Ivrom

»Daß ihr alle in das zurückverwandelt worden seid, was wir als menschlich ansehen, hat ausgesprochene Nachteile«, beklagte sich Nathan Brazil, immer noch ein riesengroßer Hirsch, als sie den Strand hinaufgingen. Er schleppte das Gepäck, weil von den anderen keiner mehr die schwere Last tragen konnte.

»Du glaubst, du hast Probleme«, gab Wu Julee zurück. »Wir sind alle splitternackt, und von der Kleidung im Gepäck paßt nichts mehr.«

»Ganz zu schweigen von Hunger, Schmerz und Kälte«, warf Vardia ein. »Ich hatte diese Empfindungen alle vergessen und mag sie nicht. Als Czillanerin war ich glücklicher.«

»Aber wie ist das möglich?«fragte Wuju. »Ich meine, wie können Dinge, die das markovische Gehirn bewirkt hat, ungeschehen gemacht werden?«

»Warum fragst du Varnett nicht?«schlug Brazil vor. »Er hat das alles in Gang gebracht.«

»Ihr beklagt euch alle über Nebensächlichkeiten«, sagte Varnett mürrisch. »Ich konnte fliegen. Und bevor ich mich daran machte, Sie einzufangen, Brazil, habe ich Sex erlebt, zum erstenmal in meinem Leben. Jetzt stecke ich wieder in dem zurückgebliebenen Körper.«

»So zurückgeblieben ist er gar nicht«, erwiderte Brazil. »Sie sind chemisch zum Stillstand gebracht worden, aber das ist jetzt alles verschwunden, wie Wujus Schwamm-Sucht. In ein paar Jahren müßten Sie normal heranreifen. Und Sie sehen auch gut aus später, wenn ich mich recht entsinne, weil Sie nach Ian Varnett gebildet sind. Ich erinnere mich, daß er ein großer Schürzenjäger war.«

»Sie haben Ian Varnett gekannt?« stieß der Junge hervor. »Aber — er ist doch schon sechshundert Jahre tot!«

»Ich weiß«, sagte Brazil. »Es hat ihn bei dem großen Experiment auf Mavrischnu erwischt. Schade darum. Sie wissen es, Varnett — ich habe Ihre Zone-Interviews gesehen.«Während sie den Strand entlangliefen, unbehindert von allen Barrieren, wie die Schwarmkönigin es versprochen hatte, unterhielten sie sich weiter. »Wieviel wissen Sie wirklich, Varnett?«fragte Brazil. »Über all das hier, meine ich.«

»Als ich im Computerspeicher die Zellprobe des dalgonischen Gehirns sah, erkannte ich die mathematische Beziehung der Folge und Anordnung der Energieimpulse«, sagte der Junge. »Es dauerte ungefähr drei Stunden, die Folge zu erarbeiten, und noch ein, zwei mehr, sie mit den Computern festzulegen. Ich brauchte das Ding nur zu sehen, um zu wissen, daß die Energiewellenformen keine Ähnlichkeit mit dem besaßen, was wir kannten. Ich kombinierte das, was ich sah, mit unseren Vermutungen darüber, warum die Markovier keine Artefakte hinterließen. Das Planetengehirn erschuf alles, was man brauchte, speicherte alles, was man wollte. Damit wußte ich, was vorging, wenn ich auch immer noch nicht begreife, wie es sich abspielt.«

»Sie meinen, es war wie bei dem Zauber hier?«fragte Vardia beeindruckt. »Sie wünschten sich einfach etwas, und es war da?«

»So wirkt der Zauber hier«, bestätigte Varnett. »Ein solches Konzept ist nur möglich, wenn in Wahrheit nichts real ist. Alles, wir selbst, die Wälder, der Ozean, der Planet — selbst diese Sonne — sind nur Konstruktionen. Es gibt im Universum nichts als ein einziges Energiefeld; alles andere nimmt diese Energie, verwandelt sie in Materie oder andere Energieformen und hält sie stabil. Das ist die Wirklichkeit — die stabilisierte, verwandelte Primärenergie. Aber die so stabilisierten mathematischen Konstruktionen befinden sich in ständiger Spannung, wie eine zusammengedrückte Feder. Die Energie würde, wenn sie nicht daran gehindert werden würde, in ihren Naturzustand zurückkehren. Diese Wesen — die Schwärme — haben eine gewisse Kontrolle über diesen Prozeß. Nicht genug, um große Veränderungen herbeizuführen, aber genug, um die Gleichung ein wenig abzuwandeln, die Wirklichkeit zu variieren. Das ist Zauberei.«

»Ich verstehe nicht alles, aber die Grundidee scheint mir klar zu sein«, meinte Wuju. »Die Markovier waren Götter, sagen Sie, und konnten tun oder haben, was sie wollten.«

»So ungefähr. Die Götter waren real, und sie haben alle von uns geschaffen — oder zumindest die Bedingungen, unter denen wir uns entwickeln konnten.«

»Aber das wäre das Höchste, was der Geist erreichen kann«, sagte Vardia. »Warum sind sie ausgestorben, wenn das wahr ist?«

Wuju warf einen wissenden Blick auf Nathan Brazil, einmal der einzige Mensch in der Gruppe, jetzt der einzige Nicht-Mensch.

