Czill — Frühling

(Auftritt Vardia Diplo 1261, schlafend)

Sie war nie sicher, warum sie schließlich durch das Portal getreten war. Vielleicht, um das Unausweichliche hinzunehmen, vielleicht aus Gehorsam der Autorität gegenüber, wie es ihr eingetrichtert war.

Es gab Muster von Farben, hinein- und ablaufend, in einem rhythmischen, kosmischen Herzschlag pulsierend: Gelbtöne, Grün, Rot, Blau — Kaleidoskopstrukturen formend, begleitet von einem mechanisch hallenden, seltsam symphonischmonotonen Ton.

Dann war sie schlagartig wach.

Sie befand sich auf einer üppigen Savanne. Hohes grünes und goldenes Gras reichte bis zu niedrigen Hügeln in der Ferne. Einige Bäume, an Eukalyptusbäume erinnernd, standen auf der Ebene.

Sie entdeckte plötzlich, daß die Baumstämme sich bewegten. Sie bewegten sich in einem Synkopenrhythmus von höchst sonderbarer Art. Die Baumstämme waren in Wirklichkeit Beine, begriff sie, und es schien, als machten sie alle große Schritte, ohne aber von der Stelle zu kommen. Es sah aus wie ein Wettlauf in Zeitlupe. Das täuschte aber; die langsamere Bewegung war offenbar nur eine Illusion, und während sie zusah, legten einige in kürzester Zeit große Strecken zurück.

Sie schienen alle etwas zu tun zu haben oder ein Ziel erreichen zu wollen. Zweckbestimmtheit bedeutet eine Art von Zivilisation, und ich muß feststellen, wo ich bin und was das hier ist, bevor ich mich meinen eigenen Absichten zuwenden kann.

Sie ging auf die fernen Gestalten zu.

Und blieb plötzlich stehen, als sie von sich selbst etwas sah.

Sie blickte staunend an sich hinunter.

Sie war hellgrün, ihre Haut war von glatter, rankenartiger Beschaffenheit. Ihre Beine waren dick und doch lang und weich, ohne erkennbares Gelenk. Ihr Rumpf zeigte keine Spur von Brüsten oder Vaginalhöhle, und obwohl ihre Füße platte Sockel besaßen, schienen ihre Arme von derselben Art zu sein wie ihre Beine, nur dünner, auslaufend nicht in Hände, sondern Fühler. Ein zweiter, kürzerer Fühler wuchs aus dem Hauptarm, etwa zehn Zentimeter von seiner Spitze entfernt. Vielleicht ein Daumen?

Sie stellte fest, daß die gummiartigen Arme in beide Richtungen leicht zu bewegen waren, biegsam und ohne erkennbares Gelenk oder Knochen, und sie berührte ihren glatten Rücken. Auch kein After, stellte sie fest.

Sie fuhr mit dem Arm über ihr Gesicht. Ein breiter Schlitz war ohne Zweifel der Mund, aber er öffnete sich nur einen winzigen Spalt. Die Nase schien ein einzelnes festes, hartes Loch über dem Mund zu sein. Oben wuchs aus ihrem Kopf etwas Dünnes, Hartes, ungefähr von der Größe eines Mörtelbretts, wenngleich von unregelmäßiger Form.

Was ist aus mir geworden? fragte sie sich angstvoll. Sie versuchte, sich in die Gewalt zu bekommen. Tiefes Einatmen half immer, aber sie stellte fest, daß sie nicht einmal das konnte. Sie atmete, gewiß, das spürte sie — aber dieses Nasenloch nahm nur einen ganz winzigen Teil der Luft auf.

Sie begriff, daß es in erster Linie ein empfindliches Geruchsorgan war; sie atmete mit unwillkürlichen Muskelzusammenziehungen durch die Poren in ihrer glatten, grünen Haut.

Nach einer Weile schien ihre Panik sich zu legen, und sie dachte nach. Die fernen Gestalten gingen immer noch ihrer Tätigkeit nach. Sie schien sich auf einer Art Straße zu befinden.

Wie auch immer, sie mußte zu diesen Wesen und herausfinden, was vorging. Sie machte sich auf den Weg und entdeckte überrascht, daß sie die Entfernung — fast ein Kilometer durch das hohe Gras — in viel kürzerer Zeit zurücklegte, als sie erwartet hatte.

Es war eine Straße, sah sie — eigentlich ein unbefestigter Weg, aber breit und aus rötlich-brauner Scholle.

Die Wesen, die ihn benutzten, beachteten sie nicht im geringsten, aber sie studierte sie eindringlich. Sie waren wie sie selbst, das wußte sie. Was sie aus der Selbstbetrachtung nicht entnehmen konnte, wurde jetzt deutlich: zwei große, runde, gelbe Augen mit schwarzen Pupillen, offenbar ohne Lider.

Was aus ihrem Kopf wuchs, erwies sich als ein einzelnes großes Blatt von unregelmäßigen Umrissen — keine zwei waren gleich. Der Stengel war dick und sehr kurz, die Farbe von viel dunklerem Grün als der Leib, und von beinahe wächsernem Aussehen.

