Wu Julee stöhnte und öffnete die Augen. Ihr Kopf schien zerspringen zu wollen.
»Sie kommt zu sich!«rief eine Stimme, und Wu Julee bemerkte plötzlich, daß viele Leute um sie herumstanden. Schließlich konnte sie wieder sehen und entdeckte den einen Nicht-Dillianer in der Menge.
»Brazil!«stieß sie erstickt hervor.
Jemand flößte ihr Wasser ein.
»Sie kennt Sie!«rief Yomax aufgeregt. »Sie erinnert sich wieder!«
Sie preßte die Augen zusammen. Sie erinnerte sich wirklich — an alles. Ein Krampf schüttelte sie, und sie erbrach das Wasser wieder.
»Yomax! Jol!«hörte sie die Heilkundige rufen. »Nehmt sie hinten. Captain Brazil, Sie ziehen, ich drücke. Wir müssen sehen, daß wir sie auf die Beine bringen.«
Sie strengten sich an und schafften es schließlich auch. Ohne meinen Beitrag, dachte Brazil. Mann, haben die Muskeln!
Sie stand unsicher auf den Beinen. Man schob ihr Bretter, umwickelt mit Tüchern, unter die Arme, damit sie sich stützen konnte. Sie zitterte immer noch.
»O Gott!«stöhnte sie.
»Alles ist gut, Wu Julee«, sagte Brazil leise. »Die Alpträume sind jetzt vorbei. Sie können dir nichts mehr tun.«
»Aber wie —«Sie erbrach sich wieder, und die Heilkundige scheuchte die Männer hinaus.
Sie gingen zu der Bar, deren Vorderwand wieder angebracht worden war. Es herrschte großes Gedränge, und sie mußten sich hineinquetschen. Brazil fürchtete, zwischen den Pferdeleibern zerdrückt zu werden.
Das Gespräch verstummte, und man starrte ihn argwöhnisch an.
»Freut mich, so willkommen zu sein«, sagte Brazil sarkastisch. »Kann man sich nicht irgendwo privat unterhalten?«fragte er die beiden anderen.
Yomax nickte.
»Gib mir drei, Zoder!«rief er, und der Barkellner füllte drei riesige Krüge mit Ale. Brazil ließ den seinen beinahe fallen, als er entdeckte, wie schwer er war. Er hielt ihn mit beiden Händen fest und folgte Yomax zu dessen Büro.
Nachdem Jol die Glut geschürt und Holz aufgelegt hatte, wirkte es gemütlich im Zimmer. Brazil seufzte tief und ließ sich auf den Boden sinken. Als es warm wurde, zog er den Pelzmantel aus und nahm die Mütze ab. Unter dem Mantel schien er nichts anzuhaben. Die beiden Zentauren zogen ihre Mäntel ebenfalls aus und starrten ihn an.
»Fangt bloß nicht damit an, sonst gehe ich ins Lokal zurück!«sagte er. Die anderen lachten, und alle lockerten sich. Brazil trank und fand das Ale nicht schlecht, wenngleich zwei Liter auf einmal ein bißchen viel für ihn zu sein schienen.
Brazil gab dem alten Mann von seinem Tabak ab, und Yomax rauchte ihn selig in seiner alten Pfeife.
»Gibt es hier ganz selten«, sagte Yomax.
»Ich habe ihn weit von hier gefunden — ich war in neun Sechsecken unterwegs, um herzukommen, nicht zu reden von einem Abstecher aus Zone in mein Heimat-Hex.«
»Die Nagetiere sind die einzigen in fünftausend Kilometer Umkreis mit Tabak«, sagte Yomax wehmütig. »Waren die das?«
Brazil nickte.
»Neben meinem Heimat-Hex.«
»Glauben Sie nicht, daß ich mich nicht erinnere«, sagte der Alte. »Abgesehen davon, daß ihr von den Hüften aufwärts wie wir ausseht, glaube ich nicht, daß ich einen wie Sie schon gesehen habe.«
»Kein Wunder«, erklärte Brazil traurig. »Meine Leute haben kein gutes Ende gefunden, fürchte ich.«
»He, Yomax!«rief Jol plötzlich. »Seine Mundbewegungen passen gar nicht zu dem, was er sagt!«
»Er benützt einen Dolmetscher, Dummkopf!«fauchte Yomax.
»Richtig«, bestätigte der kleine Mann. »Ich habe ihn von den Ambreza bekommen — den ›Nagetieren‹, die Sie erwähnt haben. Nette Leute, nachdem ich sie einmal davon überzeugt hatte, daß ich intelligent bin.«
»Warum war das ein Problem, wenn ihr Nachbarn gewesen seid?«fragte Jol.
»Nun, vor sehr langer Zeit gab es Krieg. Meine Leute waren aus einem Hoch-Tech-Hex und bauten eine sehr behagliche Zivilisation auf, den Überresten nach zu schließen. Aber das Leben war sehr verschwenderisch, es erforderte immense Ressourcen, und die gingen zu Ende, so daß sie sogar Nahrungsmittel einführen mußten. Sie schauten zu ihren Nachbarn hinüber. Zwei Hexe waren Ozeanwelten, in einem war es so kalt, daß sie nicht leben konnten, zwei lohnten die Mühe nicht. Nur das Ambreza-Hex war brauchbar, wenngleich völlig nicht-technologisch. Keine Dampfmaschinen, überhaupt keine Maschinen, wenn sie nicht von Muskelkraft betrieben wurden. Die Ambreza waren stille, primitive Farmer und Fischer, und sie schienen eine leichte Beute zu sein.«
»Habt sie angegriffen, wie?«sagte Yomax.
»Sie waren im Begriff, sich mit Schwertern und Speeren, Bogen und Schleudern auszurüsten — mit allem, was in Ambreza funktionierte. Aber meine Leute machten einen Fehler.«
»Nämlich?«
»Sie verwechselten Unwissenheit mit Dummheit. Die Ambreza waren das, als was sie erschienen, aber sie waren nicht dumm. Sie sahen, was kam, und begriffen, daß sie verlieren mußten. Ihre Diplomaten versuchten zu verhandeln, aber gleichzeitig forschten sie in anderen Sechsecken nach Gegenmitteln — und sie fanden eines.«
»Ja? Ja? Und das war?«fragte Yomax.
»Ein Gas«, antwortete Brazil leise. »Ein Hex im Norden verwendete es für Kühlzwecke, aber auf meine Leute hatte es eine ganz andere Wirkung. Sie entführten ein paar Personen, und das Gas wirkte auf sie genauso, wie die vom Norden es gesagt hatten, während die Ambreza nur Juck- und Niesreiz verspürten.«
»Es hat alle in Ihrer Welt getötet?«sagte Yomax entsetzt.
