Mitternacht am Schacht der Seelen

Das Wesen stand am Ende der Avenue, wo sie durch eine meterhohe Barriere führte und aufhörte.

Es sah aus wie ein riesiges menschliches Herz, zweieinhalb Meter hoch, rosig und dunkelrot, mit zahllosen Blutgefäßen von rötlicher und bläulicher Farbe. An der unregelmäßigen Oberseite befand sich ein Ring von Wimperhaaren, schmutzig-weiß, die sich bewegten — Tausende, wie winzige Schlangen, jedes ungefähr fünfzig Zentimeter lang. Aus der Mitte der weichen, pulsierenden Masse ragten in gleichen Abständen sechs Tentakel, breit und kraftvoll, bedeckt mit Tausenden kleiner Saugnäpfe. Die Tentakel waren von kränklichem Blau, die Saugnäpfe von körnigem Gelb. Aus der Hauptmasse schien eine Art Blutwasser zu fließen, das sehr dick war und von der Haut wieder aufgesaugt zu werden schien.

Und es lag — der Geruch von verwestem Aas in der Luft. Der Gestank drang in ihre Nasen und verursachte ihnen Übelkeit.

Skander begann, aufgeregt zu plappern, dann wandte er sich den anderen zu.

»Sehen Sie, Varnett?«sagte er. »Sehen Sie? Sechs Tentakel in gleichen Abständen, ungefähr drei Meter hoch. Das ist ein Markovier.«

»Sie sind also wirklich ein Markovier gewesen, Nate«, sagte Ortega staunend. »Nicht zu fassen!«

»Nathan!«rief Wuju. »Ist das — das Ding wirklich du?«

»So ist es«, kam Nathan Brazils Stimme, aber nicht als Sprache. Sie formte sich in jedem ihrer Gehirne, in jeder ihrer eigenen Sprachen. Selbst Der Erahner empfing sie direkt, nicht über den Rel.

»Natürlich! Natürlich!«rief Skander strahlend. »Telepathie, versteht sich. Wahrscheinlich auch alles andere.«

»Das ist ein markovischer Körper«, sagte Brazils Stimme zu ihnen, »aber ich bin kein Markovier. Der Schacht kennt mich jedoch, und da alle als neue Rassen draußen lebten, war es nur natürlich, daß wir beim Eintritt in die markovische Form verwandelt wurden.«

Wuju trat vor den anderen auf das Wesen zu.

»Wu Julee!«schrie Hain gellend. »Du gehörst mir!«

Die lange, klebrige Zunge schnellte heraus und wickelte sich um sie. Sie kreischte auf. Ortega fuhr herum und richtete zwei Pistolen auf den Käfer.

»Hören Sie auf damit, Hain«, sagte er warnend. »Lassen Sie das Mädchen los.«

Die beiden Mündungen zielten auf die Augen des Insekts.

Hain zögerte kurz, dann löste sich die Zunge von Wu Julee, und diese fiel aus dreißig Zentimeter Höhe auf den Boden. An ihrer Haut waren breite Striemen zu sehen.

Das Wesen, das Nathan Brazil war, ging auf seinen sechs Greifarmen auf sie zu. Einer der Arme berührte sanft ihre Wunden. Der Gestank war überwältigend. Wu Julee zuckte angstvoll zurück.

Die herzähnliche Masse kippte ein wenig um die Achse.

»Die Form bedeutet nichts«, spottete das Wesen, ihre Stimme nachahmend. »Nur der Inhalt zählt.«Dann sagte es mit Brazils alter Stimme:»Und wenn ich nun ein Monstrum wäre, Wuju? Was dann?«

Wuju begann zu schluchzen.

»Bitte, Nathan, bitte tu mir nicht weh«, flehte sie. »Nicht mehr wehtun, bitte. Ich — ich kann einfach nicht.«

»Tut es weh?«fragte er leise, und sie nickte, während sie sich die Tränen abwischte.

»Dann vertrau mir doch, Wuju. Mach die Augen zu. Ich nehme die Schmerzen weg.«

Ein Greifarm legte sich um die Striemen an ihrem Körper. Er fühlte sich klamm und widerlich an, aber alle sahen, daß die Wunde verschwand. Wuju atmete auf.

»Leg dich auf den Rücken, Wuju«, sagte Brazil, und sie tat es. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. Der Greifarm berührte ihre Brust und die Flanken, und von den Striemen war nichts mehr zu sehen.

Brazil zog sich zwei Meter zurück. Er hatte keine unterscheidbare Vorder- oder Rückseite, weder erkennbare Augen noch Nase noch Mund.

»He, das ist phantastisch, Nate!«rief Ortega.

»Gehen wir«, sagte Brazil. »Es ist an der Zeit, das Drama zu beenden.«

»Ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt,«meinte Hain zögernd.

»Zu spät, um noch auszusteigen, Sie Arschloch!«fauchte Skander. »Wo ist auf einmal Ihr Mut?«

»Wenn ihr mir folgt und auf das Laufband hier steigt, können wir unterwegs miteinander sprechen und nebenbei die Grenz-Hexagons in Panik versetzen«, sagte Brazil.

Sie traten alle auf das Laufband hinter der Barriere. Das sonderbare Licht der Avenue erlosch, und auf beiden Seiten des Laufbandes wurde ein anderes hell.

»Das Licht geht an, wo wir sind, und erlischt hinter uns«, sagte Brazil. »Slelcronier, die Helligkeit genügt für Sie. Die Wärmelampe können Sie über das Geländer werfen.«

Das Band setzte sich in Bewegung.

»Ihr seid jetzt auf dem Weg zum Zugangs-Portal«, sagte Brazil. »Als die Markovier diese Welt bauten, mußten die Techniker natürlich hinein und hinaus. Jeden Tag fuhren Tausende von Markoviern auf diesem Band zum Kontrollzentrum und anderen wichtigen Stellen im Inneren des Planeten. Damals blieb die Avenue natürlich offen, solange das nötig war. In den letzten Tagen, bevor der letzte Markovier fortging, wurde das auf die kurze Zeitspanne beschränkt, damit die Grenz-Sechsecke sich entwickeln konnten und diejenigen ferngehalten wurden, welche es sich anders überlegt haben mochten. Am Ende kamen nur die drei Dutzend Projekt-Koordinatoren, um alles zu überprüfen.«

Sie glitten in unheimlicher Stille dahin, während das Licht vor ihnen aufflammte und hinter ihnen erlosch.

