Die Nation — ein Hotel ersten Ranges

Sie waren, wie sich herausstellte, nicht festgenommen, sie befanden sich in Quarantäne. Der Roboter-Direktor erklärte, eine Analyse der Abfallgase hätte ergeben, daß zwei von ihnen von gewissen mikroskopisch kleinen Lebewesen befallen seien, die in Der Nation Rostprobleme hervorrufen könnten. Deshalb wurden sie festgehalten, bis die Labors die Organismen untersuchen, ein Gegenmittel finden und es ihnen zuführen konnten, damit sie sicher durch das Land gelangten, ohne Schwierigkeiten zu verursachen.

Für Hain war dies der erste Urlaub seit dem Eintritt in diese irre Welt, und sie erholte sich und schien es nicht eilig zu haben, weiterzukommen.

Erahner und Rel nahmen die Situation aufgebracht, aber resigniert hin und blieben für sich.

Da der Flügel, den sie bewohnten, evakuiert worden war, konnten sie einander besuchen. Vardia war die einzige, die das wollte. Sie suchte regelmäßig Skanders Raum auf.

»Warum müssen wir eigentlich weitermachen?«fragte Vardia eines Tages.

»Wir sind immer noch Gefangene«, erwiderte die Umiau überrascht.

»Aber wir könnten es der Hotelleitung sagen. Entführung ist schließlich ein Verbrechen.«

»Allerdings, doch das geht die Leute auch nichts an. Es ist ihnen egal, ob wir Gefangene, Ungeheuer oder Opfer sind. Ich habe es versucht.«

»Dann müssen wir fliehen, wenn wir wieder unterwegs sind«, sagte Vardia. »Ich habe schon eine Karte gesehen, in meinem Zimmer. Das nächste Hex grenzt an den Ozean.«

»Das wird nicht gehen. Erstens haben wir keine Vorstellung von den Kräften dieser Wesen aus dem Norden, und ich will sie auch nicht auf die Probe stellen. Zweitens kann Hain schneller fliegen und laufen als Sie, und beide sind wir nur ein mittelgroßer Bissen für sie. Nein, schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Außerdem stehen wir nicht schlecht da. Am Ende habe ich die eigentliche Kontrolle über uns alle, weil sie ohne das, was ich weiß, gar nichts tun können. Nein, ich glaube, wir gehen mit — bis Mitternacht am Schacht der Seelen«, fügte sie mit einem leisen Lachen hinzu.

»So lange werden wir hier wohl auch festgehalten«, sagte Vardia mürrisch.

»Dagegen können wir nichts tun. Erzählen Sie mir lieber etwas von sich, von Ihrer Geburtswelt. Sind Sie geboren worden oder ausgeschlüpft? Männlich oder weiblich?«

»Ich bin durch Kloning in Geburtsfabrik Zwölf auf Nueva Albion entstanden«, sagte sie. »Die ganze Fortpflanzung geschieht durch Klonen vom Zellgewebe der höchsten Persönlichkeiten in der Geschichte jeder Berufsgruppe. So sind alle Diplos auf oder von Nueva Albion von der Heiligen Vardia geklont, die während der Revolution vor mehreren Jahrhunderten die Verbindung zwischen der Befreiungsfront auf Coriolanus und den Heiligen Revolutionären auf dem reaktionären Nueva Albion aufrechterhielt. So trug ich ihre Gene, sah aus wie sie und leistete dieselbe Arbeit. Meine Nummer Zwölfeinundsechzig gab an, daß ich der einundsechzigste Vardia-Klon aus Geburtsfabrik Zwölf war.«

Skander spürte ein flaues Gefühl im Magen. Dahin ist die Menschheit also gekommen, dachte sie. Fast zwei Drittel der Menschen erniedrigt zu Klonen, zu Nummern — weniger menschlich als die Mechs dieser absurden Nation.

»Dann sind Sie also eine Frau gewesen«, sagte die Umiau, ohne sich anmerken zu lassen, was in ihrem Inneren vorging.

»Eigentlich nicht«, erwiderte Vardia. »Das Klonen macht Geschlechtsunterschiede unnötig, und Geschlecht bedeutet Sexismus, der Ungleichheit fördert. Je nach dem Klon-Typ wird die Entwicklung chemisch und chirurgisch aufgehalten. Alle Drüsen, Hormonproduktion und dergleichen werden entfernt, verändert oder auf Dauer neutralisiert, bei mir an meinem elften Geburtstag. Außerdem nimmt man Totaloperationen vor und Männer werden kastriert, so daß man nach dem Wendepunkt männlich und weiblich nicht mehr unterscheiden kann. Alle paar Jahre sollten wir einer Behandlung unterzogen werden, die den Alterungsprozeß aufhält und den Körper auffrischt, so daß man einen Fünfzigjährigen nicht von einem Fünfzehnjährigen unterscheiden konnte.«

Skander fühlte sich so deprimiert, daß ihr beinahe übel wurde. Ihr Götter! dachte sie. Ein kleiner, sorgfältig gezüchteter Kader von Supermännern und Superfrauen herrscht über eine Welt von Eunuchenkindern, die nur unbedingten Gehorsam kennen. Ich hatte recht, sie umzubringen. Solche Ungeheuer — und Gewalt über den Schacht. Undenkbar.

Sie dachte plötzlich an Varnett. Er war zwar nicht von einer so furchtbaren Welt wie Nueva Albion, aber die seine würde denselben Weg gehen. Varnett — genial, ein wahrhaft großer Geist, und doch kindisch, unreif, in tausenderlei Beziehung ebenso programmiert wie seine Vettern, die er verabscheute. Was für eine Welt, was für ein Universum, würde Varnett erschaffen?

Die Markovier hatten begriffen, dachte sie. Sie hatten alles gewußt.

Ich werde sie nicht verraten, schwor sie sich feierlich. Ich lasse nicht zu, daß jemand den großen Traum zerstört. Ich werde zuerst am Ziel sein. Dann werden sie es sehen. Ich vernichte sie alle.

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