»Nicht getötet, nein — nicht direkt«, erwiderte der kleine Mann. »Es rief, nun, chemische Veränderungen im Gehirn hervor. Praktisch jede Rasse ist ja hervorgegangen oder verwandt mit irgendeinem Tier aus der Vergangenheit oder Gegenwart.«
»Ja«, meinte Yomax. »Ich habe einmal mit einem Pferd in Hex Dreiundachtzig zu reden versucht.«
»Genau!«sagte Brazil. »Nun, wir stammten von den großen Affen ab, waren praktisch eine Fortentwicklung. Haben Sie davon gehört?«
»Hab mal ein paar Bilder in einer Zeitschrift gesehen. In zwei oder drei Sechsecken gibt es solche Arten.«
»Richtig. Nun, das Gas führte alle einfach zu ihrer tierischen Herkunft zurück. Sie verloren ihre Vernunft und wurden große Affen.«
»Ho!«sagte Yomax. »Sind sie nicht alle gestorben?«
»Nein. Das Klima ist gemäßigt, und ein paar haben sich angepaßt, obwohl viele, wahrscheinlich die meisten, umkamen. Die Ambreza erschienen danach und räumten auf. Sie ließen sie in kleinen Rudeln frei herumlaufen. Ein paar halten sie sogar als Haustiere.«
»Von Wissenschaft verstehe ich nicht viel«, sagte Yomax, »aber ich bin sicher, daß chemische Veränderungen nicht vererbt werden können. Ihre Kinder sind also doch bestimmt keine echten Tiere geworden.«
»Die Ambreza sagen, daß es sich langsam bessert, aber das Gas scheint von allem aufgenommen worden zu sein — Gestein, Boden, von allem, was darin wächst oder lebt. Bei meinem Volk verursachte die große Dosis sofortige Rückentwicklung, doch ein Teil hält sie aufrecht. Die Wirkung läßt ganz langsam nach. Die Ambreza rechnen sich aus, daß sie in weiteren sechs oder sieben Generationen wieder auf der Ebene primitiver Menschen sein, in fünfhundert Jahren vielleicht wieder eine Sprache entwickeln werden. Die Ambreza wollen die Rudel in ihr altes Sechseck bringen, wenn sie sich weiterentwickeln, weil es dort Reine Technologie gibt und sie vermutlich primitiv bleiben.«
»Das mit dem Gas gefällt mir nicht«, meinte Yomax. »Könnte auch auf uns wirken.«Es fröstelte ihn.
»Glaube ich nicht«, sagte Brazil. »Nach dem Angriff hat der Schacht das Zeug nicht mehr weiterbefördert. Ich glaube, unser Planetengehirn hat genug von solchen Dingen. Im übrigen ist das Leben immer ein Risiko. Wenn man sich davon niederdrücken läßt, kann man sich gleich umbringen. Das ist das Problem bei Wu Julee. Sie hat ein furchtbares Leben hinter sich.«Brazil schilderte kurz, was sie mitgemacht hatte, und mußte einige Ausdrücke wie Hure erläutern.
»Die arme Wuju war schon fast ein Tier geworden, bevor sie zu uns kam«, meinte Jol. »Kein Wunder, daß sie alle Erinnerungen verdrängt hat. Kein Wunder, daß sie Alpträume hatte.«
»Das ganze Leben war ein Alptraum für sie«, sagte Brazil leise. »Ihr körperlich erlebter Alptraum ist vorbei, aber bis sie das verarbeitet, lebt er in ihrem Denken weiter.«
Sie sahen einander eine Weile stumm an. Schließlich sagte Yomax:»Captain, eines stört mich an Ihrer Gas-Geschichte.«
»Ja?«
»Wenn das Gas noch wirksam ist, warum hat es nicht auf Sie Einfluß gehabt, zumindest teilweise?«
»Das weiß ich ehrlich nicht«, erwiderte Brazil. »Alles spricht dafür, daß ich auf die Ebene des Sechsecks hätte herabsinken müssen, aber das war nicht der Fall. Ich bin nicht einmal äußerlich verändert zur größeren, dunkleren Version der Menschen dort. Ich konnte es nicht erklären, und die Ambreza auch nicht.«
Die Heilkundige steckte den Kopf herein, und sie drehten sich erwartungsvoll um.
»Sie schläft jetzt«, sagte sie. »Zum erstenmal seit über einem Monat schläft sie richtig. Ich bleibe bei ihr.«
Sie nickten und richteten sich auf eine lange Wartezeit ein.
Wu Julee schlief fast zwei Teige lang.
Brazil benützte die Gelegenheit, sich das Dorf und die Umgebung anzusehen. Nachdem er einen ganzen Tag unterwegs gewesen war, ging er zur Heilkundigen.
»Sie ist zu sich gekommen«, sagte sie. »Ich habe sie dazu gebracht, etwas zu essen, und es ist im Magen geblieben. Sie können hineingehen.«
Wu Julee sah ein wenig schwach aus, lächelte aber, als sie ihn sah.
Sie hat sich nicht radikal verändert, dachte er, wenigstens nicht von den Hüften aufwärts. Er hätte sie überall wiedererkannt.
»Wie fühlen Sie sich?«fragte er.
»Schwach, aber es wird schon.«Sie kicherte ein wenig. »Als wir uns das letztemal sahen, mußte ich zu Ihnen aufblicken.«
Brazils Miene wirkte gequält.
»Immer dasselbe«, klagte er. »Immer auf die Kleinen.«
Sie lachte, und er stimmte ein.
»Es ist gut, Sie lachen zu hören«, sagte er.
»Vorher hat es nie viel Anlaß gegeben«, meinte sie.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie finde.«
»Ich erinnere mich — das war das Schlimmste am Schwamm. Man weiß alles, nimmt alles wahr.«
Er nickte ernsthaft.
»In der menschlichen Geschichte hat es immer irgendeine Droge und Süchtige gegeben. Die Leute, die den Stoff verhökern, haben eine andere Sucht — nach Macht. Ihre Gier treibt sie. Geld- und Machtgier, das Übelste — nein, das Zweitübelste auf der Welt.«
»Und was ist das Übelste?«
»Die Angst. Sie zerstört und verwüstet alles.«
Sie schwieg kurze Zeit.
»Ich habe fast mein ganzes Leben lang Angst gehabt.«
»Ich weiß. Aber jetzt gibt es keinen Grund mehr dafür. Das sind gute Leute hier, und es ist ein Ort, wo ich jederzeit den Rest meines Lebens verbringen könnte.«
Sie sah ihn an.
»Sie sind wunderbar, aber es ist ihr Paradies. Sie sind hier geboren und wissen nichts von dem Entsetzlichen ringsumher. Es muß herrlich sein, so leben zu können, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Meine Narben wirken so groß und schmerzhaft, gerade weil die Leute hier gut und schlicht sind. Können Sie das verstehen?«
Er nickte langsam.
»Ich habe auch Narben, wissen Sie, und manche kann ich zeitweise kaum ertragen. Meine Erinnerung kehrt zurück — langsam, aber in genauen Einzelheiten, und es sind meist Dinge, an die ich mich nicht erinnern will, wie Serge gesagt hat.«
»Diese Verjüngungsbehandlung muß Ihr Gedächtnis stark beeinflußt haben«, meinte sie.