Sie ging auf der Straße weiter zu den Hügeln. Der Weg war bei weitem nicht so überfüllt, wie sie angenommen hatte, aber mindestens ein Dutzend Leute — Leute? — befand sich vor ihr. Sie holte ein Paar ein und entdeckte plötzlich, daß es sich unterhielt. Die Laute klangen melodisch, und sie nahm wahr, daß sie beinahe verstehen konnte, was gesagt wurde. Als sie auf drei oder vier Meter herankam, verlangsamte sie den Schritt und wurde sich bewußt, daß sie den seltsamen flüsternden Singsang wirklich verstand.

»…hat sich auf das bla'ahaliagische Geisterschicht-Zeug eingelassen und läßt jetzt nicht einmal mehr mit sich reden. Wenn der Selige Ältere mit dem Quatsch nicht bald aufhört, lasse ich mich zur Katalogabteilung versetzen.«

»Hmmmm… Langweilige Sache, aber ich kann Sie verstehen«, sagte der andere mitfühlend. »Grindel ist unter Mudiul in ein ausgefallenes, primitives Spiel geraten, das ein Zugang uns vor ungefähr dreihundert Jahren mitgebracht hat. Nach den ersten Zügen scheint es nahezu unendliche Möglichkeiten zu geben, und dann gab es ein Projekt, es einem Computer beizubringen. War nicht zu schaffen. Unheimliches Zeug. Grindel wäre beinahe zu den Meditationen gegangen und verrottet.«

»Wie hat der Werte sich herausgewunden?«fragte der erste.

»Mudiul erwischte einen Virus, und der Ältere mußte neun Jahre in Quarantäne«, gluckste der andere. »Bis der Werte zurückkam, hatte der Ausschuß das Projekt eingestellt und das Personal umverteilt. Die Alte stieg darauf ein, ob Felsen Seelen haben, und das sollte den Werten unschädlich machen, bis die Fäule den Werten erwischt.«

Sie unterhielten sich noch geraume Zeit, und für Vardia klärte sich damit nicht viel. Sie stellte fest, daß die beiden als einzigen Schmuck Goldketten um ihre Hälse trugen, aber was daran befestigt war, konnte sie nicht erkennen, ohne besonders aufzufallen.

Sie gingen nun schon einige Zeit dahin, und sie erkannte einige andere Dinge. Erstens schienen die Bewohner in Gemeinschaften zu leben. Sie kam hier und dort an Gruppen vorbei, zwischen drei oder vier bis zu mehreren Dutzend. Von Gebäuden war aber nichts zu sehen. Die Gruppierungen schienen wie Lagerkreise zu sein, nur ohne Feuer. Ab und zu sah sie in der Mitte der Gruppen ganz kurz rätselhafte Gebilde, aber nichts, was groß genug gewesen wäre, um hervorzuragen. Manche Gruppen schienen zu singen, andere zu tanzen, während wieder andere lebhafte Unterhaltungen von so komplizierter und esoterischer Art führten, daß ein einziges melodisches Plappern daraus wurde.

Außerdem spürte sie, wie ihr plötzlich auffiel, weder Müdigkeit noch Hunger. Eine gute Sache, dachte sie, denn sie wußte nicht, was diese Leute aßen.

Sie blieb an der Kreuzung des Hauptweges und einer Zugangsstraße zum See stehen und blockierte halb den Durchgang. Jemand kam hinter ihr heran und zwängte sich an ihr vorbei.

»Verzeihung«, sagte sie automatisch und trat zur Seite.

»Schon gut«, erwiderte der andere und ging weiter.

Es dauerte fast eine volle Minute, bis sie begriff, daß sie gesprochen hatte und verstanden worden war.

Sie eilte dem Wesen nach, das schon einen weiten Vorsprung hatte.

»Warten Sie! Bitte!«rief sie ihm nach. »Ich brauche Ihre Hilfe!«

Der andere blieb stehen und drehte sich um.

»Was gibt es denn?«fragte das Wesen, als sie herankam.

»Ich — ich finde mich nicht zurecht«, stieß sie hervor. »Ich bin gerade — gerade einer von euch geworden und weiß nicht, wo ich bin oder was ich tun soll.«

Der andere begriff plötzlich.

»Ein Neuzugang? Na, so etwas! Wir haben in meinem ganzen Leben keinen Neuzugang in Czill gehabt. Aber natürlich sind Sie durcheinander. Kommen Sie, Sie schlafen heute nacht mit uns, und wir erzählen Ihnen von unserem Ursprung und von Czill«, sagte er eifrig, wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. »Kommen Sie.«

Sie folgte dem Wesen zum Hain hinunter. Es beeilte sich und versammelte seine Genossen, so schnell es konnte, erregt berichtend, daß sie einen Neuzugang in Riverbend hatten, wie das Lager offenbar hieß.

Vardia nahm die ganze Aufmerksamkeit nervös hin, noch immer verlegen und unsicher.

Sie umdrängten sie und stellten hundert Fragen gleichzeitig, bis schließlich eine besonders kräftige Stimme Ruhe forderte.

