Jack L. Chalker Die Sechseck-Welt

Dalgonia

Massenmord ist gewöhnlich um so entsetzlicher der unerwarteten Schauplätze und des früheren Charakters des Mörders wegen. Das Massaker von Dalgonia kann als Beispiel dienen.

Dalgonia ist ein unfruchtbarer, felsiger Planet in der Nähe einer sterbenden Sonne, überflutet nur von geisterhaftem, rötlichem Licht, dessen wundersame Strahlen unheimliche Schatten auf die schroffen Gipfel werfen. Von der dalgonischen Atmosphäre ist nur wenig geblieben, das anzeigt, daß hier je Leben geherrscht haben kann; das Wasser ist verschwunden oder, wie der Sauerstoff, jetzt tief im Gestein gebunden. Die schwächliche Sonne, unfähig, der Landschaft mehr zu geben als die dunkelrote Färbung, vermag den Horizont nicht zu erhellen, der trotz eines bläulichen Dunstes von den noch darin enthaltenen inaktiven Elementen so dunkel war wie die Schatten. Es war eine Welt von Gespenstern.

Und wurde von ihnen heimgesucht.

Neun Gestalten stapften lautlos in die Ruinen einer Stadt, die man leicht für die zerklüfteten Wände der nahen Berge hätte halten können. Verkrümmte Türme und zerbröckelnde Burgen von grünlich-braunem Gestein standen vor ihnen und ließen sie zwergenhaft unbedeutend erscheinen. Nur ihre weißen Schutzanzüge hoben sie aus dieser düster-schönen Welt der Stille hervor.

Die Stadt hatte mit nichts so sehr Ähnlichkeit wie mit einer, die Äonen zuvor aus Eisen erbaut und in einem toten Meer ausgedehnter Verwitterung durch Rost und Salz ausgesetzt worden war. Wie ihre Welt war sie stumm und tot.

Ein genauerer Blick auf die Gestalten hätte gezeigt, daß sie alle waren, was man ›menschlich‹ nannte — Bewohner des jüngsten Teiles des Spiralarmes ihrer Galaxis. Fünf waren weiblich, vier männlich; der Anführer war ein hagerer, zerbrechlich wirkender Mann in mittleren Jahren. Auf seinem Rücken und an der Sichtscheibe war der Name ›Skander‹ zu lesen.

Sie standen am halb zerfallenen Stadttor, wie schon so oft zuvor, und starrten die unfaßbaren, großartigen Ruinen an. Durch ihre Köpfe, wie durch jene Tausender von anderen, die auf über zwei Dutzend ebenfalls toten Planeten ähnliche Ruinen besichtigt hatten, gingen immer wieder die offenbar nicht zu beantwortenden Fragen.

Wer waren sie, die mit solcher Pracht bauen konnten?

Warum sind sie untergegangen?

»Da dies Ihr erster Ausflug als graduierte Studenten zu einer Markovier-Ruine ist«, sagte Skanders dünne Stimme in ihren Helmen und riß sie aus ihrer staunenden Versunkenheit, »möchte ich eine kurze Einführung geben. Ich entschuldige mich, wenn ich Bekanntes wiederhole, aber das wird auch eine gute Gedächtnisauffrischung sein. Jared Markov entdeckte die erste dieser Ruinen vor Jahrhunderten auf einem Planeten, der über hundert Lichtjahre von hier entfernt ist. Es war die erste Begegnung unserer Rasse mit Anzeichen von Intelligenz in unserer Galaxis, und die Entdeckung erregte ungeheures Aufsehen. Diese Ruinen wurden auf ein Alter von über einer Viertelmillion Standardjahren geschätzt — und sie waren die jüngsten von allen seither entdeckten. Es zeigte sich, daß, während unsere Rasse noch auf ihrer Heimatwelt mühevoll ihr Leben fristete und gerade erst das Feuer entdeckt hatte, jemand anderer — diese Wesen — ein riesiges interstellares Reich von noch immer unbekannten Ausmaßen besaßen. Alles, was wir wissen, während wir in die Galaxis eindrangen, ist, daß diese Überreste immer häufiger vorkommen. Und trotzdem haben wir noch keinerlei Hinweise darauf, wer sie gewesen sind.«

»Gibt es denn überhaupt keine Artefakte?«fragte eine weibliche Stimme ungläubig.