»Nein«, sagte er. »Ich habe mich nie verjüngen lassen, Wu Julee. Niemals. Das wußte ich, als ich ihnen dergleichen zuschrieb.«
»Niemals — aber das ist unmöglich. Ich erinnere mich, daß Hain ihr Patent gelesen hat. Da stand, daß Sie über fünfhundert Jahre alt sind!«
»Das bin ich«, gab er langsam zurück. »Und noch viel älter. Ich hatte hundert Namen, tausend Leben, alle gleich. Ich bin da seit der alten Erde und vorher.«
»Aber die ist vor Jahrhunderten zerbombt worden. Das ist ja beinahe Vorgeschichte.«
»Es ist wie eine Reihe von Schleiern gefallen, einer nach dem anderen. Heute, als ich oben in den Bergen war, fiel mir plötzlich ein komischer kleiner Diktator der alten Erde ein, der mich mochte, weil ich nicht größer war als er. Er hieß Napoleon Bonaparte…«
Er schlief einige Tage auf Pelzen in Yomax' Büro und sah bei jedem Besuch Wu Julee Kraft und Sicherheit zurückgewinnen.
Aber die Narben in ihren Augen blieben.
Eines Tages kam das Dampfboot, und Klamath fiel beinahe in den See, als er auf ihn zustürzte.
»Nate! Nate!«rief der Fährmann. »Unglaubliche Nachrichten!«Nach seiner Miene war es nichts Gutes.
»Beruhigen Sie sich, Klammy, und erzählen Sie.«In der Hand des Kapitäns erspähte Brazil eine handgedruckte Zeitung, konnte die Sprache aber nicht lesen.
»Jemand ist in die Universität in Czill eingedrungen und hat zwei Leute entführt!«
Brazil runzelte die Stirn mit einem hohlen Gefühl im Magen. Dort befand sich Vardia, die er als nächste besuchen wollte.
»Wen hat man entführt?«
»Einen von euch, Vardia oder so ähnlich. Und eine Umiau — eine Art Seejungfrau, Nate, namens Cannot.«
Der kleine Mann kaute bedrückt an seiner Unterlippe.
»Weiß man, wer es war?«
»Man ist sich ziemlich sicher, obwohl sie es bestreiten würden. Ein Haufen Riesenschaben mit einem Namen, den keiner aussprechen kann. Die Umiau haben sie im Dunkeln bemerkt, als sie die Stromversorgung lahmlegten.«
Langsam schälten sich die Ereignisse heraus. Zwei große Wesen, die Riesen-Flugkäfern glichen, hatten das Kraftwerk gesprengt, das künstliche Sonnenlicht war in einem Flügel des Gebäudes ausgefallen, dann waren sie durch ein Fenster eingedrungen, hatten Vardia und Cannot ergriffen und mitgenommen. In Zone hatte man sich an die Führer der schuldigen Rasse gewandt, aber sie betonten, es gäbe auf dem Planeten fast hundert Insektenrassen, und sie hätten mit der Sache nichts zu tun.
»Aber das ist nicht das Wildeste«, sagte Klamath erregt. »Die Umiau gerieten in helle Aufregung, und eine verriet die Wahrheit über Cannot. Sie und die maßgeblichen Leute im Zentrum hatten ein echtes Geheimnis. Cannot war Elkino Skander, Nate.«
Brazil starrte ihn an.
»Jetzt muß ich nach Czill«, sagte er. »Meine Arbeit scheint zu beginnen.«
Klamath verstand nichts, erklärte sich aber bereit, mit dem Boot zu warten, bis Nathan sich von Wu Julee verabschiedet hatte.
Sie stand ungestützt und sah sich ein Buch mit Landschaftsbildern an. Seine Miene verriet seine innere Unruhe.
»Was ist los?«fragte sie.
»Sie sind in ein Hex eingedrungen, das in der Nähe liegt, und haben Vardia und Skander entführt, den Mann, der die sieben Leute auf Dalgonia umgebracht haben könnte«, antwortete er ernst. »Ich muß leider gehen.«
»Nehmen Sie mich mit«, sagte sie ruhig.
Der Gedanke war ihm überhaupt nicht gekommen.
»Aber Sie sind noch geschwächt!«wandte er ein. »Und hier gehören Sie her. Das ist jetzt Ihre Rasse. Da draußen ist alles übel, das ist nichts für Sie.«
Sie ging zu ihm und sah ihn mit ihren alten, alten Augen an.
»Ich muß«, sagte sie. »Ich muß die Narben heilen.«
»Aber da draußen gibt es nur neue Narben«, gab er zurück. »Da draußen ist die Angst, Wu Julee.«
»Nein, Nathan.«Sie tippte sich an die Stirn. »Die Angst ist hier. Bis ich sie bewältige, gehe ich hier zugrunde.«Als er schwieg, fügte sie hinzu:»Ich halte mehr aus als Sie.«
»Also gut«, sagte er langsam. »Kommen Sie mit, wenn es sein muß. Sie können ohnehin von jedem Portal aus nach Dillia zurück.«
Sie zog einen Mantel an, und sie gingen hinaus. Als sie Yomax und den anderen sagten, daß sie mitging, erhoben sich heftige Proteste, aber sie ließ sich in ihrem Entschluß nicht beirren.
»Ich sage es Dal und Jol«, murmelte Yomax, während ihm die Tränen in die Augen stiegen. »Aber sie werden es auch nicht verstehen.«
»Ich komme wieder, Alter«, erwiderte sie und küßte ihn auf die Wange.
Klamath betätigte die Dampfpfeife.
Sie traten auf das Boot und gingen durch die Frachttür, die das Unterdeck vor dem kalten Wetter schützte.
Fünf Stunden später landeten sie in dem viel größeren Ort Donmin seeabwärts. Verglichen mit dem Dorf seeaufwärts war das eine wimmelnde Metropole mit fünfzehn- oder zwanzigtausend Bewohnern. In den Straßen gab es Öllampen, obwohl Brazil nicht wußte, was für ein Öl verwendet wurde. Jedenfalls roch es nach Fisch.
Er holte aus dem Schiffsbüro einen Rucksack und verabschiedete sich von Klamath, der ihnen alles Gute wünschte.
Der Rucksack enthielt hauptsächlich Tabak, eine nützliche Handelsware. In einer Tasche befanden sich Kleidung und Wäschezeug.
Mit dem Tabak konnte Brazil einige Dinge eintauschen, die er für nötig hielt, dann besorgte er ein Zimmer in einem Gasthaus am Hafen, wo sie die Nacht verbrachten.