»Manche von euch kennen die Geschichte dieses Ortes schon«, fuhr Brazil fort. »Die Rasse, die ihr Markovier nennt, entwickelte sich wie alle anderen Arten und entdeckte schließlich die Primärenergie-Natur des Universums — daß es nichts gab als diese Primärenergie, die sich in alle Richtungen erstreckte, und daß alle Konstruktionen darin, wir eingeschlossen, durch Regeln und Naturgesetze bestimmt werden, die nicht starr sind, weil sie vorhanden wären, sondern statt dessen statuiert werden. Nichts ist im Grunde etwas anderem gleich, das Gleichheitszeichen gilt allein für die statuierte Struktur des Universums. Vielmehr ist alles relativ zu allem anderen.«

»Aber warum haben die Markovier die mathematischen Konstruktionen bezüglich der Stabilität nicht verändert, als sie auf sie stießen?«fragte Skander. »Warum die Regeln beibehalten?«

»Sie wagten sich nicht an die Hauptgleichungen heran, die physikalische Eigenschaften und Naturgesetze beherrschen«, erwiderte Brazil. »Sie konnten die Dinge ein wenig verändern, aber der gesunde Menschenverstand wird Ihnen sagen, daß man, um die Hauptgleichung zu verändern, die alte zunächst beseitigen muß. Was wird dann aus einem selbst und dem Rest des Universums? Sie wagten es nicht und stellten deshalb neue, kleinere Gleichungen für begrenzte Bereiche des existierenden Universums auf.«

»Also keine Götter«, sagte Vardia leise. »Halbgötter.«

»Menschen«, gab Brazil zurück. »Keine Götter, Menschen. Oh, ich weiß, daß meine Form ganz anders ist, aber sie ist nicht monströser oder ungewöhnlicher als die mancher Wesen auf dieser Welt. Die vielen Milliarden Wesen, die solche Körper trugen, waren eine stolze Rasse gewöhnlicher Leute, mit einem Finger an der Steuerung. Sie stritten, debattierten, mühten sich, bauten, entdeckten — so, wie wir alle. Wäre ihre äußere Form dem ähnlicher, womit wir vertraut sind, würdet ihr sie vielleicht sogar mögen. Vergeßt nicht, sie haben Göttlichkeit nicht durch natürliche Prozesse, sondern durch technologische Fortschritte erlangt. Es war, als entdecke eine unserer Rassen in der jetzigen Form plötzlich den Schlüssel zur Wunscherfüllung. Wären wir dafür reif?«

»Warum sind sie gestorben, Brazil?«fragte Skander»Warum haben sie Selbstmord begangen?«

»Weil sie nicht reif waren«, antwortete Brazil traurig. »Sie hatten alle materiellen Wünsche besiegt, alle Krankheiten, sogar den Tod, aber nicht sich selbst. Sie genossen das Materielle, jeder eine Insel für sich. Alles, was sie wollten, brauchten sie sich nur zu wünschen. Und sie entdeckten, daß das nicht genug war. Etwas fehlte. Utopia war nicht Erfüllung, sondern Stagnation. Und das war der Fluch — zu wissen, daß das Höchste erreichbar war, aber nicht zu wissen, was es war oder wie man es erreichen konnte. Sie studierten das Problem und fanden keine Lösung. Schließlich kamen sie darauf, daß sie in ihrer Entwicklung irgend etwas verloren hatten — die wahre Erfüllung des Traumes. Die soziale Gleichung ging nicht auf, weil ihr ein wichtiges Glied fehlte. Eins plus zwei plus drei ist gleich sechs, aber wenn das plus zwei fehlt, wird nicht mehr daraus als vier. Sie kamen endlich zu dem Schluß, daß sie in einer Sackgasse steckten und in einer ewigen Orgie der Lust stagnieren würden, wenn nichts geschah. Die Lösung erschien einfach: von vorn beginnen, versuchen, den fehlenden Faktor zu finden oder wiederzuentdecken. Sie benutzten eine Vielzahl von Rassen und Bedingungen, um neu anzufangen, keine markovischer Art, mit der Überlegung, daß jede Wiederholung des markovischen Zyklus dasselbe Ende nehmen mußte.«

»Und so haben sie diese Welt gebaut«, warf Varnett ein.

»Ja. Ein riesiges markovisches Gehirn, das eine junge Sonne ohne Planeten umkreiste. Das Gehirn ist natürlich der Planet, alles bis auf die Kruste. Die Schwerkraft war kein Problem, ebensowenig die Atmosphäre. Sie schufen eine Außenhülle, etwa hundert Kilometer über der Oberfläche. Die Sechsecke sind alles Zellen, deren Elemente in jeder Richtung durch Kraftfelder festgehalten werden.«

»Sie wurde also gebaut, um die Markovier in neue Formen zu verwandeln?«fragte Skander.

»Sie hatte eigentlich eine doppelte Aufgabe. Die besten Fachleute der markovischen Rasse wurden eingesetzt. Sie machten Vorschläge für Biosphären und versuchten, einander an Schöpfungskraft zu übertreffen. Diejenigen, die brauchbar erschienen, wurden gebaut, und Freiwillige gingen durch das Zonen-Portal und wurden in den neu entstandenen Umwelten zu den neu konstruierten Wesen. Selbst für einen mittleren Versuch brauchte man mehrere Generationen, aber das machte den Markoviern nichts aus. Tausend Jahre bedeuteten ihnen nichts. Sie konnten bauen und Pionierarbeit leisten, aber sie blieben Markovier. Man brauchte viele Generationen, die in dem Biom geboren waren, um eine Kultur zu errichten und nachzuweisen, welche Wendung die Dinge nehmen würden. Ihre Zahl wurde relativ stabil gehalten, und die Kraftfelder waren viel starrer als heute. Sie mußten in ihrem Sechseck leben, ohne echten Kontakt zu anderen Hexagons. Sie mußten sich ihre eigene Welt bauen.«

Sie fuhren nun mit täuschend steiler Neigung abwärts, hinab ins Innere des Planeten.

»Aber warum hat die erste Generation nicht eine hohe Zivilisation entwickelt?«fragte Varnett. »Sie waren schließlich genau wie wir, nur äußerlich verwandelt.«

»Sie überschätzen die Angehörigen einer hoch-technisierten Zivilisation. Wir nehmen vieles als gegeben hin. Wir wissen, wie man Licht einschaltet, aber nicht, warum es hell wird. Keiner von uns könnte die Mehrzahl unserer Produkte bauen, und die meisten zivilisierten Rassen werden abhängig davon. Plötzlich in jungfräuliche Wildnis versetzt, wie es allen geschah, besaßen sie keine Läden, keine Fabriken, keinen Zugang zu irgend etwas, das sie nicht selbst aus dem vorhandenen Material herstellten. Viele starben allein an den Strapazen. Die Zähen, die Überlebenden bauten ihre eigenen Gesellschaften und die ihrer Kinder auf. Sie arbeiteten zielbewußt — wenn der Versuch scheiterte, starben sie aus. Wenn sie Erfolg hatten — nun, es bestand die Aussicht, daß die Erfolgreichen einmal um Mitternacht zum Schacht der Seelen gehen und dort in eine neue Welt versetzt werden würden, um eine neue Zivilisation zu gründen, zu wachsen, sich zu entwickeln, vielleicht die Vorläufer einer zukünftigen Rasse von Göttern zu werden, die Erfüllung finden konnte. Jeder hoffte, zu denen zu gehören, deren Nachkommen es schaffen würden.«

»Und du warst hier, als das geschah?«fragte Wuju nervös.