»Keine, wie Sie wissen sollten, Bürgerin Jainet«, kam die ein wenig mißbilligend klingende Antwort. »Das ist ja das Ärgerliche daran. Die Städte, ja, über deren Erbauer sich einige Schlußfolgerungen ziehen lassen, aber keine Einrichtungsgegenstände, keine Bilder, nichts von auch nur entfernt nützlicher Art. Die Räume sind, wie Sie alle sehen können, völlig leer. Es gibt auch keine Friedhöfe, ebenso wenig irgend etwas Mechanisches.«

»Das liegt am Computer, nicht wahr?«fragte eine andere, tiefere Frauenstimme. Sie gehörte dem stämmigen Mädchen von der Hoch-Schwerkraftwelt, dessen Familienname Marino war.

»Ja«, sagte Skander. »Aber kommen Sie, wir gehen in die Stadt hinein und können uns auf dem Weg unterhalten.«

Sie machten sich auf den Weg und erreichten bald eine Straße, die ungefähr fünfzig Meter breit war. Auf beiden Seiten verliefen Gehwege, jeder sechs bis acht Meter breit, ähnlich den Gleitwegen in Raumflughäfen. Man sah aber kein Laufband oder etwas Vergleichbares; die Gehwege bestanden aus demselben grünlich-braunen Gestein oder Metall (oder was es auch war), woraus sich die ganze Stadt zusammensetzte.

»Die Kruste dieses Planeten ist von durchschnittlicher Dicke«, fuhr Skander fort, »vierzig bis fünfundvierzig Kilometer. Messungen auf dieser und anderen Welten der Markovier haben zwischen der Kruste und dem natürlichen Mantelgestein darunter überall eine Diskontinuität von etwa einem Kilometer Dicke ergeben. Es handelt sich dabei, wie wir feststellen konnten, um eine künstliche Schicht aus einem Material, das eigentlich Plastik ist, aber eine Art von Leben erhalten zu haben scheint — jedenfalls schließen wir das aus den Erkenntnissen. Bedenken Sie, wieviel Information Ihre eigenen Zellen enthalten. Sie sind die Produkte der besten Techniken genetischer Manipulation, physisch und geistig vollkommene Exemplare des Besten Ihrer Rassen, an Ihre Heimatplaneten angepaßt. Und trotzdem sind Sie weit mehr als die Summe Ihrer Teile. Ihre Zellen, vor allem Ihre Gehirnzellen, speichern Eingaben in einem erstaunlichen und anhaltenden Ausmaß. Wir glauben, daß dieser Computer unter Ihren Füßen aus unendlich komplexen künstlichen Gehirnzellen bestanden hat. Stellen Sie sich das einmal vor. Er verläuft durch den ganzen Planeten, einen Kilometer dick — nur Gehirn. Und das alles, wie wir glauben, auf die einzelnen Hirnwellen der Bewohner dieser Stadt eingestimmt! Stellen Sie sich das vor, wenn Sie können. Wünschen Sie sich irgend etwas, und schon ist es da. Nahrung, Möbel — wenn sie solche benutzt haben —, sogar Kunst, erschaffen vom Gehirn des Wünschenden und durch den Computer verwirklicht. Wir haben jetzt natürlich inzwischen kleine und primitive Ausgaben davon — aber das liegt Generationen, vielleicht Jahrtausende, in der Zukunft für uns. Was man sich auch vorstellen könnte, es würde geliefert werden.«

»Diese utopische Theorie erklärt das meiste, was wir gesehen haben, aber nicht, warum das alles Ruinen geworden sind«, meldete sich eine hohe, jugendliche Stimme. Sie gehörte Varnett, dem jüngsten und vermutlich begabtesten, unzweifelhaft phantasievollsten Mitglied der Gruppe.