Am nächsten Tag machten sie sich früh auf den Weg nach Nordosten. Wu Julee mußte sich Mühe geben, hinter ihm zu bleiben, so langsam ging es voran. Nach einigen Kilometern fragte sie ihn:»Warum reiten Sie nicht auf mir?«
»Aber Sie tragen doch schon den Rucksack.«
»Ich bin kräftiger, als Sie glauben«, erwiderte sie. »Ich habe Baumstämme geschleppt, die schwerer waren als Sie und der Rucksack zusammen. Los, steigen Sie auf!«
»Ich bin nicht mehr auf einem Pferd gesessen, seit ich bei der Amtseinführung vom ersten Wilson war«, sagte er für sie unverständlich. »Also, versuchen wir es.«
Er brauchte, selbst mit ihrer Hilfe, drei Versuche, um auf ihren breiten, stämmigen Leib zu gelangen, der ihn sehr an ein Shetland-Pony erinnerte. Und zweimal fiel er unter ihrem spöttischen Gelächter herunter, als sie zu traben begann. Sie mußte schließlich ihre Arme nach hinten legen, damit er sich festhalten konnte.
Sie kamen aber schnell voran und die Kilometer schmolzen. Als es dunkelte, erreichten sie die Grenze von Dillia. Es begann zu schneien, doch nur leicht.
»Wir müssen bald anhalten«, meinte er.
»Warum?«fragte sie spöttisch. »Angst vor der Dunkelheit?«
»Mein Körper hält das einfach nicht mehr aus«, ächzte er. »Und wir kommen bald in das Slongorn-Hex. Ich weiß nicht genug darüber, um es in der Dunkelheit zu wagen.«
Sie blieb stehen, und er stieg steif und mit schmerzverzerrtem Gesicht ab.
»Na, wer konnte die Reise nicht machen, weil er zu schwach war?«neckte sie ihn. »Seht euch den tapferen Supermann an. Und wir haben schon fünf Pausen eingelegt.«
»Ja, ja«, knurrte er. »Nur, damit Sie etwas essen konnten. Guter Gott, stopft Ihr euch voll!«
Der Schneefall wurde stärker, und der Wind pfiff durch die Bäume. Man konnte fast nichts mehr sehen.
»Sind wir noch auf der Straße?«fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Wir hätten schon an dem Gasthof vorbeikommen müssen. Aber Feuer können wir jetzt nicht machen. Gehen wir weiter.«
»Mir wird kalt, Nathan«, klagte sie. »Ich bin halb unbedeckt, denken Sie daran.«
Er stieg wieder auf, und sie stapfte mit ihm weiter.
»Lange kann ich nicht mehr«, sagte sie. »Ich bin hinten steif gefroren.«
»Nur nicht aufgeben, Mädchen!«rief er. »Das ist das Abenteuer, das Sie erleben wollten!«
Es spornte sie an, aber der Schnee schien immer dichter zu fallen.
»Ich glaube, ich sehe etwas!«rief sie plötzlich.
»Vielleicht das Rasthaus. Nur vorwärts!«
Sie lief weiter.
Plötzlich war der Schnee verschwunden, als hätten sie einen unsichtbaren Vorhang durchstoßen, und mit ihm die Kälte. Sie blieb stehen.
Er stieg ab und säuberte sich vom Schnee, holte Atem und ging einige Schritte zurück.
Hinein in Kälte und wehenden Schnee.
Er kam zu ihr zurück.
»Was ist, Nathan?«fragte sie. »Was ist geschehen?«
»Wir müssen das Rasthaus verfehlt haben«, gab er zurück. »Wir sind über die Grenze nach Slongorn gekommen.«
Ihr Leib begann, rasch und schmerzhaft aufzutauen. Wenn sie sich umschaute, konnte sie nichts als wallenden, schneedurchwehten Nebel sehen. In jeder anderen Richtung leuchtete der spektakuläre Nachthimmel der Schacht-Welt wolkenlos.
»Wir bleiben am besten gleich hier«, schlug er vor. »Ich bin nicht nur zu erschöpft, um weitermachen zu können, es hat auch keinen Sinn, uns in fremdes Gelände vorzuwagen.«
»Es ist schwer zu glauben«, meinte sie, als er den Rucksack abschnallte und zwei Handtücher herausnahm, sich Gesicht und Haar abwischte und sie dann zu frottieren begann. »Ich meine — mit einem Schritt aus dem schrecklichen Sturm hierher — vom Winter in den Sommer.«
»So kann es manchmal sein«, erwiderte er. »Manchmal gibt es keine klare Trennungslinie, manchmal ist der Kontrast so kraß wie hier. Aber vergessen Sie nicht, jedes Hex ist trotz der Tatsache, daß es Gemeinsames auf dieser Welt gibt — Gezeiten, Flüsse, Meere und dergleichen — eine abgeschlossene biologische Eigenwelt.«
»Ich fange plötzlich an zu schwitzen«, sagte sie. »Ich glaube, ich ziehe die dicken Pelze aus.«
»Bin schon voraus«, erwiderte er, während er sie hinten abtrocknete.
Sie verdrehte den Oberkörper und sah, daß er sich fast ganz ausgezogen hatte. Nackt sieht er noch schmächtiger aus, dachte sie. Man kann selbst durch die schwarze Brustbehaarung jede Rippe zählen.
Er kam nach vorn, und gemeinsam betrachteten sie die vom Sternenlicht unheimlich erhellte Landschaft.
»Berge, Bäume, da drüben vielleicht ein kleiner See«, sagte er und zeigte hinüber. »In der Ferne scheinen ein paar Lichter zu sein.«
»Ich glaube nicht, daß wir auf der Straße sind«, meinte sie.
Sie standen auf einem Feld kurzer Gräser. Automatisch rupfte sie ein Büschel aus.
»Ich weiß nicht, ob Sie jetzt essen sollten«, sagte er warnend. »Wir kennen die Regeln hier nicht.«
Sie schnupperte argwöhnisch am Gras.
»Riecht ganz normal wie Gras«, sagte sie. »Aber es ist kurz. Sehen Sie? Es ist gemäht worden.«
Er gab ihr recht.
»Nun, das ist logischerweise entweder ein Hoch-Tech-Hex oder ein nicht-technologisches, nach den Anzeichen, die ich überall bemerkt habe. Allem Anschein nach ist es Hoch-Tech.«
»Das Gras ist in den letzten zwei Tagen geschnitten worden«, sagte sie. »Man riecht es.«Er glaubte es ihr, weil ihr Geruchssinn viel besser entwickelt war als seiner. »Ich versuche es.«Sie machte drei Schritte und blieb stehen. »Nathan?«
»Ja?«
»Was für Leute leben hier? Ich meine, was —«
»Ich weiß, was Sie meinen. Ich konnte von niemandem eine genaue Beschreibung bekommen. Die Route wird nicht sehr häufig benutzt. Ich konnte nur erfahren, daß es zweibeinige Vegetarier sind.«
»Das reicht mir«, erwiderte sie, rupfte Grasbüschel aus und begann, sie zu kauen.
»Laufen Sie nicht zu weit weg!«rief er. »Es ist zu heiß für ein Lagerfeuer, und ich möchte kein Aufsehen erregen!«
Er zog sich ganz aus, legte sich auf die feuchten Handtüchter und holte zwei von den Konfektstangen heraus, die er in Donmin gekauft hatte. Er aß eine halbe davon und bekam mächtigen Durst.