»Immer langsam!«rief das Wesen gestikulierend. »Seht ihr denn nicht, daß das arme Ding zu Tode verängstigt ist? Wäret ihr das nicht auch, wenn ihr heute nacht schlafen und als, sagen wir, Pia erwachen würdet?«Es wandte sich Vardia zu und fragte sie ruhig:»Wie lange sind Sie schon in Czill?«

»Ich — ich bin eben angekommen«, erwiderte sie. »Sie sind die ersten Personen, mit denen ich spreche. Ich war nicht einmal — nun, ich wußte nicht einmal genau, wie

»Tja, Sie sind an den schlimmsten Haufen von Schwätzern geraten«, sagte das Wesen mit der lauten Stimme belustigt. »Ich bin Brouder und will gar nicht versuchen, alle anderen hier vorzustellen. Wir werden ohnehin eine immer größere Menge anziehen, wenn sich das herumspricht.«

Es war interessant, dachte sie, daß ein derart unheimliches Pfeifen und Schnalzen sich in ihrem Gehirn augenblicklich in die Entsprechungen der Konföderations-Sprache übersetzte. Das Wesen hieß natürlich nicht Brouder — es war ein kurzer Pfiff, fünf Schnalzlaute, ein langer Pfiff und eine Reihe verklingender Schnalzlaute. Aber das war, was sich ihr als ›Brouder‹ darstellte, und es schien auch umgekehrt zu funktionieren.

»Ich bin Vardia Diplo Zwölf-Einundsechzig«, sagte sie, »von Nueva Albion.«

»Ein Kom-Welt-Bewohner!«rief jemand. »Kein Wunder, daß er hier gelandet ist!«

»Achten Sie nicht darauf, Vardia«, sagte Brouder. »Sie wollen nur zeigen, wie gebildet sie sind.«

»Was haben Sie gemacht, bevor Sie hierherkamen?«fragte jemand.

»Mein Beruf?«sagte Vardia. »Ich war diplomatischer Kurier zwischen Nueva Albion und Coriolanus.«

»Seht ihr?«schnob Brouder. »Gebildet!«

»Ich wette trotzdem, daß der Eleve nicht lesen kann!«rief der andere aus der Menge.

»Vergessen Sie das«, sagte Brouder und schwenkte seinen Fühler. »Wir sind in Wirklichkeit eine freundliche Gruppe. Ich war — ist etwas?«fragte er plötzlich.

»Mir wird schwindlig«, sagte sie, als Boden und Umstehende plötzlich schwankten. Sie griff hin, um sich an Brouder festzuhalten. »Merkwürdig«, murmelte sie. »So plötzlich.«

»Das kommt vor«, erwiderte Brouder. »Ich hätte daran denken sollen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen hinunter zum Wasser.«Er führte sie hinunter zum brodelnden Wasser, das eine seltsam beruhigende Wirkung auf sie ausübte. Er trat mit ihr ins Wasser. »Bleiben Sie hier ein paar Minuten stehen«, sagte der Czillaner. »Kommen Sie herauf, wenn Sie sich besser fühlen.«

Automatisch schoben sich kleine Ranken aus Öffnungen in ihren Füßen und bohrten sich in das seichte Flußbett. Sie sog durch sie das kühle Wasser in sich hinein, und das Schwindelgefühl und die Schwäche vergingen.

Sie sah zum Ufer hinauf und bemerkte, daß alle sie beobachteten, eine Reihe von fünfzehn oder zwanzig hellgrünen, geschlechtslosen Wesen mit starrenden Augen und schwankenden Blättern auf den Köpfen. Sie fühlte sich auf einmal wieder ausgezeichnet, zog ihre dünnen Ranken wieder ein und ging steif hinauf.

»Besser?«sagte Brouder. »Es war dumm von uns — Sie können natürlich nicht viel Wasser in sich gehabt haben. Sie sind der erste Neuzugang seit langer Zeit, und für uns der erste überhaupt. Bitte, sagen Sie es uns, wenn Sie sich auf irgendeine Weise merkwürdig oder schlecht fühlen. Wir unterstellen einfach so viel.«

Die Sorge in seiner Stimme klang echt, und sie fand Trost darin. Alle hatten besorgt gewirkt, als sie aus dem Fluß heraufgekommen war.

Sie fühlte sich wirklich unter Freunden.

»Ich muß ein paar Fragen stellen«, sagte sie. »Was bin ich eigentlich? Das heißt, was sind wir?«

»Ich bin Gringer«, sagte ein anderer und trat heran. »Vielleicht kann ich das beantworten. Sie sind ein Czillaner. Das Land wird Czill genannt, und obwohl das eigentlich nichts erklärt, haben Sie wenigstens einen Namen.«

»Und was bedeutet er?«

»Eigentlich nichts. Die meisten Namen bedeuten heute nichts mehr. Früher war das sicher anders, aber niemand weiß mehr davon. Jedenfalls sind wir in dieser Gegend ungewöhnlich, weil wir Pflanzen sind, statt irgendwelche Tiere. Auf der Schacht-Welt gibt es noch andere intelligente Pflanzenwesen, elf hier im Süden, neun im Norden, obwohl ich nicht sicher bin, daß das wirklich Pflanzen sind, in dem Sinne, wie wir sie verstehen. Wir sind auf jeden Fall hier entschieden in der Minderheit. Aber es hat auch große Vorteile, im Pflanzenreich angesiedelt zu sein.«

»Nämlich?«fragte sie fasziniert.