»Ja. Ich half dem Schöpfer von Hex Einundvierzig-Einssiebenundachtzig, der hundertsiebenundachtzigsten und letzten Rasse, die in diesem Hex geschaffen wurde. Ich erschuf sie nicht, überwachte sie nur und half aus. Wir stahlen einander natürlich dauernd die Ideen. Unsere eigene Rasse war direkt von großen Affen in einem anderen Hex gestohlen. Dem Schöpfer gefielen sie so gut, daß die beherrschende Rasse nicht nur Affen wurden, sondern sie auch als Tiere sich zu enormer Vielfalt entwickelten.«

»Augenblick, Brazil«, sagte Skander. »Die anderen verstehen vielleicht nicht viel davon, aber ich bin Archäologe. Die alte Erde hat sich über einige Milliarden Jahre hinweg langsam entwickelt.«

»Nicht direkt«, erklärte Brazil. »Erstens wurde in jedem Fall die Zeit verändert. Der Zeitrahmen für die Entwicklung in unserem Sektor wurde beschleunigt. Der ursprüngliche Entwurf produzierte das Leben, das wir erwarteten, aber es entwickelte sich anders — zuletzt als Riesenreptile. Als klar wurde, daß unsere Leute nicht mit ihnen zusammenleben konnten, führte eine leichte Achsenkippung dazu, daß die Dinosaurier ausstarben, aber andere Organismen unterlagen einer anderen Belastung. Es entwickelten sich kleine Säugetiere, und zu diesen fügten wir im Lauf der Zeit unsere eigenen hinzu, um diejenigen zu ersetzen, welche sich im Evolutionsschema logischerweise entwickelten. Als uns die Bedingungen geeignet erschienen, als affenartige Wesen zu überleben begannen, unternahmen wir den Exodus. Bald besaßen die gemäßigten Zonen ihr erstes intelligentes Leben. Auch hier mit allen Hilfsmitteln, aber nichts sonst. Sie hielten sich erstaunlich gut, doch die Langzeitwirkungen der Achsenneigung führten zu Veränderungen der Erdoberfläche und binnen weniger Jahrhunderte zu einer großen Eiszeit. Unser jetziger langsamer Aufstieg ist das Ergebnis der außerordentlich primitiven Überlebenden dieser Katastrophen. So ist es übrigens bei allen euren Heimatwelten gewesen.«

»Gibt es also eine Welt oder ein Netz von Welten der Akkafier?«fragte Hain.

»Es gab sie«, erwiderte Brazil. »Vielleicht gibt es sie noch. Vielleicht ist sie größer und großartiger und fortgeschrittener als die unsrige. Dasselbe gilt für die Umiau, für Czill, Slelcron, Dillia und andere. Am Schacht selbst werde ich euch zumindest sagen können, welche noch funktionieren, wenn auch nicht, wie, oder ob sie sich verändert haben. Ich möchte meinen, daß einige der älteren inzwischen sehr weit fortgeschritten sein müßten. Meine Erinnerung sagt, daß wahrscheinlich fast eine Million Rassen geschaffen und verstreut worden sind. Ich bin neugierig darauf, wie viele es davon noch gibt.«

Sie waren einige Zeit hinuntergefahren, und plötzlich tauchte unter ihnen ein riesiges Sechseck mit leuchtenden Umrissen auf.

»Das Zugangs-Portal«, sagte Brazil. »Eines von sechs. Es kann euch zu vielen Orten im Schacht bringen, aber wenn es keine Anweisung erhält, schafft es euch zum Kontrollzentrum und den Monitorstationen. Wenn wir es erreichen, braucht ihr nur darauf zu treten. Ich löse es erst aus, wenn alle dort sind.«

Sie hielten sich an die Anweisungen, und als alle auf dem Portal standen, erlosch plötzlich das Licht. Sie empfanden ein merkwürdiges Gefühl, als stürzten sie hinab, dann war es plötzlich ganz hell.

Sie standen in einer riesigen Kammer, die einen Durchmesser von ungefähr einem Kilometer hatte. Hunderte von Korridoren führten in alle Richtungen. Das Portal befand sich in der Mitte der Kuppel. Die Wände schienen aus winzigen sechseckigen Glitzersteinen zu bestehen.

Von Kraftfeldern gehalten, zwischen Portal und Scheitelpunkt der Kuppel, schwebte ein riesiges Modell der Schacht-Welt, das sich langsam drehte. Es besaß einen Terminator, eine Hälfte war dunkel, und es schien aus demselben Material zu bestehen wie die Wände der gigantischen Halle. Aber die Sechsecke auf dem Modell waren viel größer, an den Polen gab es glatte Flächen, um die Mitte verlief ein schwarzes Band.

»So sieht die Welt vom Raum her aus«, sagte Brazil. »Es ist maßstabsgetreu, fünfzehnhundertsechzig Sechsecke, die Zonen — alles. Ihr könnt sehen, wie das Licht von jedem Hex anders widergespiegelt wird. Das ist markovische Schrift — es sind Zahlen. Eigentlich ist das mehr als ein Modell. Es ist ein eigenes markovisches Gehirn, das die Hauptgleichung für die Stabilisierung aller neuen Welten enthält. Es beschickt den Schacht mit Energie und ermöglicht dem großen Gehirn ringsum, seine Arbeit zu tun.«

»Wo ist die Steuerung, Nate?«fragte Ortega.

»Jedes Biom — das heißt, jedes planetarische Biom — verfügt über eigene Steuerung. Jedes Sechseck auf dieser Welt wird als Entsprechung zur eigentlichen Welt gesteuert. Für die meisten Steuerungsanlagen gibt es natürlich kein Hexagon. Was wir heute haben, sind die letzten geschaffenen Sechsecke und einige der Mißerfolge — nicht unbedingt jene, die ausgestorben sind, sondern jene, die nicht funktionierten. Das Feenland, etwa. Kommt, gehen wir zu einem der Steuerungszentren.«Er ging auf seinen sechs Greifarmen durch einen der Korridore, und die anderen folgten ihm zögernd. Sie liefen eine schier endlose Zeit und kamen an sechseckigen Türen vorbei. Brazil blieb schließlich vor einer stehen, und sie öffnete sich ähnlich wie der Verschluß einer Kamera.

Als sie eintraten, wurde es im Inneren hell. Die Wände waren übersät mit Hebeln, Schaltern, Tasten und Skalen, unmittelbar vor ihnen befand sich ein großer, schwarzer Bildschirm.

Brazil trat an eine der Steuertafeln. Die anderen hoben ihre Pistolen, und die Lichter des Erahners begannen heftig zu blinken.

»Nichts anrühren, Nate!«warnte Ortega.