Er griff nach der Wasserflasche, beschloß aber, den Inhalt nicht anzurühren. Niemand konnte sagen, wie hier das Wasser war.
Er stand auf und ging zu der nur wenige Meter entfernten Grenze. Er konnte den Wind heulen hören und den Schnee dahinfegen sehen. Er ließ sich auf die Knie nieder, griff in die Kälte und holte eine Handvoll Schnee herein.
Das reichte.
Nach einiger Zeit kam sie zurück und sah ihn auf den Handtüchern liegen.
»Ich dachte, Sie schlafen«, sagte sie.
»Zu müde zum Schlafen«, erwiderte er träge. »Sie sollten auch schlafen. In den nächsten Tagen stellen wir schon fest, ob es in dieser Welt Lungenentzündung gibt.«
Sie lachte, und aus dem Lachen wurde ein Gähnen.
»Sie haben recht«, gab sie zu. »In der Nacht falle ich aber wahrscheinlich um. Hier gibt es nichts, wo man sich anlehnen kann.«
»Können Sie nicht liegend schlafen?«
»Ich habe es ein paarmal getan, meist, wenn ich betrunken war. Es ist nicht normal. Wenn wir einschlafen, sind wir praktisch für die Nacht bewußtlos.«Sie kam an ihn heran, kniete nieder, legte sich auf die Seite. »Ahhh…«sagte sie seufzend. »Ich glaube, es geht, wenigstens heute nacht.«
Er sah sie an und dachte: Ist es nicht seltsam, wie menschlich sie aussieht? Ihr Haar war in ihr Gesicht gefallen, und er strich es vorsichtig zurück. Sie lächelte und öffnete die Augen.
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht wecken«, flüsterte er.
»Macht nichts, ich habe noch nicht geschlafen. Immer noch Schmerzen?«
»Ein bißchen«, gab er zu.
»Legen Sie sich mit dem Rücken zu mir. Ich massiere das weg.«
Er gehorchte, und sie begann, ihn zu massieren. Es tat so gut, daß es schmerzte. Er fragte, ob er sich revanchieren könnte, und sie ließ sich ihren Menschenrücken und die Schultern massieren. Dann legte er sich auf die Handtücher zurück.
»Wir sollten wirklich schlafen«, sagte er leise. Dann beugte er sich hinüber und küßte sie.
Sie griff nach ihm und zog ihn an sich. Er fühlte sich sehr verlegen und rollte sich auf die Handtücher zurück, als sie ihn losließ.
»Warum sind Sie wirklich mitgekommen?«fragte er ernsthaft.
»Was ich gesagt habe«, erwiderte sie halb flüsternd. »Aber ich erinnere mich auch an alles. Wie Sie mir das Leben retten wollten. Wie Sie mir im Schacht geholfen haben. Und wie Sie mich gesucht und gefunden haben. Ich habe die Karte gesehen.«
»Ach verdammt«, sagte er aufgebracht. »Das wird doch nie etwas. Wir sind zwei verschiedene Wesen, fremdartig füreinander.«
»Aber Sie haben mich begehrt, das konnte ich spüren.«
»Und Sie wissen verdammt genau, daß unsere Körper nicht zueinanderpassen. Sex wäre jetzt für uns nicht möglich. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Wenn Sie deshalb hier sind, sollten Sie morgen zurückgehen.«
»Sie waren das einzig Reine, dem ich in unserer schmutzigen Welt begegnet bin«, sagte sie ernst. »Sie sind der erste Mensch, der sich um mich gekümmert hat, obwohl Sie mich gar nicht kannten.«
»Aber das ist, als verliebe sich ein Fisch in eine Kuh«, gab er mit gepreßter Stimme zurück. »Das Gefühl ist da, aber sie kommen eben aus zwei verschiedenen Welten.«
»Liebe ist nicht Sex«, erwiderte sie leise. »Das weiß gerade ich besser als jeder andere. Sex ist nur ein körperlicher Akt. Liebe heißt, daß einem ein anderes Wesen so wichtig oder noch wichtiger ist als die eigene Person. Tief in Ihrem Inneren haben Sie die Gefühle für andere, die ich vorher nie wirklich gefunden hatte. Ich glaube, davon hat etwas abgefärbt. Vielleicht kann ich durch Sie meine Angst niederringen und mich hingeben.«
»Ach Mist!« sagte Brazil mürrisch und drehte ihr den Rücken zu.
Dann schliefen sie ein.
Der Zentaur war riesig, wie eine lebendig gewordene Statue des Gottes Zeus, gepaart mit dem edelsten Hengst. Als er Schritte hörte, verließ er seine Höhle, sah, wer es war, und atmete auf.
»Du wirst unvorsichtig, Agorix«, sagte der Mann zu ihm.
»Bin nur müde«, erwiderte der Zentaur. »Bin es müde davonzulaufen, bei jedem Geräusch zusammenzuzucken. Ich glaube, ich werde bald in die Berge gehen und ein Ende machen. Ich bin der Letzte, weißt du.«
Der Mann nickte ernsthaft.
»Ich habe die zwei ausgestopften in Sparta beseitigt, indem ich den Tempel anzündete.«
Der Zentaur lächelte anerkennend.
»Wenn ich fort bin, wird nur noch die Legende verraten, daß es uns gegeben hat. Das ist das Beste.«Plötzlich flossen Tränen aus seinen großen, weisen Augen. »Wir haben versucht, ihnen soviel beizubringen. Wir hatten soviel zu bieten«, klagte er.
»Ihr wart zu gut für diese schmutzige Welt«, erwiderte der Mann mitfühlend.
»Wir sind aus eigenem Entschluß gekommen«, gab der Zentaur zurück. »Wir sind gescheitert, aber wir haben es versucht. Doch für dich muß es noch schwerer sein.«
»Ich muß bleiben«, sagte der Mann ruhig. »Das weißt du.«
»Dann bemitleide mich nicht«, sagte der Zentaur scharf. »Laß dich statt dessen von mir betrauern.«
Nathan Brazil wurde wach.
Die heiße Sonne brannte herab, und wäre er nicht von früheren Reisen gebräunt gewesen, er hätte einen schweren Sonnenbrand davongetragen.
Was für ein verrückter Traum, dachte er. Entsprang er dem Gespräch von gestern nacht, oder war er, wie in letzter Zeit so vieles, eine wahre Erinnerung? Das erschreckte ihn ein wenig, nicht, weil der Traum unklar war, sondern, weil er viel erklären würde — und das in einer sehr unerfreulichen Richtung.
Plötzlich entdeckte er, daß Wu Julee verschwunden war. Er setzte sich abrupt auf und schaute sich um. Sie war nirgends zu sehen. Er blickte zur Grenze. Dort zeigte sich verschneiter Wald, aber der Sturm hatte aufgehört, und der Himmel wurde so blau wie hier. Er ging hin, holte Schnee und rieb sich das Gesicht damit ein.