»Ganz richtig, Bürger Varnett«, bestätigte Skander, »und es gibt drei verschiedene Meinungen dazu. Die eine ist, daß der Computer zusammenbrach, eine zweite, daß er Amok lief — und daß die Wesen damit nicht fertig wurden. Kennt jemand die dritte Theorie?«

»Stagnation«, erwiderte Jainet. »Sie starben, weil sie nichts mehr hatten, wofür sie leben, sich anstrengen oder arbeiten konnten.«

»Genau«, erwiderte Skander. »Und alle drei Mutmaßungen lassen Zweifel aufkeimen. Eine Interstellar-Kultur dieser Größenordnung hätte Defekte berücksichtigt, ein Ersatzsystem wäre vorgesehen gewesen. Was die Amok-Theorie angeht — nun, sie hört sich ganz logisch an, nur weist alles darauf hin, daß dasselbe gleichzeitig überall eintraf, im ganzen Imperium. Ein Planet, sogar mehrere, gut, aber nicht alle zur selben Zeit. Ich bin nicht unbedingt bereit, diese letzte Theorie zu akzeptieren, obwohl es diejenige ist, die am besten paßt. Irgend etwas sagt mir, daß sie sogar das berücksichtigt hätten.«

»Vielleicht haben sie ihre eigene Degeneration programmiert«, meinte Varnett, »und den Ablauf nicht mehr unter Kontrolle bekommen.«

»Wie? Programmierte — geplante Degeneration? Eine interessante Theorie, Bürger Varnett. Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren.«Er winkte, und sie betraten ein Gebäude mit einem seltsamen, sechseckigen Eingang. Alle Türen waren Sechsecke, wie es den Anschein hatte. Das Innere des Raumes war sehr groß, aber einen Hinweis auf Zweck oder Funktion gab es nicht. Er sah aus wie ein Laden oder eine Wohnung, nachdem die Besitzer ausgezogen waren und alles mitgenommen hatten.

»Der Raum ist sechseckig«, sagte Skander, »wie die ganze Stadt, wie nahezu alles darin, aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet. Die Zahl Sechs scheint für sie von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Oder heilig. Daraus, und aus Größe und Form der Eingänge, Fenster und dergleichen — ganz zu schweigen von der Breite der Gehwege — haben wir eine gewisse Vorstellung darüber gewonnen, wie die Wesen ausgesehen haben müssen. Wir gehen davon aus, daß sie Ähnlichkeit mit einem Kreisel oder einer Rübe hatten, mit sechs Gliedmaßen, die Tentakel gewesen sein mögen, verwendbar als Gehwerkzeuge oder als Hände. Wir vermuten, daß die Sechs auf vielen Gebieten für sie wichtig war — in ihrer Mathematik, in der Architektur. Vielleicht hatten sie sogar insgesamt sechs Augen. Nach den Türen zu schließen, und wenn man lichte Höhe und Breite berücksichtigt, waren sie im Durchschnitt etwa zwei Meter hoch und in der Mitte möglicherweise etwas breiter — wo, wie wir glauben, die sechs Arme oder Tentakel oder was auch immer angebracht waren, was der Grund dafür sein mag, daß die Eingänge an dieser Stelle breiter sind.«

Sie blieben einige Zeit stehen und versuchten, sich solche Wesen vorzustellen, wie sie in den Zimmern lebten und die Gehwege bevölkerten.

»Am besten gehen wir jetzt ins Lager zurück«, sagte Skander schließlich. »Sie werden hier ausreichend Zeit haben, zu studieren und sich jeden Winkel anzusehen.«

Es war vorgesehen, daß sie ein ganzes Jahr hier verbringen sollten, unter Anleitung des Professors in der Universitäts-Station.

Sie gingen in der leichteren geringeren Schwerkraft schnell zurück und erreichten das Hauptlager, das etwa fünf Kilometer von den Stadttoren entfernt lag, in knapp einer Stunde.

Das Lager selbst glich einer Ansammlung von großen Zelten eines seltsamen Zirkus. Es waren im ganzen neun, grellweiß wie die Schutzanzüge. Lange Röhren, mit denen die Zelte untereinander verbunden waren, bogen sich gelegentlich, als die Monitor-Computer Temperatur und Luftdruck jedes aufgeblasenen Verbindungsganges den Bedingungen anpaßten. Auf einer toten Welt wie dieser brauchte man daneben kaum etwas, und das Innere war beschichtet, um Lecks nahezu unmöglich zu machen. Sollten sie doch vorkommen, würden nur jene im unmittelbaren Bereich des Loches sterben; der Computer konnte jeden Teil des Komplexes sofort abdichten.