»Ich sehe nur nach«, erwiderte Brazil ruhig. »Ja, ich sehe es schon. In diesem Raum ist die Grundlage für eine Zivilisation, die sich inzwischen ausgebreitet hat. Sie ist interstellar, aber nicht pangalaktisch. Bevölkerung etwas über eineinviertel Billionen.«

»Wenn es eine hoch-technisierte Zivilisation ist, kann es nicht die unsere sein«, sagte der Slelcronier erleichtert.

»Nicht unbedingt«, gab Brazil zurück. »Die technologischen Ebenen hier auf der Schacht-Welt sind keineswegs auch den eigentlichen Planeten auferlegt worden. Sie wurden diktiert von den Problemen, die man auf der eigenen Welt finden mochte. Wenn wir ein Versuchs-Sechseck hier mit niedriger Technologie ausstatteten, glichen wir nur den Grad der Schwierigkeiten aus, auf der Heimatwelt eine technologische Zivilisation aufzubauen; wir verhinderten sie nicht. Wir zwangen sie, Alternativen zu entwickeln, ohne Technologie zu leben, damit sie auf ihren Heimatwelten besser präpariert waren. Manche hielten sich hervorragend. Das meiste an Zauber, was ihr hier findet, ist nicht Schacht-Zauber, sondern sind echte geistige Kräfte, entwickelt von den Hexagons, um niedrige Technologie auszugleichen. Was sie hier gebrauchen konnten, war auch dort anwendbar.«

»Der Erahner sagt, daß Sie die Wahrheit sprechen«, erklärte Der Rel. »Sie waren für die Prophezeiung verantwortlich, daß wir hier sein würden.«

»In gewisser Weise, ja«, gab Brazil zurück. »Als ich durch das Zonen-Portal ging, erkannte mich das markovische Gehirn als einen Angehörigen von Hex Einundvierzig und schickte mich dorthin. Bei der Analyse stellte es ferner fest, was ich selbst nicht wußte — daß ich eine originale markovische Gehirnwellenstruktur besaß. Es nahm daher an, ich sei hier, um ihm weitere Anweisungen zu geben, oder Arbeit zu leisten. Der Erahner fing das, wenn auch verstümmelt, auf.«Die Masse neigte sich den anderen ein wenig zu. »Und jetzt sind wir im Kontrollzentrum, die Angst steht euch in den Gesichtern geschrieben, und ihr habt eure Pistolen auf mich gerichtet«, sagte Brazils Stimme traurig. Sogar du, Wu Julee, dachte er. Sogar du. »Ich habe versucht, der Menschheit Regeln für das Leben zu geben, die eine zweite Katastrophe verhindern, ihre Selbstzerstörung aufhalten sollten. Niemand hörte zu. Niemand änderte sich. Typ Einundvierzig hatte schwere innere Fehler — und trotzdem setzte er sich durch. Er gelangte zu den Sternen, und das war ein Ventil für seine Aggressivität, obwohl selbst jetzt, selbst dort seine verschiedenen Bestandteile versuchen, einander zu beherrschen, zu töten. Und der Trieb zur Herrschaft ist sogar bei den Nicht-Menschen vorhanden, bei Ihnen, Der Erahner und Der Rel, und beim Slelcronier. Seht euch an. Seht euch nur an! Seht ihr es? Spürt ihr es? Angst, Habgier, Entsetzen, Ehrgeiz, davon werdet ihr verzehrt. Der einzige Grund, warum ihr euch noch nicht gegenseitig umgebracht habt, ist eure gemeinsame Angst vor mir. Wie könnt ihr es wagen, einen Hain zu verdammen, einen Skander — eine ganze Gesellschaft? Wie könnt ihr das wagen? Wie viele von euch denken an die Wesen, für die diese Steuerungsanlagen hier stehen? Habt ihr Angst um sie? Sind sie euch wichtig? Ihr wollt sie nicht retten, nicht ihr Leben verbessern. Die Angst ist in euch, die Angst um euch selbst. Der grundlegende Makel in der vorgegebenen Gleichung: diese brennende, unausrottbare Selbstsucht. Keiner von euch denkt an etwas anderes als an sich selbst. Seht euch an. Seht, was für Ungeheuer aus euch geworden sind.«

Ihre Herzen hämmerten, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Erahner und Der Rel reagierten als erste.

»Und Sie selbst, Nathan Brazil?«sagte Der Rel. »Ist der Makel in uns nicht einfach eine Spiegelung des Makels in Ihnen selbst, in Ihrer Rasse, den Markoviern, die uns nicht geben konnten, was uns fehlt, weil sie es selbst nicht besaßen?«

»Die Markovier wollten in diesem Universum leben, nicht es beherrschen«, erwiderte Brazil ruhig. »Das hatten sie schon getan. Das Schicksal war ein Zufallsfaktor, den sie für das Überleben von uns allen für notwendig hielten. Deshalb haben sie den Schacht geschlossen. Ohne ausgefallene Umstände wäre keiner von uns hier.«

»Wo ist die Steuerung?«fragte Ortega.

»Wir finden sie selbst«, zischte Hain. »Varnett hat den großen Code entschlüsselt, er wird auch sie finden.«

»Stolz ist eine Schwäche alles Markovischen«, sagte Brazil traurig, »und ihr bestätigt es. Wenn ihr euch beruhigt und zulaßt, daß ich eine der Tafeln berühre, zeige ich euch die Steuerung, und wie man damit umgeht. Dann wollen wir sehen, was geschieht.«

Ortega nickte, mit den Pistolen im Anschlag. Brazil streckte einen Greifarm aus und berührte eine kleine Tafel hinter sich.

Der große, schwarze Schirm wurde hell — aber es war nicht eigentlich ein Bildschirm. Es war ein gewaltiger Tunnel, ein Oval, das sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Und es war bedeckt mit zahllosen, winzigen schwarzen Punkten, Billionen mußten es sein. Und zwischen all den schwarzen Punkten zuckten wild elektrische Blitze hin und her, Billionen glitzernder, dünnster Lichtbogen, von einem Punkt zum anderen.

»Da ist eure Steuerung«, sagte Brazil angewidert. »Um die Verhältnisse zu ändern, braucht ihr nur den Strömungsfluß zwischen zwei oder mehr Steuerungspunkten zu regulieren.«

Brazil sah sie an, und auf ihren Gesichtern waren Angst und Entsetzen zu lesen. Sie haben Angst vor mir, dachte er, Todesangst. Mein Gott! Wuju, die mich geliebt hat, Varnett, der sein Leben für mich riskierte, Vardia, die mir vertraute — alle haben sie Angst. Ich habe ihnen nichts getan, habe sie nicht einmal bedroht. Ich könnte es nicht, selbst wenn ich es wollte. Wie können sie je unseren gemeinsamen Ursprung, unser gemeinsames Band verstehen? dachte er gequält. Wir lieben, wir hassen, wir lachen, wir weinen, leben — daß ich nicht anders bin als sie, nur älter.