»Nun, wir sind nicht von irgendeiner Nahrung abhängig. Unsere Körper stellen sie her, indem sie Licht von der Sonne umwandeln, wie die meisten Pflanzen. Ein paar Stunden echte oder künstliche Sonne am Tag, und man kann nicht verhungern. Man braucht ein paar Minerale aus dem Boden, aber die gibt es fast überall auf der Welt, so daß man nahezu überall durchkommt. Das einzige wirkliche Bedürfnis ist Wasser, und das braucht man nur einmal alle paar Tage. Der Körper sagt einem, wann — wie vorhin bei Ihnen. Es gibt hier auch keinen Sex, nichts von den Urtrieben, durch die alle Tiere so neurotisch durcheinandergeraten.«

»Auf meinem Heimatplaneten ist dergleichen sehr gedämpft worden«, sagte sie. »Nach allem, was Sie sagen, ist es hier ganz ähnlich wie bei mir zu Hause. Aber wenn Ihr keine Geschlechter habt, pflanzt ihr euch dann auf künstliche Weise fort?«

Die Zuschauer lachten in sich hinein.

»Nein«, sagte Gringer, »alle Rassen auf dieser Welt sind autarke biologische Einheiten, die unter bestimmten Umweltbedingungen ohne jede Hilfe überleben könnten. Wir vermehren uns langsam, denn wir gehören zu den ältesten, langlebigsten Arten hier. Wenn etwas geschieht, das zusätzliche Bevölkerung erfordert, pflanzen wir uns für längere Zeit ein und bringen durch Teilung ein zweites Exemplar hervor. Das ist viel praktischer als der andere Weg, denn alles, was wir sind, entsteht, Zelle für Zelle, als Duplikat, so daß das neue Gewächs eine exakte Kopie ist, die sogar dieselben Erinnerungen und Persönlichkeiten enthält. Obwohl Sie in einigen Jahrhunderten verbraucht sind, werden Sie also ewig leben — denn die Exemplare sind völlig identisch, so daß selbst wir kaum sagen können, wer wer ist.«

Vardia schaute sich in der Gruppe um.

»Sind solche Zwillinge hier?«fragte sie.

»Nein. Wir neigen dazu, uns zu trennen, fern voneinander zu leben, bis die Jahre uns mit der Vielfalt der Erfahrungen zu verschiedenen Leuten machen. Wir leben in kleinen Lagern wie diesem, zusammengesetzt aus verschiedenen Berufen und Interessen, so daß die Lager eine breite Auswahl bieten und das Leben nicht zu langweilig wird.«

»Was arbeitet ihr?«fragte Vardia. »Ich meine, die meisten — äh, tierischen Zivilisationen betonen die Nahrungsproduktion, den Bau und die Erhaltung von Unterkünften, die Ausbildung der Jungen und die Fabrikation. Ihr scheint das alles nicht zu brauchen.«

»Das ist wahr«, bestätigte Brouder. »Deshalb können wir uns auch den Dingen zuwenden, für die andere Rassen nur einen Bruchteil ihrer verfügbaren Zeit aufbringen können.«

»Was meinen Sie damit?«

»Wir denken«, sagte Brouder.

»Brouder meint, daß wir auf fast allen Gebieten forschen«, erläuterte Gringer, als er ihren verständnislosen Blick sah. »Sie können uns als eine Riesenuniversität betrachten. Wir sammeln Wissen, sortieren es, spielen mit theoretischen und praktischen Problemen und tragen zur allgemeinen Erkenntnis bei. Wären Sie der Hauptstraße in der anderen Richtung gefolgt, hätten Sie das Zentrum erreicht, wo diejenigen von uns, welche Laboranlagen und technische Geräte brauchen, arbeiten, und wo sich Leute treffen, die ihre Feststellungen und Probleme miteinander besprechen.«

»Warum?«

»Warum was?«sagte Gringer verblüfft.

»Warum tut ihr das? Zu welchem Zweck?«

Das schien die anderen zu verstören, und es gab in der Gruppe erregte Diskussionen.

»Ich meine, welchem Ziel dient die ganze Forschung?«sagte Vardia. »Ihr scheint das Wissen nicht selbst anzuwenden, also für wen ist es gedacht?«

Gringer schien einem Anfall nahe zu sein.

»Aber die Suche nach Wissen ist das einzige, was intelligente Wesen von den primitivsten Gräsern oder den niedrigsten Tieren unterscheidet«, sagte der Czillaner ein wenig schrill.

»Was halten Sie denn für das Endziel der Zivilisation?«fragte Brouder herablassend. »Was ist das Ziel Ihres Volkes?«

»Nun, in Glück und Harmonie mit allen anderen für immer zusammenzuleben«, erwiderte Vardia mechanisch, wie sie es gelernt hatte.