Skander stieg als letzter in die Luftschleuse, nachdem er sich vergewissert hatte, daß keiner seiner Schützlinge oder wichtiges Gerät vergessen worden war. Bis die Schleuse Druckausgleich hergestellt hatte und ihm den Zugang ins Vorzelt erlaubte, hatten die anderen ihre Raumanzüge schon ganz oder teilweise ausgezogen.

Er sah sich die Leute an. Acht Vertreter von vier Planeten der Konföderation — und bis auf das Mädchen von der Welt mit hoher Schwerkraft sahen sie alle gleich aus.

Alle waren ungewöhnlich gesund und kräftig; man hätte sie ohne weiteres für eine Turnerriege halten können. Im Alter waren sie zwar zwischen vierzehn und zweiundzwanzig Jahren, sahen aber alle vorpubertär aus, was sie auch waren. Ihre sexuelle Entwicklung war genetisch angehalten worden und würde es wohl noch bleiben. Varnett und Jainet etwa — das jüngste und das älteste Mitglied der Gruppe, beide vom selben Planeten, dessen Namen Skander im Augenblick nicht einfiel, und doch genau gleich groß und schwer und mit ihren rasierten Köpfen praktisch wie eineiige Zwillinge. Sie waren in einem Labor, einer Geburtsfabrik, hervorgebracht worden und vom Staat so aufgezogen, daß sie so gleichartig dachten, wie sie aussahen. Er hatte einmal, nur halb im Spaß, gefragt, warum man sich überhaupt noch die Mühe mache, männliche und weibliche Exemplare zu produzieren. Natürlich handle es sich um ein Notsystem, war ihm erklärt worden, für den Fall, daß die Geburtsfabriken versagten.

Die Menschheit war auf mindestens dreihundert Planeten ansässig und bis auf eine Handvoll von derselben Art wie die Welt, die diese beiden hervorgebracht hatte. Absolute Gleichheit, dachte er mürrisch. Gleiches Aussehen, gleiches Verhalten, gleiches Denken, für alle Bedürfnisse gesorgt, alle Wünsche in gleichem Maß erfüllt, der Arbeit gewidmet, für die sie geschaffen worden waren, und belehrt, daß das der einzig richtige Platz für sie und ihre Pflichten war. Er fragte sich, wie die Technokraten entschieden, wer was sein sollte.

Er dachte an die letzte Gruppe vor dieser. Drei davon waren von einer Welt gekommen, die sogar auf Namen und persönliche Fürwörter verzichtet hatte.

Er fragte sich nebenbei, wie verschieden die Menschheit zu diesem Zeitpunkt von den Wesen der Stadt dort draußen war.

Selbst auf Planeten wie seiner eigenen Heimatwelt war es in Wirklichkeit so. Gewiß, sie ließen sich Bärte wachsen, und Gruppensex war die Norm, etwas, das diese Leute hier zutiefst schockiert hätte. Seine Welt war gegründet worden von einer Gruppe Nonkonformisten, die vor dem technokratischen Kommunismus der äußeren Spirale geflüchtet waren. Aber auf ihre Weise war sie ebenso konformistisch wie Varnetts Heimatwelt, dachte er. Wenn man Varnett in eine caligristische Stadt stellte, würde er verhöhnt, beschimpft, vielleicht sogar gelyncht werden. Er besaß nicht den Bart oder die Kleidung oder den Sex, um in den Lebensstil von Caligristo zu passen.

Man kann nicht Nonkonformist sein, wenn man nicht die richtige Uniform trägt.

Er hatte sich oft gefragt, ob etwas ganz tief in der menschlichen Psyche auf Stammesordnung beharrte. Die Menschen hatten Kriege geführt, nicht so sehr, um ihre eigene Lebensweise zu schützen, als um sie anderen aufzuzwingen.