Er blinzelte, drehte sich um und sah Wu Julee herangaloppieren. Er packte die Handtücher wieder in den Rucksack und zog ein Bündel schwarzen Stoffes heraus. Er faltete es auseinander. Er hatte es in einem anderen Hex machen lassen. Die Hose paßte, und seine Füße schoben sich in schuhartige Enden mit festen Außensohlen. Das Material dehnte sich und schien ihm wie eine zweite Haut zu passen, auch das Pulloverhemd, von denen er zwei hatte. Er wählte das ohne Ärmel und packte das mit den engsitzenden Handschuhen wieder ein.
Es klappt, dachte er, und ist ganz bequem. Aber es liegt so eng an und ist so dünn, daß ich mir immer noch nackt vorkomme.
Er wünschte sich nicht zum erstenmal eine Sonnenbrille, doch die ersten hatte er in Dillia gesehen, und selbst die kleinste dort war ihm viel zu groß.
Wu Julee kam aufgeregt heran.
»Nathan!«rief sie. »Ich war unterwegs, und Sie erraten nie, was hinter dem Berg dort ist! Eine gepflasterte Straße, mit Autos darauf!«
»Autos? So nah an der Grenze? Was für Autos?«
»Elektrische, glaube ich. Sie fahren nicht sehr schnell, und es sind auch nicht sehr viele, aber sie sind da. An der Grenze gibt es einen kleinen Parkplatz. Das Rasthaus in Dillia liegt hundert Meter dahinter.«
»Und wie sehen die Leute hier aus?«fragte er neugierig. »Wir müssen fast durch ihr ganzes Hex.«
»Sie sind ganz sonderbar — das müssen Sie selbst sehen. Gehen wir.«
Er schnallte den Rucksack fest und stieg auf. Sie trabten schnell dahin, und die Schmerzen stellten sich bei ihm sofort wieder ein, obwohl er sich langsam an das Reiten zu gewöhnen schien.
Nach fünf Minuten kamen sie über den Hügel. Auf einem kleinen, gepflasterten Platz an der Grenze stand ein halbes Dutzend Fahrzeuge, zumeist offen; nur eines hatte eine Art Leinwanddach. Sitze gab es nicht, und die Fahrer schienen, dem Dach nach zu schließen, sehr groß zu sein und mit einem Zweihebelsystem zu steuern. Sie blieb in der Nähe des Parkplatzes stehen.
»Da!«sagte sie. »Jetzt sehen Sie, was ich meine.«
Sie hat wirklich recht, entschied Brazil. Das letztemal hatte er so etwas nach einer einmonatigen, lange zurückliegenden Sauftour gesehen.
Man stelle sich einen Elefantenschädel vor, samt schlappen Ohren, aber ohne Stoßzähne, mit nicht einem, sondern zwei Rüsseln, jeder etwa einen Meter lang und in vier kurze, gelenklose Finger auslaufend. Man montiere den Kopf auf einen Körper, der zu dünn aussah, um einen solchen Kopf zu tragen, armlos, mit zwei kurzen, gedrungenen Beinen und platten Füßen, die beim Gehen den Eindruck erweckten, als drehe sich das Wesen ein wenig hin und her. Man streiche das Ganze grellrot an und stelle sich vor, daß es einen grünen Segeltuchoverall trägt.
Nathan Brazil und Wu Julee brauchten es sich nicht vorzustellen. Genau das kam langsam auf sie zu.
»O Mann!«sagte er nur. »Ich kann Sie gut verstehen.«
Das Wesen entdeckte sie und hob die Rüssel zum Gruß. Sie schienen aus derselben Stelle zwischen und knapp unter den Augen hervorzuwachsen.
»Ah, hallo!«brüllte es in Dillianisch mit einer Stimme, die wie ein beleidigtes Nebelhorn klang. »Besseres Wetter hier herüben, wie?«
»Kann man wohl sagen«, erwiderte Brazil. »Wir haben im Sturm das Rasthaus verfehlt und die Nacht drüben auf dem Feld verbracht.«
»Unterwegs in unser schönes Land?«fragte der Slongornier freundlich. »Gute Jahreszeit dafür. Hier ist immer Sommer.«
»Nur auf der Durchreise«, sagte Brazil. »Wir sind auf dem Weg nach Czill.«
Das freundliche Wesen runzelte die Stirn und wirkte dadurch noch komischer.
»Üble Geschichte, das. Habe gestern abend davon gelesen.«
»Eines der Opfer — die Czillanerin — war eine Freundin von mir. Von uns«, verbesserte Brazil rasch, und Wu Julee lächelte.
»Warum gehen Sie nicht ins Rasthaus, frühstücken und versuchen, sich mitnehmen zu lassen?«sagte das Wesen. »Die Laster hier fahren alle leer zurück, und Sie können sich den weiten Fußmarsch sparen.«
»Danke, das versuchen wir!«rief Brazil dem Slongornier nach, als dieser in den Lastwagen mit Dach stieg und zurückstieß, einen Rüssel an jedem Hebel. Der Lastwagen surrte nur leise und fegte mit beachtlicher Geschwindigkeit davon.
»Ich wette, der fährt fünfzig«, sagte Brazil zu Wu Julee, als das Fahrzeug verschwand. »Vielleicht kommen wir doch schneller und leichter voran, als ich dachte.«
Sie gingen zur Grenze, auf das schneebedeckte Rasthaus zu. Die Kälte erfaßte sie sofort. Sie begannen zu laufen, und Wu Julee war eine Minute vor ihm im Inneren.
Fünf Slongornier standen an einer Theke und stopften mit den Rüsseln etwas in sich hinein, das Heu zu sein schien. Einer leerte einen Topf voll warmer Flüssigkeit und spritzte sich das Ganze in den Mund. Die Wirtin war eine ältere Dillianerin. Zwei junge männliche Zentauren sortierten in einem Winkel Pakete, offenbar die von den Slongorniern gelieferte Ware.
Und da war noch ein Wesen.
Eine riesige, mannsgroße Fledermaus, dachte Brazil, und so sah es auch aus. Es war ein wenig größer als er, mit Rattenkopf und -körper, blutroten Augen und scharfen Zähnen, die an einem großen Bries kauten. Die Arme waren ein wenig ausgestreckt und gingen in die lederartigen Flügel über. Es besaß aber lange, humanoide Beine mit normalen Knien, die bedeckt waren mit groben, schwarzen Haaren wie bei einem Gorilla und in zwei Füße ausliefen, die eher großen Menschenhänden glichen. Das Wesen hatte offenbar zwei oder drei Gelenke in den Beinen, da es ohne sichtbare Mühe auf einem stand, während es mit dem anderen das Bries hielt und an den Mund führte.
Das Wesen schien sie nicht zu beachten, und auch sonst kümmerte sich im Rasthaus niemand um sie. Sie wandten sich ab und bestellten Frühstück, einen dicken Brei in einer großen Schüssel, in dem Holzlöffel steckten. Wu Julee bestellte nur Wasser dazu, während sich Nathan das teeartige Getränk geben ließ. Es schmeckte unglaublich stark und bitter und hatte einen seltsamen Nachgeschmack, aber von seinem Aufenthalt in Dillia wußte er, daß es ihn anregte.