Aber sie begreifen nicht. Ich bin der Gott der Primitiven, der zivilisierte, mächtige Mensch, umgeben von Wilden.

Deshalb bin ich allein. Deshalb bin ich immer allein, dachte er. Sie fürchten, was sie nicht begreifen oder beherrschen.

»Eine Steuerungstafel«, sagte er leise. »Eine einzige. Was sind ein paar Billionen Leben? Da ist ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre potentielle Zukunft. Alles gehört euch. Vielleicht ist ihre Gleichung die Grundlage für einen oder mehrere von euch in diesem Raum, vielleicht auch nicht. Für irgend jemanden ist sie es. Vielleicht für euch. Gut, will jemand die ersten und zweiten Kontrollpunkte berühren, den Fluß verändern? Kommt ruhig her. Jetzt habt ihr Gelegenheit, Gott zu spielen.«

Varnett ging schweratmend auf die Öffnung zu. Er war schweißüberströmt.

»Nur zu«, sagte Brazil. »Tun Sie es. Sie könnten jemanden auslöschen, vielleicht ein paar Billionen Jemande. Sie werden gewiß irgendeine Gleichung verändern, dafür sorgen, daß in irgendeiner Ecke zwei und zwei drei ergeben. Vielleicht wird von uns keiner mehr hier sein, vielleicht wird es uns alle gar nicht gegeben haben. Nur zu. Wem bedeuten alle diese Wesen schon etwas?«

Varnett stand mit offenem Mund da und sah aus wie ein tief verängstigter Fünfzehnjähriger.

»Ich — ich kann nicht«, sagte er beinahe schluchzend.

»Und Sie, Skander? Hier wollten Sie doch sein. Und Sie, Hain?«Seine Stimme wurde hoch und schrill. »Erahner? Können Sie das erahnen? Vardia? Serge? Wuju? Slelcronier? Irgendeiner von euch

»In Gottes Namen, Brazill«schrie Skander. »Hören Sie auf! Sie wissen, daß wir nichts zu tun wagen, solange wir nicht verstehen, wie die Tafel funktioniert!«

»Er blufft«, zischte Hain. »Ich riskiere es.«

»Nein!«kreischte Wuju und richtete die Waffe auf das Rieseninsekt. »Das können Sie nicht!«

»Ich zeige euch sogar, wie«, sagte Brazil ruhig und trat einen Schritt vor.

»Bleiben Sie weg da, Nate!«befahl Ortega. »Sie könnten getötet werden, wissen Sie!«

Brazil blieb stehen, und die pulsierende Masse neigte sich Ortega ein wenig zu.

»Nein, Serge, das kann ich nicht. Das ist das Problem, verstehen Sie? Ich habe euch gesagt, daß ich kein Markovier bin, aber ihr habt nicht zugehört. Ich bin hergekommen, weil ihr die Tafel beschädigen, irgendeiner Rasse etwas antun könntet, die ich nicht einmal kenne. Ich wußte, daß ihr damit nicht umgehen könnt, aber ihr seid jetzt alle ganz wahnsinnig, und einer oder mehrere von euch könnten zerstören, könnten es riskieren, wie Hain eben sagte. Aber keiner von euch hat in seinem Wahnsinn die eigentliche Frage gestellt, die eine unbeantwortete Frage im ganzen Rätsel. Wer hat die markovische Gleichung stabilisiert, die grundlegende für das Universum?«

Man hörte ein pumpendes Geräusch, wie das eines gigantischen Herzens, dessen hmp, hmp, hmp sie durchdrang. Ihre eigenen Herzen schienen stillzustehen.

»Ich bin aus der Primärenergie des Kosmos gebildet worden«, drang Brazils Stimme zu ihnen. »Nach zahllosen Jahrmilliarden erlangte ich Bewußtsein. Ich war das Universum und alles in ihm. In den Äonen begann ich zu experimentieren, spielte mit den Kräften ringsum. Ich bildete Materie und andere Energieformen. Ich schuf Zeit und Raum. Aber bald war ich sogar dieser Spielsachen überdrüssig. Ich bildete die Galaxien, die Sterne und Planeten. Ein Gedanke, und sie waren, als geronnene Primärenergie explodierte und verwandelte Materie ausspie. Ich sah Dinge wachsen und sich bilden, den Regeln zufolge, die ich aufgestellt hatte. Und auch sie bekam ich satt. Also schuf ich die Markovier und sah sie sich nach meinem Plan entwickeln. Aber selbst dann war die Lösung nicht zufriedenstellend, denn sie kannten und fürchteten mich, und ihre Gleichung war zu perfekt. Ich kannte ihre ganze Entwicklungslinie. Und so veränderte ich sie. Ich führte in die markovische Gleichung einen Zufallsfaktor ein und zog mich dann zurück. Sie wuchsen, sie entwickelten und veränderten sich. Sie vergaßen mich und breiteten sich aus Eigenem aus. Aber da sie geistige Abbilder von mir selbst waren, lag meine Einsamkeit in ihnen. Ich konnte mich ihnen so, wie ich war, nicht anschließen, weil sie mich gefürchtet hätten. Sie dagegen hatten mich vergessen, und als sie sich materiell erhoben, starben sie geistig. Sie wuchsen nicht heran, um mir ebenbürtig zu werden, meine Einsamkeit zu beenden. Ihr Stolz wollte ein Wesen wie mich nicht als Genossen anerkennen, und es konnte ihre eigene Angst und Selbstsucht sie nicht zueinander führen. So beschloß ich, einer von ihnen zu werden. Ich bildete eine markovische Hülle und schlüpfte hinein. Ich kannte das Fleisch, seine Freuden und Qualen. Ich versuchte, sie zu lehren, was falsch sei, ihnen klarzumachen, daß sie sich ihren inneren Ängsten stellen, die Krankheit abschütteln, nicht einen materiellen Himmel erstreben, sondern die Antworten in sich selbst suchen mußten. Sie beachteten mich nicht. Und doch war das Potential vorhanden. Es ist immer noch vorhanden. Wujus Eingehen auf Güte und Mitgefühl. Varnetts Selbstaufopferung. Vardias Bedürfnis nach anderen. Es gibt zahllose Beispiele überall. Derjenige, welcher sein Leben opfert, um andere zu retten. Das Mitleiden dort, manchmal begraben von Verkommenheit. Es scheint durch — isoliert vielleicht, aber es ist da. Und solange es da ist, mache ich weiter. Ich werde für den Tag arbeiten, ihn erhoffen, an dem irgendeine Rasse nach diesem Funken greift und auf ihm aufbaut, dann erst werde ich nicht mehr allein sein.«

Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Ortega leise:»Ich weiß nicht, ob ich das alles glaube. Ich bin mein ganzes Leben Katholik gewesen, doch Gott war für mich nie ein kleiner hitziger Jude namens Nathan Brazil. Aber angenommen, es ist wahr, was Sie sagen — was ich nicht unbedingt akzeptiere —, warum haben Sie nicht alles weggeräumt und neu angefangen? Und warum geht unser schäbiges kleines Leben weiter?«