Deshalb waren so viele Welten wie jene dieser Leute — es hatte Kriege gegeben, um den Glauben zu verbreiten, die Unterdrückten zu bekehren. Das verbot die Konföderation jetzt — aber die vorhandene Konformität von Welt zu Welt war der Status quo, den sie schützte. Die Führer jedes Planeten saßen in einem Rat, mit einem Exekutivarm, der fähig war, jeden Planeten zu zerstören, der auf ›unsichere‹ Wege geriet. Er war besetzt mit eigens ausgebildeten barbarischen Psychopathen. Aber diese Terrorwaffen konnten nicht ohne die Entscheidung einer Mehrheit des Rates eingesetzt werden.

Das hatte gewirkt. Es gab keine Kriege mehr.

Man hatte die gesamte Masse der Menschheit gleichgeschaltet.

Und bei den Markoviern war es genauso gewesen, dachte er. Gewiß, die Größe und manchmal Farbe und Ausführung der Städte waren unterschiedlich, aber nur in geringem Maße.

Was hatte der junge Varnett gesagt? Vielleicht hätten sie das System bewußt zerstört?

Skanders Stirn war zerfurcht, als er den Rest seines Druckanzugs ablegte. Solche Überlegungen zeigten hohe Intelligenz und Kreativität an — aber sie waren gefährliche Gedanken für eine Zivilisation wie jene, aus welcher der junge Mann kam. Sie belebten die alten religiösen Vorstellungen wieder, daß nach der Perfektion der wahre Tod eintrat.

Woher konnte er eine solche Idee haben? Und warum war er nicht gefaßt und aufgehalten worden?

Skander sah den nackten jungen Leibern nach, als sie durch den Tunnel zu den Duschen und zum Schlafzelt gingen.

Nur Barbaren dachten so.

Hatte die Konföderation erraten, was er hier im Sinn hatte? War Varnett nicht der unschuldige Student, für den er gehalten wurde, sondern der Urheber seiner Alpträume?

Hatte man Verdacht geschöpft?

Plötzlich war ihm kalt, obwohl die Temperatur sich nicht veränderte.

Wenn sie das nun alle waren…?


* * *

Drei Monate vergingen. Skander betrachtete das Bild auf seinem Fernsehschirm, ein elektronisches Mikrogramm des Zellgewebes, das vor einem Monat vom Kernbohrer heraufbefördert worden war.

Es war dieselbe Struktur wie bei den älteren Entdeckungen — dasselbe zarte Zellgefüge, aber im Inneren unendlich komplexer als jede menschliche oder tierische Zelle — und von immenser Fremdartigkeit.

Und eine sechseckige Zelle dazu. Er hatte sich oft nach dem Grund dafür gefragt — waren sogar ihre eigenen Zellen sechseckig gewesen? Er bezweifelte es zwar, aber beim Vorrang, den diese Zahl zu genießen schien, wollte er es auch nicht für unmöglich halten.

Er starrte das Muster unverwandt an. Schließlich streckte er die Hand aus, drehte auf maximale Vergrößerung und setzte die Spezialfilter auf, die er in über neun Jahren auf diesem öden Planeten entwickelt und verfeinert hatte.

Der Bildschirm wurde plötzlich lebendig. In der Zelle zuckten kleine Fünkchen von einem Punkt zum anderen. Ein kleiner Gewittersturm. Er blickte, fasziniert wie immer, auf das, was nur er je gesehen hatte.

Die Zelle lebte.

Aber die Energie war keine elektrische — deshalb hatte man sie nie entdeckt. Er hatte keine Ahnung, was sie war, aber sie verhielt sich wie gewöhnliche elektrische Energie. Sie war nur nicht zu messen, wurde nicht sichtbar, wie Elektrizität es tun sollte.

Die Entdeckung war ein Zufall gewesen, dachte er, vor drei Jahren. Irgendein unbekümmerter Student hatte mit dem Bildschirm gespielt, um hübsch aussehende Effekte zu erzielen, und ihn so belassen. Skander hatte ihn am nächsten Tag eingeschaltet, ohne etwas Besonderes zu bemerken, und dann das übliche Energieortungs-Programm für einen langweiligen Durchlauf mehr eingegeben.

