habe es noch nie gemacht, aber ich fühle mich gut.«

»Fein. Vielleicht kann ich das Rätsel heute nacht lösen.«


* * *

Sterne wirbelten in ungeheurer Zahl über den Nachthimmel, mächtige, farbige Nebelwolken, in seltsamen Formen ausgedehnt, während das Sternenfeld selbst aus einer immensen Masse von Millionen Sternen in Spiralen zu bestehen schien, wie eine Galaxis, unter starker Vergrößerung betrachtet. Es war ein großartiger Anblick, aber keiner, den Vardia, die ihn nicht wahrzunehmen vermochte, zu schätzen wußte.

Zuerst sahen sie aus wie besonders dicke Körner der Gräser in der Gegend. Dann erhoben sich langsam zwei große Formen unter den Halmen, Formen mit riesigen Insektenkörpern und großen Augen.

Und — noch etwas anderes.

Es funkelte wie hundert eingefangene Leuchtkäfer und schien auf einem schattenhaften Umriß zu schweben.

»Der Erahner sagt, daß die Gleichung sich unnatürlich verändert hat«, erklärte Der Rel.

»Dann greifen wir heute nacht nicht an?«fragte eine der akkafischen Kämpferinnen.

»Wir müssen«, erwiderte Der Rel. »Wir fühlen, daß nur heute nacht alles günstig steht. Wir haben die Gelegenheit, eine zusätzliche Beute zu machen, die die Aussichten verbessert. Wir werden zwei zurückzutragen haben, nicht nur einen. Könnt ihr das?«

»Natürlich, wenn er nicht größer ist als der andere«, sagte die Markling.

»Gut. Sie sollten beieinander sein, also nehmt sie beide. Und vergeßt nicht, die Czillaner schlafen zwar, sobald die Stromanlage gesprengt ist, aber die Umiau nicht. Stecht keines der beiden Opfer zu Tode. Ich will nur Lähmung, damit wir zur Insel auf halbem Weg zurückkehren können.«

»Keine Sorge.«

»Gut«, sagte Der Rel. »Ihr habt den Zünder. Wenn wir angreifen, gebe ich ein Zeichen. Dann sprengen. Nicht früher und nicht später, sonst schalten sich die Notgeneratoren ein, bevor wir fort sind.«

»Verstanden«, versicherte die Markling.

»Der Erahner teilt mit, daß sie beide da sind, allein an ihrem Arbeitsplatz«, sagte Der Rel. »In gewisser Weise bin ich argwöhnisch. Das Glück ist zu groß, und ich glaube nicht an Glück. Trotzdem tun wir, was wir müssen. Also — jetzt

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