Sie kamen bald in ein Gespräch mit einem der Fahrer aus Slongorn, der sich bereit erklärte, sie die neunzehn Kilometer bis zur nächsten Stadt mitzunehmen, wo er zu Hause war.
»Na, Wu Julee, heute keine Bewegung und keine Schmerzen«, sagte Nathan strahlend.
»Sehr gut«, meinte sie lobend. »Aber nennen Sie mich nicht mehr bei diesem Namen, Nathan. Sagen Sie Wuju zu mir. Das paßt besser zu mir. Jol hat mich so genannt.«
»Also gut«, sagte er lachend. »Wuju.«
»Es gefällt mir, wie Sie das sagen«, meinte sie leise.
»Entschuldigen Sie«, sagte eine scharfe, nasale, aber kristallklare Stimme hinter ihnen, »ich habe unwillkürlich von Ihren Reiseplänen gehört und wollte fragen, ob ich mitkommen kann. Ich muß eine Weile in dieselbe Richtung.«
Sie drehten sich beide um, und wie Brazil erwartet hatte, war es die Fledermaus.
»Hm, ich weiß nicht…«, erwiderte er und warf einen Blick auf den Fahrer, der aber keinerlei Einwände zu haben schien. »Ihm scheint es recht zu sein, und wir haben auch nichts dagegen, äh — wie ist Ihr Name? Die unsrigen haben Sie schon gehört.«
Die Fledermaus lachte.
»Mein Name ist unmöglich. Der Dolmetscher kommt nicht damit zurecht, weil er nicht nur ein Laut ist, den nur wir hervorbringen, sondern auch in den Frequenzen, die fast niemand hören kann.«Das Wesen ließ seine riesigen Ohren zucken. »Ich muß sehr gut hören, weil ich nachts zwar überaus scharfsichtig bin, bei hellem Licht aber fast blind. Warum nennen Sie mich nicht Cousin Bat, das tun die meisten.«
Brazil lachte.
»Gut, Cousin Bat, Sie sind dabei. Aber warum fliegen Sie nicht? Verletzt?«
»Nein, aber die Kälte hat mir nicht gutgetan, und ich habe einen weiten Weg hinter mir und bin ganz erschöpft und ausgelaugt.«Die Fledermaus ging an die Theke, um zu bezahlen.
Brazil spürte plötzlich einen harten Druck an seinem Arm und drehte sich um.
»Der Kerl gefällt mir überhaupt nicht«, flüsterte Wuju. »Ich glaube nicht, daß man ihm trauen kann.«
»Seien Sie nicht voreingenommen«, tadelte er. »Vielleicht fühlt er sich bei Pferden und Elefanten nicht wohl. Hat es auf Ihrer Heimatwelt Fledermäuse gegeben?«
»Ja. Man führte sie ein, um mit Insekten fertig zu werden, aber sie waren viel schlimmer.«
»Das dachte ich mir. Nun, wir werden unterwegs noch ganz andere Typen treffen, und er scheint mir in Ordnung zu sein. Wir werden sehen. Wenn er ehrlich ist, wäre er ein guter Bewacher bei Nacht und ein hervorragender Navigator.«
Sie gab nach.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Cousin Bat ließ sich am Boden neben dem Fahrer nieder und schlief ein, während Wuju und Nathan auf der Pritsche saßen, weil sie nur dort hineinpaßte.
Die slongornische Stadt war modern genug, um Verkehrsstauungen, Ampeln und Polizei aufzuweisen. Wären nicht die pilzförmigen Gebäude und die absurde Erscheinung der Einwohner gewesen, man hätte sich zu Hause fühlen können. Sie warteten zwei Stunden, bevor ein anderer Lastwagen soweit geleert war, daß Wuju hineinpaßte.
Kurz nach Einbruch der Nacht hatten sie das Hex halb durchquert. Cousin Bat war inzwischen hellwach geworden. Da es keine Gasthäuser für jemanden von Wujus Größe und Körperbau gab, lagerten sie auf dem Feld eines freundlichen Bauern.
Die Fledermaus hatte am Tag wie die Karikatur eines Schurken ausgesehen, wirkte im Dunkeln aber ausgesprochen bedrohlich. Die roten Augen glühten unheimlich und spiegelten jedes Licht wider.
»Fliegen Sie jetzt weiter, Cousin Bat?«fragte Brazil, nachdem sie sich eingerichtet hatten.
»Ich fliege eine Weile, einmal, um Bewegung zu haben, und zum anderen, weil es hier kleine Nagetiere und Insekten gibt. Von Kuchen habe ich genug. In Murithel, dem nächsten Hex, soll es aber ziemlich unerfreulich sein, wie man hört. Ich bleibe bis Czill bei Ihnen, wenn es Sie nicht stört.«
Brazil versicherte ihm, das sei nicht der Fall, und die Fledermaus schwang sich hinauf in den dunklen Himmel.
»Ich mag ihn trotzdem nicht«, sagte Wuju, als er verschwunden war. »Er ist mir unheimlich.«
»Sie werden sich an ihn gewöhnen müssen«, sagte er. »Jedenfalls, bis wir dahinterkommen, was er im Schilde führt.«
»Was?«schrie sie.
»Ja, er ist natürlich unecht«, sagte er. »Im früheren Leben war ich ja nichts anderes als die Lastwagenfahrer hier. Ich habe sogar Korn geliefert. Fernfahrer sehen von allem und jedem etwas und wissen so manches über die Leute, mit denen sie zusammentreffen. Sie wußten, wo das Heimat-Hex unseres fliegenden Begleiters ist. Neun Hexagons nordwestlich von hier, also fast genau in der entgegengesetzten Richtung, und vor zwei Tagen hat ihn einer der Fahrer nach Süden, auf Dillia zufliegen sehen. Er hat uns hier in Empfang genommen, Wuju. Er ist im Rasthaus geblieben, weil er wußte, daß wir vorbeikommen würden. Er hätte uns in dem Sturm beinahe verpaßt, aber wir sind ihm doch noch über die Füße gestolpert.«
»Dann verschwinden wir am besten, Nathan. Auf der Stelle. Er wird uns umbringen oder entführen.«
»Nein«, sagte er nachdenklich. »Niemand legt einen so weiten Weg zurück, nur um jemanden zu töten. Man heuert einfach jemanden an, und aus. Wenn es um eine Entführung geht, ist das dieselbe Bande, die Vardia und Skander in der Gewalt hat, und wenn wir dazukämen, würde das eines meiner Probleme lösen. Aber ich wittere hier etwas anderes — ich glaube nicht, daß er zu ihrer Seite gehört, wer sie auch sein mögen.«
»Dann ist er auf unserer Seite?«fragte sie.
Nathan Brazil drehte sich auf seinen Handtüchern um und gähnte.
»Baby, man muß sich merken, daß die einzige Seite, auf der einer steht, immer die eigene ist.«Er schlief in dieser Nacht viel besser als sie.