Gringers lange Ranken verrieten Erregung. Er riß einen Halm von dem gelblichen Gras aus dem Boden und hielt ihn ihr hin.

»Dieser Grashalm ist glücklich«, sagte er entschieden. »Er erhält, was er braucht, um zu überleben. Er denkt nicht und braucht nicht zu denken. Er bleibt glücklich, obwohl ich ihn ausgerissen habe und er sterben wird. Er weiß es nicht und wird es nicht einmal wissen, wenn er tot ist. Seine Verwandten dort draußen auf den Ebenen sind genauso. Auf sie paßt Ihre Definition vom höchsten Ziel der zivilisierten Gesellschaft. Er weiß nichts, und in seiner völligen Unwissenheit liegt seine völlige Perfektion und seine Harmonie mit seiner Umgebung. Sollen wir also einen Weg schaffen, daß alle intelligenten Wesen in Grashalme verwandelt werden? Werden wir dann den Gipfel der Evolution erreicht haben?«

Vardias Gedanken gingen wild durcheinander. Diese Art von Logik und diese Fragen lagen außerhalb ihrer Erfahrung und ihrer geordneten, programmierten Welt. Sie wußte keine Antwort auf diese — Ketzereien.

»Ich will zurück in meine eigene Welt«, jammerte sie plötzlich.

Brouders Miene wirkte traurig, und Mitleid erfaßte die Versammlung, Mitleid nicht nur angesichts Vardias weltanschaulichen Dilemmas, sondern auch für ihresgleichen, für Milliarden, die blindlings einem solchen Ziel entgegenstrebten.

»Alle anderen Fragen und Probleme haben Zeit«, sagte Brouder, legte eine Ranke um die ihre und zog sie in den rötlich-braunen, aufgeworfenen Boden des Lagers. »Es wird dunkel, und Sie müssen sich ausruhen. Außer im künstlichen Licht des Zentrums sind wir in Dunkelheit nicht aktiv. Wir brauchen das Verwurzeln, um gesund und beweglich zu bleiben. Wir gewinnen Mineralien und Stärke daraus, und auch für die geistige Gesundheit ist es wichtig.«

»Und wie — verwurzle ich mich?«fragte sie.

»Suchen Sie sich einfach einen Platz nicht allzunah bei den anderen aus, und warten Sie auf die Dunkelheit. Sie werden sehen.«Der Czillaner zeigte ihr eine gute Stelle, dann entfernte er sich fünf lange Schritte von ihr.

Vardia stand eine Weile da und betrachtete die Gemeinschaft im Halbdunkel. Sie entdeckte, daß sie Sehschwierigkeiten bekam, obwohl ihre Augen offen blieben. Alles sah sehr dunkel aus, als blicke sie durch einen stark unterbelichteten Film. Dann spürte sie, wie die zahllosen kleinen Ranken in ihren Füßen auf ein automatisches Signal hin hinausdrangen und sich tief in den lockeren Boden bohrten. Müdigkeit und Kälte schienen zu verschwinden, und sie spürte, wie Wärme in ihr hochstieg. Alle Zellen ihres neuen Körpers schienen zu prickeln, und sie wurde erfaßt von einem orgasmischen Gefühl höchster Lust, das alles Denken auslöschte.

Im ganzen Hex von Czill verwurzelten sich alle, die nicht im Zentrum arbeiteten. Für einen fremden Beobachter wäre das Land gesprenkelt gewesen mit über einer Million hoher, dicker Stämme, die so regungslos waren wie die Bäume.

Und doch war die Landschaft nicht ohne Bewegung. Millionen von Nachtinsekten stimmten einen Chor an, und verschiedene kleine Säugetiere huschten auf der Suche nach Nahrung herum und wühlten dabei den Boden auf, lüfteten ihn und düngten ihn. Sie lieferten die Kohlendioxid-aus-Sauerstoff-Umwandlung, die zum atmosphärischen Gleichgewicht in diesem Hex nötig war. Die wimmelnden Legionen des Lebens existierten mit den Tageslicht-Czillanern in vollkommener Übereinstimmung. Sie lebten unter den Tausenden von Sternen am Nachthimmel, die das schlafende Pflanzen-Volk nicht sehen konnte.

Da Vardias Augen lidlos waren, sah sie das Erwachen, während sie es erlebte. Es war seltsam, aus diesem unendlich angenehmen Schlaf aufzutauchen und den Morgen hell werden zu sehen. Mehrere von den anderen standen in ihrem Gesichtsfeld, und sie sah, daß die Schlafhaltung eine sehr starre war. Das Entwurzeln hing offenbar davon ab, daß die Sonnenstrahlen auf das einzelne Blatt auf dem Kopf fielen, so daß man um so später erwachte, je länger es dauerte, bis man von der Sonne erreicht wurde. Sie konnte sich plötzlich wieder bewegen.

Brouder kam auf sie zu.

»Nun? Fühlen Sie sich wohler?«fragte er.

»Ja, sehr«, erwiderte sie, und so war es auch. Zum erstenmal fiel ihr auf, daß Brouder eine Halskette wie jene beiden trug, die sie gestern gesehen hatte. Sie betrachtete den winzigen Gegenstand daran genauer.