»Ich habe jemanden sagen hören, warum sie gestorben sind«, erklärte sie. »Als sie das Äußerste erreichten, wurde es dumpf und langweilig für sie. Sie schufen neue Welten, hier und dort neue Lebensformen — und alle verwandelten sich in diese neuen Formen, um von vorn anzufangen.«

»Was für eine schreckliche Idee«, sagte Vardia angewidert. »Wenn das zuträfe, hieße das, daß sogar die Vollkommenheit unvollkommen ist, und wenn jemand diese Gottähnlichkeit erreichte, würde er es unzulänglich finden und durch Selbstmord sterben, vielleicht eine neue Garnitur Primitive hinterlassen, damit alles wieder neu beginnt. Das verkleinert alle Revolutionen und Mühen, all den Schmerz, die großen Träume — alles — zu Unsinn. Es heißt, daß das Leben sinnlos ist.«

»Nicht sinnlos«, sagte Brazil plötzlich. »Es heißt nur, daß große Pläne sinnlos sind. Es heißt, daß man sein eigenes Leben nicht sinnlos oder nutzlos macht — die meisten tun es. Es würde keinen Unterschied machen, wenn neunundneunzig Prozent der Menschheit — oder irgendeiner anderen Rasse — lebten oder nicht. Abgesehen von der großen Zahl ist ihr Leben dumpf, vegetativ und unproduktiv. Sie träumen nie, lesen nie oder befassen sich nie mit den Gedanken anderer, erfahren nie die erfüllende Gleichung der Liebe — die nicht allein darin besteht, andere zu lieben, sondern auch darin, geliebt zu werden. Das ist der eigentliche Sinn des Lebens, Vardia. Die Markovier haben ihn nie gefunden. Seht euch diese Welt, unsere eigenen Welten an — alle spiegeln die markovische Unwirklichkeit, die auf dem äußersten materialistischen Utopia beruhte. Sie waren wie der Mann von unfaßbarem Reichtum, vielleicht mit einem eigenen Planeten, nach seinem Geschmack gestaltet, der trotzdem eines Morgens tot gefunden wurde, weil er sich die Kehle durchgeschnitten hatte. Alle seine Träume sind erfüllt worden, aber dann stand er allein ganz oben. Und um dorthin zu gelangen, mußte er sich von allem befreien, was wirklich Wert besaß. Er tötete seine Menschlichkeit, seine Geistigkeit. Oh, er konnte lieben — und kaufen, was er liebte. Aber er konnte nicht die Liebe kaufen, die er ersehnte, nur Dienste. Wie die Markovier stellte er, als er dorthin gelangt war, wo er sein ganzes Leben sein wollte, fest, daß er in Wahrheit gar nichts besaß.«

»Das weise ich zurück«, sagte Vardia scharf. »Der reiche Mann würde Selbstmord begehen, wegen der Schuld, die er empfand, weil er alles hatte, während andere hungerten, nicht aus einer Sehnsucht nach Liebe heraus. Das Wort ist ohne Sinn.«

»Wenn die Liebe sinnlos oder abstrakt ist oder mißverstanden wird, dann ist auch diese Person oder Rasse sinnlos«, erwiderte Brazu. »Damals in der Zeit der alten Erde gab es in einer Gruppe einen Spruch: ›Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und litte doch Schaden an seiner Seele?‹ Auch damals hörte keiner zu. Seltsam, an diese Gruppe habe ich lange nicht gedacht. Sie sagte, Gott sei die Liebe, und glaubte an einen Himmel gemeinschaftlicher Liebe und eine Hölle für jene, die nicht lieben konnten. Später geriet das mit anderen Dingen durcheinander, bis die Ideen verschwanden und nur die Artefakte blieben. Wie die Markovier achteten sie mehr auf Dinge als auf Ideen, und wie die Markovier starben sie dafür.«

»Aber die markovische Zivilisation war doch gewiß der Himmel«, meinte Vardia.