Es war nur ein Vorbeihuschen, ein Aufzucken, aber er hatte es gesehen — und monatelang für sich allein gearbeitet, um ein Filtersystem zu entwickeln, das diese Energie photographisch darstellen würde.

Er hatte die klassischen Proben von anderen Ausgrabungen untersucht, sich eine sogar von einem Versorgungsschiff schicken lassen. Sie waren alle tot gewesen.

Aber nicht diese hier.

Irgendwo, um die vierzig Kilometer unter ihnen, war das markovische Gehirn noch lebendig.

»Was ist das, Professor?«sagte eine Stimme hinter Skander. Er schaltete schnell ab und fuhr herum.

Es war Varnett, den ewig unschuldigen Ausdruck auf seinem ewig kindlichen Gesicht.

»Nichts, nichts«, sagte Skander hastig. »Ich lasse nur spielerische Programme laufen, um zu sehen, wie die elektrischen Ladungen in der Zelle ausgesehen haben könnten.«

Varnett wirkte skeptisch.

»Sah mir aber sehr echt aus«, sagte er störrisch. »Wenn Sie einen entscheidenden Durchbruch erzielt haben, sollten Sie uns das sagen. Ich meine —«

»Nein, nein, es ist nichts«, widersprach Skander zornig. Er gewann seine Fassung wieder und sagte:»Das wäre alles, Bürger Varnett! Lassen Sie mich jetzt allein!«

Varnett entfernte sich achselzuckend.

Skander blieb einige Minuten im Sessel sitzen. Seine Hände — sein ganzer Körper — begannen, heftig zu zittern, und es dauerte seine Zeit, bis der Anfall vorüberging. Langsam begab er sich zum Mikroskop und entfernte vorsichtig den Spezialfilter. Seine Hand war immer noch so unsicher, daß er ihn kaum festhalten konnte. Er legte den Filter mühsam in das winzige Etui und schob es in den breiten Gürtel für Werkzeug und private Dinge, den sie als einziges Kleidungsstück im Inneren trugen.

Er kehrte zu seinem eigenen Raum im Schlafzelt zurück, legte sich auf das Bett und starrte an die Decke.

Varnett, dachte er. Immer Varnett. In den drei Monaten seit der Ankunft hatte der Junge sich um alles gekümmert. Viele der anderen trieben ihre Freizeitspiele und Studentenalbernheiten, aber nicht er. Ernsthaft, nur zu fleißig, und stets mit der Lektüre der Projektberichte, der alten Aufzeichnungen, beschäftigt.

Skander hatte plötzlich das Gefühl, daß alles auf ihn einzudringen schien. Er war von seinem Ziel noch so weit entfernt!

Und jetzt wußte Varnett davon. Wußte zumindest, daß das Gehirn lebte. Der Junge würde gewiß den einen Schritt weitergehen — erraten, daß Skander den Code beinahe entschlüsselt hatte und vielleicht in einem weiteren Jahr dem Gehirn eine Botschaft würde schicken, es reaktivieren können.

Um ein Gott zu werden.

Er würde derjenige sein, welcher die menschliche Rasse mit eben den Werkzeugen rettete, die ihren Schöpfer vernichtet hatten.

Skander sprang plötzlich auf und ging zurück zum Labor. Irgend etwas nagte an ihm, ein Verdacht, daß es in Wahrheit schlimmer stand, als er wußte.

Leise trat er ein.

Varnett saß an der Fernsehkonsole. Und auf dem Bildschirm war dieselbe Zelle zu sehen, die Skander betrachtet hatte; die Energiepole waren deutlich sichtbar! Skander war fassungslos. Er griff schnell in die Tasche, wo er den Filter aufbewahrte. Ja, er war noch da.

Wie konnte das sein?

Varnett stellte Berechnungen an, verglich mit der Anzeige auf einem zweiten Schirm, über den er mit den Mathematikspeichern des Laborcomputers verbunden war. Skander stand regungslos und stumm da. Er hörte Varnett zustimmend murmeln, als entspräche eine Lösung seinen Erwartungen.

Skander warf einen Blick auf seinen Chronometer. Neun Stunden! Es waren neun Stunden gewesen! Er hatte nicht nur nachgedacht, sondern geschlafen und dem Jungen Gelegenheit geboten, seinen schlimmsten Alptraum wahrzumachen.