»Solange der Funke da ist, lasse ich den Dingen ihren Lauf«, erwiderte Brazil. »Der Zufallsfaktor, von dem ich sprach. Erst wenn er verschwindet, gehe ich, gebe ich auf, versuche ich es vielleicht noch einmal — sterbe ich vielleicht endlich. Ich möchte sterben, Serge — aber wenn ich es tue, nehme ich alles mit. Nicht nur sie, alle und alles, denn ich stabilisiere die universelle Gleichung. Und ihr seid alle meine Kinder, und mir bedeutet es etwas. Ich kann es nicht tun, solange der Funke bleibt, denn solange es ihn gibt, seid ihr nicht nur das Schlimmste, sondern auch das Beste an mir.«

»Ich glaube nicht, daß Sie Gott sind, Nate«, erwiderte Ortega ruhig. »Ich glaube, Sie sind verrückt. Jeder würde es werden, der so lange lebt. Ich glaube, Sie sind ein markovischer Rückschritt, verrückt nach einer Milliarde Jahren Getrenntsein von der eigenen Art. Wenn Sie Gott wären, warum schwenken Sie nicht einfach Ihre Greifarme und bekommen, was Sie wollen? Warum all diese Mühe und Qual?«

»Varnett!«rief Brazil. »Wollen Sie es mathematisch erklären?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich nicht mit Ortega übereinstimme«, erwiderte Varnett. »Vom praktischen Standpunkt aus macht es allerdings keinen großen Unterschied. Ich begreife aber, was Sie meinen. Es ist dasselbe Dilemma, vor dem wir an der Steuertafel stehen. Sagen wir, Skander tut, was er möchte, er beseitigt die Kom-Welten«, fuhr der Junge fort. »Sagen wir, Brazil zeigt ihm, wie man das macht. Aber das Kom-Konzept und die Kom-Welten haben sich nach dem normalen menschlichen Fluß der sozialen Evolution entwickelt. Sie sind erzeugt von zahllosen historischen Ereignissen, Bedingungen, Ideen. Man kann sie nicht einfach verbannen; man muß die Gleichung so verändern, daß sie sich nie entwickelt haben. Man muß die ganze menschliche Gleichung verändern, alle früheren Ereignisse, die zu ihnen führten. Die neue Linie, die entstünde, wäre eine völlig neue Entwicklung. Konstruktion, Dinge, wie sie wären ohne jeden der entscheidenden Punkte, die zu den Koms geführt haben. Vielleicht war es ein Ventil, vielleicht, so schlimm es war, das einzige. Vielleicht hätte der Mensch sich vernichtet, wenn einer dieser Faktoren nicht vorhanden gewesen wäre. Vielleicht wäre schlimmer, was wir dann hätten.«

»Genau«, sagte Brazil. »Für alles Bedeutsame muß man die Vergangenheit ändern, die ganze Struktur. Nichts verschwindet einfach. Nichts erscheint einfach. Wir sind die Summe unserer Vergangenheit.«

»Was tun wir dann?«fragte Skander. »Was können wir tun?«

»Einiges«, entgegnete Brazil. »Ihr — vor allem ihr — habt Macht gewollt. Nun, das ist Macht.«Der Markovier ging auf die Steuerungstafel zu.

»Mein Gott! Er geht hinein!«schrie Skander. »Schießt, ihr Narren!«Die Umiau feuerte ihre Pistole auf den Markovier ab, die anderen folgten dem Beispiel und schossen gleichzeitig auf die Masse, mit einem konzentrierten Energiepuls, der ein großes Gebäude zerblasen hätte.

Das markovische Wesen hielt an, schien aber die Energie in sich aufzunehmen. Sie feuerten in es hinein, selbst Wuju.

Es war immer noch da.

Die Lichter des Erahners blinkten blitzschnell, zwei Strahlen Schossen heraus und trafen den Markovier. Sein Umriß leuchtete gleißend, das Licht erlosch.

Brazil war noch da.

Sie hörten auf zu feuern.

»Ich habe euch gesagt, ihr könnt mir nichts tun«, erklärte Brazil.

»Keiner von euch kann mir etwas tun.«

»Unsinn!«fauchte Ortega. »In Murithel ist Ihr Körper zerfetzt worden, warum nicht auch hier?«

»Natürlich!«rief Skander. »Dieser Körper ist eine direkte Konstruktion des markovischen Gehirns, ihr Narren! Das Gehirn läßt nicht zu, daß er Schaden davonträgt, weil er Teil des Gehirns selbst ist.«

»So ist es«, antwortete Brazil. »Ich brauche auch dort gar nicht hineinzugehen. Ich kann das Gehirn von hier aus anweisen. Ich konnte das, seit wir in den Schacht gegangen sind. Ich wollte euch nur etwas vorführen.«

»Wir scheinen Ihnen ausgeliefert zu sein«, sagte Der Rel. »Was haben Sie vor?«

»Ich kann von hier aus alles beeinflussen«, entgegnete Brazil. »Ich gebe die Daten durch diesen Kontrollraum in das Gehirn ein; das genügt. Es gibt zwar für jeden Typ einen Kontrollraum, aber sie sind Allzweck-Anlagen, für den Fall, daß Probleme auftreten. Jeder Kontrollraum kann auf jede Struktur geschaltet werden.«

»Aber Sie sagten —«, begann Ortega.

»Um mit Serge Ortega zu reden — ich habe gelogen«, erwiderte Brazil mit einer Spur von Belustigung in der Stimme.

Wuju lief auf ihn zu und warf sich zitternd vor ihm nieder.

»Bitte«, flehte sie, »bitte, tu uns nichts.«

»Ich tue dir nichts, Wuju«, sagte er mit unendlicher Sanftheit. »Ich bin derselbe Nathan Brazil, den du von Anfang an gekannt hast. Ich habe mich nicht verändert, nur körperlich. Ich habe dir nichts getan, nichts, um das zu verdienen. Du weißt, daß ich dir nichts tun würde. Ich könnte es nicht. Ich habe nicht auf dich geschossen, Wuju«, sage er unendlich tief verletzt und gequält.

Sie begann zu weinen.

»O Gott, Nathan! Es tut mir so leid. Ich habe versagt. Statt Vertrauen habe ich dir Angst bewiesen. O Gott! Ich schäme mich so. Ich möchte sterben«, klagte sie.

Vardia lief hin, um sie zu trösten, aber sie stieß das Mädchen weg.

»Hoffentlich sind Sie zufrieden«, fuhr Vardia ihn an. »Hoffentlich freuen Sie sich jetzt. Tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber quälen Sie sie nicht mehr.«

Brazil seufzte.