Cousin Bat weckte sie, müde wirkend, am nächsten Morgen, aber es dauerte Stunden, bis jemand sie mitnahm, und sie kamen nur langsam voran.
»Ich hatte gehofft, vor Dunkelwerden an der Grenze zu sein«, sagte Brazil, »damit wir uns morgen umsehen können. Jetzt kommen wir erst bis Mittag hin und nicht richtig hinein, bevor es Nacht wird.«
»Wir sehen uns das Gelände an und gehen erst hinein, wenn es dunkel wird«, sagte die Fledermaus.
Brazil nickte.
»Jedenfalls haben die Murnies dann keinen Vorteil, und mit Ihren Augen sind wir auch nicht schlecht gestellt.«
»Was sind die Murnies?«fragte Wuju erschrocken.
»Wir haben dieselben Informationen«, erklärte Cousin Bat. »Die Murnies sind die Bewohner von Murithel, das wir auf dreihundert Kilometer durchqueren müssen. Sie sind ein übler Haufen von fleischfressenden Wilden, die halb Pflanze, halb Tier zu sein scheinen. Sie versuchen alles zu fressen, was sie nicht frißt.«
»Können wir denn keinen Umweg machen?«fragte Wuju.
»Nein, nicht von hier aus«, gab Cousin Bat zurück. »Im Osten reicht ein Ausläufer des Ozeans hinein, und nach allem, was ich über die Pia gehört habe, nehmen wir lieber die Murnies auf trockenem Land in Kauf. Auf der anderen Seite kämen wir durch Dunh'gran, ein Land von angenehm zivilisierten nicht-fliegenden Vögeln, aber dann müßten wir weiter durch Tsfrin, wo die Riesenkrabben-Bewohner sehr unliebenswürdig sind, und hinunter durch Alisst, von dem ich überhaupt nichts weiß. Ganz zu schweigen von vierzehnhundert Kilometern.«
»Er hat recht, Wuju«, sagte Brazil. »Wir müssen versuchen, uns bei den Murnies durchzuschleichen.«
»Irgendwelche Waffen?«fragte Cousin Bat.
»Ich habe eine Lichtpistole im Rucksack«, erwiderte Brazil.
»Nützt nichts«, sagte die Fledermaus. »Nicht-technologisches Hex. Die guten Waffen nützen nirgends etwas, wo man sie braucht.«
Brazil kramte in dem großen Sack herum und zog einen funkelnden Degen heraus.
»Erinnern Sie sich?«sagte er zu Wu Julee.
»Er hat dem Kom-Mädchen gehört!«rief sie. »Das ist also das Ding, das dauernd an meine Flanke stößt. Wie sind Sie dazu gekommen?«
»Er blieb in Serges Büro in Zone liegen. Ich war noch einmal dort und habe ihn mir von Serge geben lassen. Schon einmal damit umgegangen?«
»Ich glaube nicht, daß ich schon einmal einen Käfer getötet habe«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich es kann.«
»Das müssen Sie jetzt feststellen«, meinte er. »Sie haben stärkere Armmuskeln und sind viel schneller als ich.«
»Was nehmen Sie?«
»Fünftausend Sicherheits-Streichhölzer und eine Dose brennbares Fett«, erwiderte er rätselhaft. »Sie werden sehen. Und Sie, Cousin Bat?«
»Ich käme aus dem Gleichgewicht, wenn ich Waffen trüge, aber ich kann immer Steine aufheben und fallen lassen«, erwiderte das Wesen. »Außerdem sind meine Zähne und Schläge aus der Luft recht wirkungsvoll.«
»Also gut«, sagte Brazil. »Aber das Beste für uns ist nach wie vor, daß wir ohne Kampf durchkommen.«
Wuju griff nach der Waffe und probierte ein paar Stöße aus.
»Immer auf den Kopf zielen«, sagte Cousin Bat. »Wenn es nicht das Gehirn erwischt, dann die Augen oder die Nase. Und die Genitalien, falls vorhanden, bieten sich auch als Zielscheibe an.«
Zur Grenze von Murithel führten keine Straßen, und sie mußten die letzten Kilometer im Dunkeln zu Fuß gehen.
Sie blieben die Nacht über noch auf der hiesigen Seite und unterhielten sich die ganze Zeit, bis auf eine Stunde, als Cousin Bat auf Nahrungssuche ging. Brazil widerstand einigemale der Versuchung, die Fledermaus rundheraus zu fragen, wer sie sei und was sie wolle, kam aber nie dazu.
Gegen Morgen schliefen sie dann doch beide ein.
Wuju war als erste auf den Beinen, entfernte sich aber nicht weit von ihnen. Brazil schlief fast bis zum Mittag, und Bat mußte zuletzt geweckt werden, als er bis zum Abend weiterschlafen zu wollen schien.
Von ihrem Lagerplatz aus war Murithel deutlich zu erkennen. Es sah nicht sehr bedrohlich, sondern sogar wunderschön aus.
Die Landschaft bestand aus niedrigen, felsigen Bergen und sanft geschwungenen Hügeln, manche aus hell orangerotem Gestein, das zu seltsamen, unheimlichen Mustern verwittert war. Andere waren von stumpfem Rosarot, mit einigen Baumgruppen und Gräsern. Eine Reihe von Bäumen zeigte einen kleinen Wasserlauf auf der linken Seite an. Der Himmel war bewölkt.
»Herrlich«, sagte Wuju, »aber es sieht so sonderbar aus. Selbst der Himmel scheint von hellerem Blau zu sein, mit gelben und grünen Farbtönen.«
»Es könnte regnen«, sagte Cousin Bat besorgt. »Schlecht für die Navigation, schlecht für das Fliegen, wenn es notwendig sein sollte. Das behindert uns.«
»Aber die Murnies bleiben dann auch, wo sie sind«, meinte Brazil. »Wenn es regnet, laufen wir weiter, solange wir können. Den Slongorniern zufolge ziehen sich die rosaroten Berge mit dem bißchen Grün halb durch das Hex. Wir folgen ihnen. Vielleicht gibt es dort auch Höhlen und Schlupfwinkel.«
»Dafür bin ich auch«, sagte die Fledermaus. »Wenn ich hier lebte, würde ich mich an Wasserläufen niederlassen, auf den Ebenen, aber an Stellen, die gut zu verteidigen sind. Wenn wir uns von solchen Stellen fernhalten, könnten wir es schaffen.«
»Kurz vor Sonnenuntergang erkunden Sie das Gelände von der Luft aus«, schlug Brazil vor. Er ging zum Rucksack, zog das Schwert heraus und schlüpfte in das langärmelige Hemd mit den Handschuhen. Aus dem anderen machten sie eine provisorische Scheide, die sie Wuju umhängten. Dann griff er nach einer kleinen, verbeulten Dose und schmierte sich mit dem Inhalt ein. »Kochfett der Slongornier«, sagte er. »Es enthält eine Art Farbstoff. Bat ist schwarz, und Sie sind braun, aber meine helle Haut würde mich aus der Nähe verraten.«
Sie warteten auf den Sonnenuntergang.