Es war eine Digitaluhr.

Brouder sah ihren Blick und nickte.

»Wir sind früh dran«, sagte er und fügte verlegen hinzu:»Das sage ich immer, obwohl wir immer zur selben Zeit aufwachen.«

»Warum dann eine Uhr? Es ist doch eine, oder?«

»O ja. Ich brauche sie, damit sie mir Zeit und Datum für die Begegnungen im Zentrum angibt. In der letzten Zeit geht es hektisch zu, und ich habe immer Angst, daß ich festsitze und nachts nicht heimkommen kann.«

»Woran arbeiten Sie?«fragte sie.

»An einem sehr seltsamen Projekt, selbst für diesen Ort. Wir versuchen, ein vermutlich unlösbares Rätsel zu lösen, das überall auf dieser Welt vorkommt. Viele befassen sich damit, aber die meisten glauben, daß es nicht zu lösen ist.«

»Warum dann die Mühe?«

»Weil auch andere daran arbeiten, obwohl wir am besten dafür ausgerüstet sind. Wenn irgendeine Aussicht auf Lösbarkeit besteht, wird das höchste Wissen uns gehören. In den Händen anderer könnte es das Überleben von uns allen bedrohen.«

Vardia drängte ihn, ihr weitere Einzelheiten zu verraten, aber der Czillaner vertröstete sie auf einen anderen Zeitpunkt.

»Ich gehe jetzt zum Zentrum«, sagte er. »Sie sollten mitkommen. Da sehen Sie nicht nur etwas von unserem Land — das jetzt auch das Ihre ist —, sondern Sie können auch nur im Zentrum getestet und eingeteilt werden.«

Sie machten sich auf den Weg, und Brouder nannte ihr einige Daten. »Czill hat einen Durchmesser von sechshundertvierzehnkommasechsundachtzig Kilometern, wie jedes andere Hex auf der Welt, mit Ausnahme der Äquator-Hexagons. Wir haben natürlich sechs Nachbarn, zwei davon Meeresgattungen. Unsere sieben großen Flüsse werden durch Hunderte von kleinen Wasserläufen wie dem an unserem Lager gespeist. Die Flüsse wiederum ergießen sich in einen großen Ozean — einen von drein im Süden —, der fast hundert Hexagons bedeckt. Der unsere ist der Overdark-Ozean. Einer der Meeresbewohner ist ein Meeres-Säugetier, halb humanoid, halb Fisch. Sie atmen Luft, leben aber die meiste Zeit unter Wasser. Sie heißen Umiau, und es kann sein, daß Sie im Zentrum einigen davon begegnen. Wir arbeiten immer bei einigen Projekten zusammen, vor allem bei ozeanographischen Untersuchungen, da wir ihre Welt außer in Druckanzügen nicht besuchen können. Die andere Meeresgattung ist eine üble Gruppe mit dem Namen Pia — bösartige Typen mit großen Gehirnen und humanoiden Augen. Sie besitzen aber zehn Tentakel mit schleimigen Haftsaugnäpfen und einem klaffenden Mund mit ungefähr zwanzig Zahnreihen. Man kann eigentlich kaum mit ihnen reden, obwohl sie sehr intelligent sind. Sie neigen dazu, jeden zu fressen, der nicht von ihrer Rasse ist.«

Vardia schauderte.

»Und warum fressen sie die Umiau nicht?«fragte sie.

»Das würden sie tun, wenn sie könnten, aber wie bei allen Sechsecken in der Nähe von feindseligen Arten auf der Welt hier sind in das System natürliche Schranken eingebaut. Das Land der Umiau befindet sich nah der Mündung von drei Flüssen, und der niedrige Salzgehalt behagt den Pia nicht. Außerdem besitzen die Umiau gewisse natürliche Abwehrmethoden und können schneller schwimmen. Zur Zeit besteht ohnehin ein unsicherer Waffenstillstand, weil die Umiau Pia auch fressen können und es tun, ohne auf diesem Gebiet fanatisch zu sein.«

Sie erreichten eine große Weggabelung, an der Brouder sagte:»Wir gehen nach links. Nehmen Sie nie den rechten Weg — er führt zu den Lagern der Kranken und Isolierten.«

»Was für Krankheiten?«fragte sie unsicher.

»Ungefähr dieselbe Zahl wie sonst überall auch. Aber jedesmal, wenn wir einen Immunstoff finden, gibt es bei den Viren eine neue Mutation. Ich würde mir aber keine Sorgen machen. Die durchschnittliche Lebensspanne auf Czill ist über zweihundertfünfzig Jahre, und wenn nichts Ernstes geschieht, um das zu ändern, werden Sie sich ohnehin ein paarmal verdoppeln. Die Bevölkerung beträgt stabile eineinhalb Millionen — überfüllt, aber nicht so sehr, daß es nicht leere Flächen und Lagerplätze gäbe. Tod und Geburt gleichen sich beinahe aus — das Hauptgehirn des Planeten sorgt dafür. Da wir außerdem nicht wirklich altern, wie die anderen Wesen, und da wir die meisten unserer Teile erneuern können, gibt es natürlich einen stetigen Todesfaktor, um die Bevölkerung in Grenzen zu halten. Das Hauptgehirn greift nur in kritischen Situationen ein.«

»Erneuern?«sagte Vardia erstaunt. »Heißt das, ein Arm oder ein Bein, das ich verliere, wächst nach?«

»Genau das«, bestätigte Brouder. »In jeder Zelle Ihres Körpers ist die ganze Struktur enthalten. Da die Atmung direkt durch die Poren erfolgt, kommt alles wieder, solange das Gehirn intakt ist. Es ist schmerzhaft — und wir kennen kaum Schmerz —, aber möglich.«

»Ich brauche also nur meinen Kopf zu schützen«, meinte sie.