»Niemand kann so etwas quälen«, sagte er leise. »Wie ich, kann man sich nur selbst quälen. Willkommen in der Menschheit, Vardia. Sie haben Mitleid bewiesen, ohne an sich selbst zu denken. Das wäre bei der alten Vardia undenkbar gewesen. Wenn von euch noch immer keiner begreift — ich habe vor, etwas für euch, nicht gegen euch zu tun.«Er wandte sich allen zu. »Ihr seid nicht vollkommen, keiner von euch. Vollkommenheit ist das Ziel des Versuches, nicht der Bestandteil. Quält euch nicht, flüchtet nicht vor euren Ängsten. Bekämpft sie! Stellt euch ihnen! Kämpft mit Güte, Barmherzigkeit, Mitleid! Überwindet sie!«

»Wir sind die Summe unserer Vergangenheit«, erwiderte Der Rel. »Was Sie verlangen, kann möglich sein, aber unsere Fehler sind durch das Schicksal vergrößert worden. Kann man erwarten, daß wir nach solchen Regeln leben, wenn es uns sogar schwerfällt, sie zu verstehen?«

»Ihr könnt es nur versuchen«, erwiderte Brazil. »Auch darin liegt Größe.«

Das Pochen ging weiter.

»Was ist das für ein Geräusch?«fragte Ortega.

»Die Schacht-Schaltungen sind dem Gehirn geöffnet«, erwiderte Brazil. »Es wartet auf Anweisungen.«

»Und wie werden sie aussehen?«fragte Varnett nervös.

»Ich muß Reparaturen und Änderungen am Gehirn vornehmen«, erklärte Brazil. »Ein paar Kleinigkeiten, damit niemand noch einmal durch Zufall auf die Schlüsselgleichung stößt. Ich möchte dies alles nicht noch einmal durchmachen. Auf jeden Fall wird das Zugangs-Portal allein auf mich eingestellt. Und für den Fall, daß wieder etwas passiert, kommt ein Sicherheitsfaktor hinzu, damit ich sofort gerufen werde.«

»Das ist alles?«fragte Skander erleichtert.

»Mir genügt es vollkommen«, sagte Der Rel. »Uns ging es nur darum, daß nichts in Unordnung gerät. Das hatten wir vorübergehend vergessen, aber nun sehen wir wieder klar.«

»Kleine Justierungen sind möglich«, erläuterte Brazil. »Ich werde dafür sorgen, daß es kein Gas mehr geben wird, wie die Ambreza es gegen die Menschen vom Typ Einundvierzig eingesetzt haben. Ich kann sie nicht als Affen sehen und werde in die Atmosphäre dort etwas einführen, was die Gasmoleküle harmlos werden läßt, aber gleichzeitig werde ich das Hex völlig nicht-technologisch machen. Ich weiß nicht, was ihnen einfallen wird, aber es wird besser sein als ihr jetziges Schicksal.«

»Und wir?«fragte Hain.

»Ich werde nicht verändern, was ihr im Inneren seid«, gab Brazil zurück. »Wenn ich das täte, hättet ihr nicht gelebt. Ich muß euch behandeln, wie ihr seid.«Er dachte kurz nach, dann sagte er mit einer Stimme, die einem Donnern glich:»Elkinos Skander! Du wolltest die Menschheit retten, bist dabei aber selbst unmenschlich geworden. Wenn der Zweck jedes Mittel heiligt, bist du nicht besser, eher schlechter, als jene, die du verabscheust. Auf Dalgonia liegen sieben Tote, sieben Menschen, die dir vertraut haben, die die Opfer deiner Machtgier wurden. Ich kann sie nicht vergessen. Und wenn ich die Zeitlinie verändere, sie zurückhole, ist dies alles nicht geschehen. Ich bemitleide dich, Skander, für das, was du bist, was du hättest werden können. Meine Anweisungen an das Gehirn sind Gerechtigkeit als Folge der Vergangenheit.«

»Das war nicht ich!«schrie Skander. »Es war Varnett! Ich wollte die Welten retten! Ich wollte —«

Und plötzlich war Skander nicht mehr da.

»Wo ist er?«fragte Der Rel.

»Auf einer Welt, die zu ihm paßt, in einer Form, die der Gerechtigkeit entspricht«, antwortete Brazil. »Er könnte glücklich sein, er könnte Gerechtigkeit finden. Überlaßt ihn seinem Schicksal.«Brazil schwieg einen Augenblick, dann tönte die hallende Stimme:»Datham Hain! Du bist das Produkt eines grauenhaften Lebens. Geboren im Schmutz, hast du ihn verbreitet.«

»Ich hatte nie eine andere Chance, das wissen Sie!«rief Hain trotzig-»Die meisten Produkte einer schlechten Umwelt werden schlechter«, gab Brazil zu. »Aber aus solchen Umständen sind auch die größten Menschen hervorgetreten. Du nicht, obwohl du die Intelligenz und Fähigkeit besessen hättest. Ich bemitleide dich, Hain, und deshalb erfülle ich dir einen begrenzten Wunsch.«

Hain wurde ein wenig größer, ihre schwarze Farbe verwandelte sich in Weiß. Sie sah es an ihren Vorderbeinen.

»Sie haben mich adlig gemacht!«rief sie erfreut und erleichtert.

»Du bist die schönste Brüterin im Reich der Akkafier«, sagte Brazil. »Wenn ich dich in den Palast zurückversetze, wird niemand dich erkennen. Du wirst am Anfang eines Brutzyklus sein. Der Baron Azkfru wird dich sehen und vor Begierde wahnsinnig werden. Du wirst seine Brutkönigin sein und seine königlichen Jungen tragen. Das ist dein neues Schicksal, Hain. Bist zu zufrieden?«

»Es ist alles, was ich erhoffen konnte«, erwiderte Hain und verschwand.

Wuju sah Brazil aufgebracht an.

»Dem Dreckskerl hast du das gegeben? Wie konntest du dieses — dieses Ungeheuer belohnen?«

»Hain bekommt den Wunsch erfüllt, aber es ist keine Belohnung, Wuju«, antwortete Brazil. »Sie haben vor ihrem Neuzugang etwas geheimgehalten, in Akkafia. Die meisten Marklings sind steril, und sie tun die Arbeit. Einige werden als Brüterinnen aufgezogen. Eine Brüterin bringt hundert oder mehr Junge zur Welt — aber sie wachsen im Körper der Mutter und fressen sich hinaus, nähren sich vom Fleisch der Brüterin.«

Wuju wollte etwas sagen, stöhnte aber nur, als ihr das Grauenhafte an Hains Schicksal aufging.

»Slelcronier!«sagte Brazil. »Ich habe es so eingerichtet, daß die Aufzeichner nur mit den Slelcroniern zusammenwirken können, nicht mehr mit intelligenten Pflanzen anderer Art. Du bist zu gefährlich, als daß man dich in Czill herumlaufen lassen könnte; gleichzeitig weißt du zuviel von den Vorgängen, um nach Slelcron zurückzukehren. Wenn du Vardia nicht in deine Gewalt gebracht hättest, wäre nichts verändert worden, also hast du es nicht getan und konntest es auch nicht.«

Nichts schien sich zu verändern, aber an dem czillanischen Körper wirkte plötzlich etwas anders.