Irgend etwas sagte Varnett plötzlich, daß er nicht allein war. Er blieb einen Augenblick starr sitzen, dann schaute er sich ängstlich um.

»Professor! Ich bin froh, daß Sie es sind! Das ist unfaßbar! Warum sagen Sie das nicht allen?«

»Wie —«Skander stockte und zeigte auf den Schirm. »Wie sind Sie zu dem Bild gekommen?«

Varnett lächelte.

»Ach, das war einfach. Sie haben vergessen, den Computerspeicher zu löschen, als Sie abschalteten. Was Sie sich angesehen hatten, war neu gespeichert worden.«

Skander verfluchte sich innerlich. Natürlich, die Anzeigen aller Instrumente wurden vom Computer routinemäßig aufgezeichnet. Er war durch Varnetts Entdeckung seiner Arbeit so verstört gewesen, daß er vergessen hatte, den Speicher zu löschen.

»Es ist nur ein vorläufiges Ergebnis«, brachte der Professor endlich heraus. »Ich wollte abwarten, bis ich etwas wirklich Erstaunliches zu berichten hätte.«

»Aber das ist erstaunlich!«rief der Junge aufgeregt. »Sie sind jedoch zu nahe an dem Problem gewesen, an Ihren eigenen Disziplinen, um es zu lösen. Hören Sie, Ihre Fächer sind Archäologie und Biologie, nicht wahr?«

»Richtig. Ich war zunächst Exobiologe und befaßte mich mit der Archäologie, als ich mit meiner Arbeit an den markovischen Gehirnen begann.«

»Ja, ja, aber Sie sind trotzdem Generalist. Meine Welt zieht, wie Sie wissen, von dem Augenblick an, in dem sich das Gehirn ausbildet, auf allen Gebieten Spezialisten heran. Das meine kennen Sie.«

»Mathematik«, sagte Skander. »Wenn ich mich recht entsinne, werden auf Ihrer Welt alle Mathematiker nach einem frühen mathematischen Genie Varnett genannt.«

»Stimmt«, sagte der Junge. »Als ich mich in der Geburtsfabrik entwickelte, prägte man das gesamte mathematische Wissen der Welt direkt auf. Es war ständig zur Stelle, als ich aufwuchs. Bis mein Gehirn mit sieben Jahren völlig entwickelt war, beherrschte ich die ganze angewandte und theoretische Mathematik, die wir kennen. Zuletzt ist alles Mathematik, und so sehe ich alles vom mathematischen Standpunkt aus. Ich bin von meiner Welt hierher geschickt worden, weil mich die fremdartige mathematische Symmetrie in den Dias und Proben des markovischen Gehirns faszinierte. Aber das war alles umsonst, weil ich nichts von der Energiematrix wußte, mit der die Zellbestandteile verbunden sind.«

»Und jetzt?«

»Es ist Unsinn. Es trotzt aller mathematischen Logik. Es heißt, daß es in der Mathematik nichts Absolutes gibt. Überhaupt nichts. Jedesmal, wenn ich die Struktur in bekannte mathematische Begriffe zwingen wollte, kam heraus, daß zwei und zwei gleich vier keine konstante, sondern eine relative Behauptung ist.«

Skander begriff, daß der Junge versuchte, ihm die Dinge kinderleicht darzustellen, aber trotzdem begriff er nicht, was gemeint war.

»Was hat das alles zu bedeuten?«fragte er verwirrt.

»Es bedeutet, daß alle Materie und Energie in einer Art mathematischem Verhältnis steht. Daß nichts eigentlich real, nichts eigentlich irgend etwas ist. Wenn man das ›ist gleich‹-Zeichen wegnimmt und es durch ›ist proportional zu‹ ersetzt, und wenn es wahr ist, kann man alles verändern oder verwandeln. Keiner von uns, dieser Raum, dieser Planet, die ganze Galaxis, das ganze Universum — nichts davon ist eine Konstante. Wenn man die Gleichung für irgend etwas nur gering verändern, die Proportionen ändern könnte, wäre aus allem alles zu machen, alles in alles zu verwandeln.«Er verstummte, als er Skander ansah, daß dieser noch immer im dunkeln tappte. »Ich will ein ganz einfaches, grundlegendes Beispiel nennen«, sagte Varnett, der ruhiger geworden war. »Machen Sie sich zuerst dies klar, wenn Sie können: Es gibt im All eine endliche Menge an Energie, und das ist die einzige Konstante. Nach unseren Maßstäben ist die Menge unendlich, aber das ist wahr, wenn dies wahr ist. Können Sie mir folgen?«