»Sie war die Hölle«, sagte Brazil. »Die Markovier bekamen alles, wovon ihre Vorfahren je geträumt hatten, und sie wußten, daß es nicht genug war. Sie wußten, daß etwas Erreichbares fehlte. Sie suchten, forschten, fragten, unternahmen alles, um herauszufinden, warum die Leute sich elend fühlten, aber da alles, was sie hatten oder wußten, eine Konstruktion von ihnen selbst war, konnten sie es nicht finden. Sie beschlossen endlich, zurückzugehen und das Experiment zu wiederholen, ohne zu begreifen, daß auch das zum Scheitern verurteilt war — denn das Experiment, unser eigenes Universum, fand in verschiedensten Formen und Gestalten statt, aber doch nach ihrem eigenen Bild. Sie machten sich nicht einmal die Mühe eines sauberen Anfangs — sie benutzten sich selbst als Prototypen für alle Rassen, die sie erschufen, und sie benutzten dasselbe Universum — das, in dem sie gelebt hatten, in dem sie emporgekommen und gestorben waren. Deshalb gibt es ihre Produkte noch — die beiden, die sie besaßen —, ihre Städte und ihre Kontrollgehirne.«

Varnett hielt den Atem an.

»Ich glaube, ich verstehe plötzlich, was Sie meinen. Diese Schacht-Welt, auf der wir uns befinden, lieferte, wenn Sie recht haben, nicht nur die Versuchslabors für die neuen Rassen und ihre Umwelten, und die Mittel, alles passend zu verändern — sie war auch die Steuerung.«

»Richtig«, sagte Brazil grimmig. »Hier war alles labormäßig, laborgeschaffen, überwacht und erhalten von automatischen Anlagen, damit es so blieb. Nicht alle — nur ein repräsentativer Ausschnitt, die letzten zu schaffenden Rassen, da sie am leichtesten zu erhalten waren.«

»Aber unsere Rasse hat sich hier selbst zerstört«, wandte Varnett ein. »Ich habe davon gehört. Heißt das, daß wir ausgeschieden sind? Das wir uns bestenfalls selbst und andere vernichten oder vielleicht die Ebene der Markovier erreichen können, um am Ende doch Selbstmord zu begehen? Gibt es keine Hoffnung?«

»Es gibt Hoffnung«, sagte Brazil ruhig. »Und auch Verzweiflung. In der Religion der alten Erde, von der ich sprach, dachten die Gläubigen, ihr Gott hätte seinen Sohn zu uns Menschen geschickt, einen vollkommenen Menschen, erfüllt nur von Güte und Liebe. Und es wurde wirklich eine solche Person geboren — ich habe ihn beobachtet, als er den Leuten beizubringen versuchte, sie sollten das Materielle aufgeben und sich auf die Liebe konzentrieren.«

»Was wurde aus ihm?«fragte Wuju gebannt.

»Seine Anhänger lehnten ihn ab, weil er nicht die Welt beherrschen oder wenigstens eine politische Revolution führen wollte. Andere nutzten seine Redekunst zu politischen Zwecken. Am Ende störte er das politische System zu sehr, und sie töteten ihn. Die Religion wurde, wie die von anderen Menschen unserer Rasse zu anderen Zeiten gegründete, innerhalb von fünfzig Jahren politisiert. Gewiß, es gab einige gläubige Anhänger. Aber sie beherrschten ihre Religion nie und verloren oder isolierten sich. Dasselbe geschah mit einem älteren Mann, der Jahrhunderte vorher und Tausende von Meilen von dort entfernt geboren wurde. Er starb nicht durch Gewalt, aber seine Anhänger ersetzten Ideen durch Dinge, und gebrauchten die Suche nach Liebe und Vollkommenheit als gesellschaftliche und politische Bremse, um das Elend der Menschheit zu rechtfertigen. Nein, die religiösen Propheten, die Erfolg hatten, waren jene, die wie die Markovier dachten, politisch — der Gründer des Kom sah zum Beispiel Zustände materieller Entbehrung, die ihn krank machten. Er träumte von einer Zivilisation wie jener der Markovier und brachte die Kom-Welten auf den Weg. Er hatte den größten Erfolg, weil er an das appellierte, was jeder verstehen kann — die Suche nach dem materiellen Utopia. Nun, er kann es behalten.«

»Augenblick, Brazil«, meinte Varnett. »Sie sagen, Sie wären dabeigewesen, als alle diese Leute lebten. Das muß Tausende von Jahren her sein. Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Das beantworte ich, wenn wir am Schacht sind«, erklärte Brazil. »Dort beantworte ich alle Fragen, nicht vorher. Wenn wir nicht vor Skander und seinen Begleitern dort sind, spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«

»Dann könnten sie an die Stelle der Markovier treten, die Gleichungen verändern?«fragte Varnett entsetzt. »Ich habe mir das auch einmal zugetraut, aber die Logik zeigte mir, wie sehr ich mich irrte. Erst als wir erfuhren, daß Skander es versuchen könnte, schickte man mich hin. Deshalb habe ich mich mit Ihnen zusammengetan, Brazil — Sie sagten in Zone, Sie wollten dasselbe tun. Unser geheimnisvoller Informant hat uns aufgefordert, mit Ihnen zusammenzugehen, wenn das möglich sein sollte.«

»Aber wie konnten Sie —«Brazil verstummte, dachte eine Weile nach und gluckste plötzlich. »Natürlich! Wie dumm ich gewesen bin! Ich wette, der Kerl hört alle Botschaften in Zone ab. Ich hatte vergessen, wie raffiniert er ist.«

»Wovon redest du?«fragte Wuju gereizt.