»Was werden Sie mit mir und meiner Schwester machen?«fragte die czillanische Vardia. Für alle, die zugegen waren, hatte es die Übernahme durch den Slelcronier nie gegeben. Alles war, wie es vorher gewesen.

»Vardia, du bist dein altes Ich und nicht mehr deine Schwester«, sagte Brazil. »Es wäre für dich am besten, wieder nach Czill zurückzukehren, ins Zentrum. Du hast viel beizutragen und kannst berichten, wie es gewesen ist. Geh!«

Sie verschwand.

Nur Brazil, Erahner und Rel, Varnett, Wu Julee, Ortega und die eigentliche Vardia waren noch da.

»Erahner und Rel«, sagte Brazil. »Ihr seid ein gutes Volk und habt viel in euch. Vielleicht kannst du zu Hause diese Erkenntnis verbreiten.«

»Sie schicken uns zurück?«fragte Der Rel.

»Nein, nicht ins Hex. Deine Rasse ist im Begriff, sich in ihrem Sektor auszubreiten. Ich schicke dich zu deinen eigenen Leuten auf ihrer Welt. Vielleicht kannst du ihnen helfen. Geh!«

Erahner und Rel verschwanden.

»Varnett«, sagte Brazil, und der Junge zuckte, wie von einer Kugel getroffen. »Es gibt verschiedene Kom-Welten, manche besser als andere. Sogar die von Vardia kann sich erholen. Es sind Ameisenstaaten, aber sie könnten die Zukunft bedeuten. Ich gebe dir die Chance, einen Wandel zu schaffen. Wie die Murnies es mit dir gemacht haben, mache ich es mit dir. Du wirst Vorsitzender des Zentralkomitees von Paradies sein, früher Dädalus genannt. Du wirst der neue Vorsitzende sein. Der alte ist gestorben, und du bist aus den Kühlhallen geholt worden, um das Kommando zu übernehmen. Wenn es dir mit dem, was du gesagt hast, ernst ist, kannst du die Schwammhändler vertreiben und deinen Planeten umgestalten. Die Revolution wird leicht sein. Du hast alle Macht.«

»Was geschieht mit dem Gehirn des neuen Vorsitzenden und mit meinem Körper?«fragte Varnett.

»Austausch«, erwiderte Brazil. »Der neue Junge wird als Fledermaus in deinem alten Hex erwachen. Er wird zurechtkommen. Er ist das Befehlen gewohnt.«

»Nicht in diesem Irrenhaus«, sagte Varnett lachend. »Gut, ich nehme an.«

»Sehr gut«, erklärte Brazil. »Aber ich lasse dir einen Ausweg. Solltest du es jemals wollen, wird jedes markovische Portal sich für dich öffnen — um dich für immer hierherzubringen. Du wirst in einem neuen Körper sein, so daß niemand weiß, als was du auftauchen würdest. Du wärest hier bis zu deinem Tod, diese Wahl steht dir offen.«

Varnett nickte.

»Gut. Ich glaube, ich verstehe«, erklärte er und verschwand.

»Serge Ortega«, sagte Brazil seufzend. »Was, zum Teufel, fange ich mit einem alten Halunken wie dir an?«

»Ach, verdammt, Nate, was macht das schon?«sagte Ortega. »Diesmal haben Sie gewonnen.«

»Sind Sie hier wirklich glücklich oder war das nur gelogen?«

»Ich bin glücklich«, antwortete der Schlangenmann. »Obwohl ich diese Runde verloren habe, war es wirklich amüsant. Ich hätte das ungern versäumt.«

Brazil lachte leise.

»Gut, Serge.«

Ortega verschwand.

»Wohin haben Sie ihn geschickt?«fragte Vardia zögernd.

»Achtzig Jahre sind die durchschnittliche Lebenszeit eines Ulik«, erwiderte Brazil. »Serge hat nicht als Ei angefangen, ist also schon ein sehr alter Mann. Er hat ein Jahr vor sich, fünf, vielleicht zehn. Ich halte es nicht für unmöglich, daß er dagegen aufkommt, aber warum nicht? Er soll leben und sich amüsieren.«

»Also bleiben noch wir«, sagte Wuju leise.

Die markovische Erscheinung flackerte, wurde körnig, begann zu funkeln. Die Form wirbelte, verwandelte sich, und plötzlich stand vor ihnen der alte, menschliche Nathan Brazil, in der bunten Kleidung, die er ein Leben zuvor im Raumschiff getragen hatte.

»Mein Gott!«stieß Wuju hervor.

»Die Gott-Rolle ist ausgespielt«, sagte er erleichtert. »Ihr solltet sehen, mit wem ihr es wirklich zu tun habt.«

»Nathan?«sagte Wuju zögernd und trat vor.

Er hob die Hand und hielt Wuju seufzend auf.

»Nein, Wuju. Es könnte nichts werden. Nicht mehr. Nicht nach alledem. Es würde ohnehin nichts werden. Ihr beiden verdient viel Besseres, als das Leben euch gegeben hat. Es gibt andere wie euch, die nie Gelegenheit hatten zu wachsen. Sie können ein wenig Güte und viel Liebe gebrauchen. Ich habe alles, was ich über euch weiß, in das Gehirn eingegeben, und es hat Vorschläge gemacht. Wenn wir uns irren, habt ihr nach einer Probezeit dieselbe Möglichkeit wie Varnett. Ihr müßt nur in die Nähe eines markovischen Portals gehen, es befördert euch hierher. Ihr seid dann wieder in Zone. Wie Varnett müßt ihr dann euer Glück versuchen. Wenn ihr noch einmal hierherkommt, gibt es keine Rückkehr. Doch versucht es eine Weile nach meinem Vorschlag. Und vergeßt nicht, zwei Menschen können eine Welt verändern, wenn sie wollen.«

»Aber was —«, begann Wuju und verstummte mitten im Satz.

Die zwei Körper verschwanden nicht, sie sanken einfach zusammen wie ein Anzug, dessen Träger fort ist.

Brazil ging hin und legte sie so zurecht, als schliefen sie.

»Und was nun, Brazil?«fragte er sich.

Du gehst zurück und wartest, sagte ihm sein Gehirn.

Und die Körper? fragte er sich. Er konnte sie nicht einfach zerstören. Obwohl ihre Eigentümer fortwaren, lebten sie als leere Hülsen weiter.

Aber es gab keine andere Möglichkeit, das wußte er. Sie waren nur noch Erinnerungen für ihn. Es knisterte, und die Körper waren verschwunden, zur Primärenergie zurückgekehrt.

»Ach, zum Teufel damit«, sagte Nathan Brazil, und auch er verschwand.

Der Kontrollraum war leer. Das markovische Gehirn stellte es fest und schaltete pflichtbewußt das Licht ab.

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