Brouder lachte schrill.

»Nein, nicht den Kopf, gewiß nicht. Beide Füße«, sagte er und wies auf ihre seltsamen Füße, die aussahen wie umgestülpte Schüsseln mit schwammigen Deckeln als Sohlen.

»Soll das heißen, daß ich auf meinen Gehirnen laufe?«fragte sie fassungslos.

»So ist es. Jedes steuert die Hälfte Ihres Körpers, aber jedes einzelne besitzt den ganzen Umfang dessen, was der Körper zuführt, einschließlich Denken und Erinnerung. Wenn wir Sie unten am Stengel abhackten, würden Ihre beiden Füße sich in den Boden graben und Sie jeweils neu hervorbringen. Ihr Kopf enthält nur Nervenschaltungen für Sinneseingaben — er ist vorwiegend hohl. Wenn man ihn abschnitte, würden Sie nur einschlafen und sich eingraben, bis ein neuer gewachsen wäre.«Er blickte nach vorn. »Und da ist das Zentrum.«

Es war ein riesiges Gebäude, das sich kilometerweit am Horizont auszudehnen schien. In der Mitte gab es eine große Kugel, die wie ein Spiegel glänzte, dann mehrere Arme — es waren sechs, wie sie belustigt feststellte —, offenbar aus durchsichtigem Glas, die sich symmetrisch ausdehnten. Sie sah Wolkenkratzer aus demselben Material um die Kugel und an den Enden der Arme aufragen.

»Unfaßbar!«stieß sie hervor.

»Mehr, als Sie ahnen können«, erwiderte Brouder stolz. »Dort lösen unsere besten Gehirne Probleme und speichern das Wissen, das wir erlangen. Die silbernen Schienen, die sich durch Wände und Decken ziehen, sind künstliches Sonnenlicht, das uns nachts wachhält und ernährt, und am Horizont sehen Sie den Fluß Averil. Das Zentrum ist über ihm erbaut, so daß wir stets mit Wasser versorgt sind. Mit Licht und Wasser und einigen Vitaminbädern kann man sieben bis zehn Tage rund um die Uhr arbeiten, aber früher oder später bekommt man es zu spüren, und je länger man wach bleibt, desto länger muß man sich dann eingraben.«

»Haben Sie hier eine Bibliothek?«

»Die beste. Sie besitzt alles, was wir haben sammeln können, von unseren Studien auf diesem Planeten und von Neuzugängen wie Ihnen, die Geschichten, Soziologie und sogar technische Informationen beisteuern.«

»Auch Geschichten?«fragte sie.

»O ja«, erwiderte er. »Legenden, Märchen, was immer. Die Umiau sind da besonders fruchtbar. Sie kommen durch den Fluß zum Zentrum.«

»Und was hält dann die Pia fern?«

»Sie vertragen Süßwasser nicht und würden es atmen müssen. Die Umiau sind Säugetiere, so daß ihnen die Art des Wassers gleichgültig ist.«

Im Zentrum wurde sie einem Gelehrten vorgestellt, der Mudriel hieß. Er war Industriepsychologe, und im Lauf der nächsten Tage — es wurden sogar Wochen — war Vardia mit Gesprächen, Tests und anderen Experimenten beschäftigt. Außerdem brachte man ihr die Czill-Sprache bei, die sie immer besser zu beherrschen begann.

Vardia schien die einzige Person zu sein, mit der Mudriel sich beschäftigte, und sie sprach ihn darauf an.

»Sie sind in unserer Lebenszeit der erste Neuzugang«, sagte er. »Manchmal bringen wir Neuzugänge aus anderen Sechsecken her, um sie zu informieren. Wenn das nicht möglich ist, gehe ich hin. Ich gehöre zu den vielleicht tausend Personen, mehr sind es nicht, die auf der nördlichen Halbkugel gewesen sind.«

»Wie ist es dort?«fragte sie. »Es soll ganz anders sein.«

»Das ist der richtige Ausdruck«, sage Mudriel. »Aber auf unserer Hälfte gibt es fast genauso schlimme Arten. Haben Sie sich vorgestellt, wie das ist, mit einem Pia in seiner eigenen Umwelt zu sprechen, wenn er einem helfen und einen gleichzeitig verschlingen will? Ich habe das schon getan.«

»Und doch überlebt«, sagte sie bewundernd.