»Von dem dritten Beteiligten. Er wußte die ganze Zeit, wo Varnett und Skander waren. Er wollte nur wie üblich dabei sein, wenn es um die Entscheidung ging. Ich war seine Rückversicherung, für den Fall eines Mißerfolgs — der sich auch abzeichnete. Skander wurde entführt und konnte nicht mehr direkt überwacht werden. Jedenfalls ist es ihm gelungen, die anderen auf dem Weg zum Ziel aufzuhalten, damit wir alle ungefähr zur selben Zeit ankommen — wo wir in Empfang genommen werden.«

»Von wem redest du denn, zum Teufel?«fragte Wuju aufgebracht.

»Seht!«sagte Brazil. »Da ist Ghlmon, das letzte Hex vor dem Äquator. Seht ihr den ausgebrannten rötlichen Sand? Er zieht sich der Breite nach durch zwei Hexagons, ein halbes Hex hoch.«

»Von wem, will ich wissen!«fuhr ihn Wuju an.

»Nun«, sagte Brazil zögernd, »wenn ich mich nicht sehr täusche, werden wir ihm irgendwo in dieser sonnenversengten Wüste begegnen.«

»Gehen wir heute noch über die Grenze?«fragte Varnett.

»Ja. Es wird für uns alle hart werden, also gewöhnen wir uns am besten gleich daran. Wir gehen in der Nacht weiter, solange wir können, am Ufer entlang. Untertags kommen wir vielleicht nicht voran.«

Wuju sah ihn wütend an, aber Brazil beschleunigte seine Schritte und zwang die anderen, mitzulaufen. Nach wenigen Minuten überschritten sie die Grenze. Die Hitze überfiel sie wie eine ungeheure, belastende Decke. Binnen Minuten schleppten sie sich nur noch dahin. Schließlich mußten sie rasten. Die Dunkelheit brachte nur wenig Erleichterung.

Wuju setzte sich keuchend zu Brazil.

»Wer, Nathan?«stieß sie hervor.

»Die einzige Person, die genau wußte, daß ich Skander nachsetzen, daß ich zuerst zu dir nach Dillia gehen würde, war auch die einzige, die Varnett sagen konnte, wo und warum er mich finden konnte. Er war früher Pirat. Man konnte ihm nicht trauen, wenn er auch nur einen Schekel verdienen konnte, aber man konnte sich mit seinem Leben auf ihn verlassen, wenn es um keinen Gewinn ging. Das hatte ich eben vergessen — der Einsatz ist hier hoch; der Gewinn könnte größer sein, als sich das irgend jemand vorzustellen vermag. Er hat mir gesagt, ich könnte von allen Rassen Hilfe bekommen, aber keiner trauen — auch ihm nicht, wie sich herausgestellt hat. Er nahm allerdings an, ich würde ihn nicht für einen Gegner halten, weil wir gute Freunde gewesen waren und ich ihm allerhand schuldete. Er hat beinahe recht gehabt.«

Sie begriff endlich, und ihre Miene hellte sich auf.

»Ortega!«rief sie. »Dein Freund, dem wir in Zone begegnet sind!«

»Die sechsarmige Walroß-Schlange?«fragte Vardia. »Ortega steckt hinter allem?«

»Nicht hinter allem«, sagte eine Stimme hinter ihnen — eine knappe, ruhige Männerstimme, die Würde und Autorität verriet. »Aber er freut sich trotzdem, daß alles gut gegangen ist.«

Sie fuhren herum. In der fast völligen Dunkelheit konnten sie alle nicht gut sehen, aber das Wesen sah wahrhaftig aus wie ein Dinosaurier, ein Meter hoch, mit dunkelgrüner Haut und flachem Kopf. Es stand aufrecht auf großen Hinterbeinen, hatte eine gebogene Pfeife in der kurzen Hand. Außerdem schien es eine altmodische Smokingjacke zu tragen.

Das Wesen paffte an der Pfeife, und die Glut leuchtete in der Dunkelheit.

»Stört es euch, wenn ich meine Pfeife fertig rauche, bevor wir weiterziehen?«sagte es. »Wäre sonst schade drum.«

Загрузка...