»Nicht immer. Ich war einmal auf meine Füße reduziert, drei- oder viermal praktisch wochenlang kaputt, und bin zweimal umgebracht worden.«

»Umgebracht!«rief Vardia. »Aber —«

»Ich habe mich viermal natürlich verdoppelt«, erklärte Mudriel achselzuckend, »und einmal, als ich nur noch meine Gehirne hatte. Es gibt immer noch vier von mir. Wir bleiben im gleichen Beruf und wechseln uns auf den Reisen ab, um das Risiko zu verkleinern.«

Eines Tages rief Mudriel sie in sein Büro und blätterte in einer überaus dicken Akte. »Es wird Zeit, Sie einzuteilen«, sagte er. »Sie sind nun lange genug hier. Wir kennen Sie schon fast besser als jeden anderen Czillaner. Ich muß Ihnen sagen, Sie waren ein wunderbarer Prüfling, aber ein verwirrender.«

»In welcher Beziehung?«

»Sie haben sich normalisiert«, sagte Mudriel. »Inzwischen fühlen Sie, als wären Sie geboren wie einer von uns, und Ihre Vergangenheit und alles, was damit zusammenhängt, ist eine rein intellektuelle Erinnerungserfahrung.«

»Das ist wahr. Mir kommt es manchmal vor, als sei meine ganze Vergangenheit einer anderen Person geschehen.«

»Das gilt für alle Neuzugänge.«

»Was verwirrt Sie dann an mir?«

»Ihr Mangel an Fähigkeiten«, sagte der Psychologe. »Jeder kann irgend etwas. Sie sind offenbar zu hoher Intelligenz gefördert worden, wissen aber nichts. Sie könnten Botschaften und Gespräche mühelos übermitteln, aber nichts anderes. Das verblüfft uns. Sie waren praktisch eine menschliche Aufzeichnungsmaschine. Man hat außerordentlich tiefreichende Programmierungen vorgenommen, um sicherzustellen, daß Sie Ihre außerordentlich hohe Intelligenz nie nutzen. Über allem lag die Person Vardia Diplo Zwölf-Einundsechzig, eine Zahl, deren Bedeutung mir zuwider ist. Das hat Sie neugierig gemacht, aber nur an der Oberfläche. Keine der Informationen konnte Sie veranlassen, zu handeln, Sie verspürten den Wunsch dazu gar nicht. Sie haben jetzt deutliche Erinnerungen an Captain Brazil und die anderen Passagiere, und an Dalgonia. Die hätten Sie nicht, wenn Sie nach Coriolanus gekommen wären und man nach dem Abfragen der Botschaft Ihre Erinnerung wieder gelöscht hätte. Was wissen Sie noch von Ihrem Leben, bevor Sie auf Brazils Schiff gingen?«

Vardia dachte nach. Sie erinnerte sich an den Abschied vom Personal des Politischen Büros, an die Fahrt zum Raumflughafen, an das Besteigen der Fähre. Davor an nichts.

»Ich ahnte gar nicht —«, begann sie.

»Ich weiß. Das gehört zum Tiefenprogramm. Aber keine Sorge, das haben wir entfernt. Sie bleiben Sie selbst. Wollen Sie hören, was für eine Nachricht Sie überbringen sollten?«

Vardia nickte dumpf. Der Psychologe steckte einen winzigen durchscheinenden Würfel in einen kleinen Recorder.

Vardia hörte plötzlich ihre alte Stimme sagen:»Das Kommissariat stellt Sie Datham Hain vor, der mit einer Begleiterin dasselbe Schiff wie der Kurier benutzte. Bürger Hain ist in einer Mission von lebenswichtiger Bedeutung für das Kommissariat unterwegs und ersucht um Termine für Arbeitsessen mit mehreren Mitgliedern des Präsidiums von Coriolanus. Sie haben seinen Anweisungen ohne Fragen oder Zögern zu folgen. Behalten Sie den Kurier, bis mindestens ein solches Zusammentreffen vereinbart ist, dann programmieren Sie ihn um, um über dieses Treffen zu berichten, in Hains Gegenwart und mit seiner Zustimmung. Aller Ruhm der Volksrevolution, aller Ruhm ihren Propheten.«

Vardia sah ihn betäubt an.

»Wollen Sie sich verwurzeln und in Ruhe nachdenken?«fragte der Psychologe leise.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, flüsterte sie, »ich — ich schaffe es schon.«

»Ich weiß«, sagte er beruhigend. »Es ist schrecklich, die Lüge in seinem Leben zu finden. Das ist ein Grund, warum wir uns hier der Aufdeckung der Wahrheit widmen. Es gibt auf dieser Welt ebenso schlimme Gesellschaften und Personen, vielleicht noch schlimmere. Hain ist hier irgendwo und hat sich vielleicht schon mit Bösewichten zusammengetan. Solche Gesellschaften sind die Feinde aller Zivilisation, und gegen sie führen wir Krieg. Wollen Sie sich dem Kampf anschließen?«

Vardia schwieg kurze Zeit, dann sagte sie entschieden und scharf:»Ja.«

Der Psychologe lächelte und drückte einen Stempel auf die Akte. Vardia Diplo 1261 gab es nicht mehr.

Vardia, die Czillanerin, verließ das Büro.

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