Skander nickte. »Sie sagen also, daß es nichts gibt als reine Energie?«

»Mehr oder weniger«, bestätigte Varnett. »Alle Materie und gefesselte Energie, wie Sterne, wird aus diesem Energiefluß geschaffen. Sie wird dort in diesem Zustand — Sie, ich, der Raum, der Planet, auf dem wir uns befinden — durch ein mathematisches Gleichgewicht festgehalten. Irgend etwas — eine Quantität — wird in Proportion zu einer anderen Quantität gesetzt, und das formt uns. Und hält uns stabil. Wenn ich die Formel für Elkinos Skander oder Varnett Mathematik Zwei Einundsechzig wüßte, könnte ich unsere Existenz abändern oder sogar aufheben. Selbst Dinge wie Zeit und Entfernung, die besten Konstanten, könnten geändert oder abgeschafft werden. Wenn ich Ihre Formel wüßte, könnte ich, unter einer Bedingung, Sie nicht nur, sagen wir, in einen Stuhl verwandeln, sondern alle Ereignisse so verändern, daß Sie immer ein Stuhl gewesen wären.«

»Und was ist das für eine Bedingung?«fragte Skander nervös.

»Nun, Sie würden ein Mittel brauchen, die Formel in die Wirklichkeit zu übersetzen. Und eine Methode, es zu veranlassen, daß es ihren Wünschen gehorcht.«

»Das markovische Gehirn«, flüsterte Skander.

»Ja. Das ist es, was Sie entdeckt haben. Aber dieses Gehirn — dieses Mittel — scheint nur für den lokalen Gebrauch gedacht zu sein. Das heißt, es würde diesen Planeten beeinflussen, vielleicht das Sonnensystem, in dem es sich befindet, aber nicht mehr. Doch irgendwo muß es eine Hauptanlage geben — eine Anlage, die mindestens auf die halbe, wenn nicht auf die ganze Galaxis wirkt. Es muß sie geben, wenn der ganze Rest meiner Hypothese zutrifft.«

»Warum muß es sie geben?«fragte Skander dumpf.

»Weil wir stabil sind«, erwiderte der Junge mit staunendem Unterton.

Eine Minute lang waren nur die mechanischen Geräusche des Labors zu hören, als ihnen die Konsequenzen aufgingen.

»Und Sie haben den Code?«fragte Skander schließlich.

»Ich glaube es, obwohl es gegen mein ganzes Wesen verstößt, daß solche Gleichungen richtig sein können. Und trotzdem — wissen Sie, warum diese Energie mit konventionellen Mitteln nicht wahrzunehmen ist?«

Skander schüttelte langsam den Kopf, und der Mathematiker fuhr fort:»Es ist die Grundenergie selbst. Hören Sie, haben Sie den Filter dabei?«

Skander nickte stumm und zog das kleine Etui heraus. Der Junge griff eifrig danach, aber statt ihn in das Mikroskop zu schieben, ging er an die Außenwand. Er zog langsam Schutzoverall und Brille an, die dem Strahlenschutz dienten, und forderte Skander auf, das gleiche zu tun. Dann sperrte er das Labor gegen Zutritt und schälte das Zeltfutter an einer Stelle ab, wo es eine Luke verdeckte — sie war hier nicht im Gebrauch, aber die Zelte waren Allzweckprodukte und verfügten über viele nutzlose Merkmale.

Die düster-rötliche Landschaft zur Mittagszeit zeigte sich vor ihnen. Der Junge hielt langsam und bedächtig den kleinen Filter vor ein Auge und schloß das andere. Er hielt den Atem an.

»Ich hatte recht«, stieß er hervor.

Nach einer qualvollen halben Minute, die wie eine Ewigkeit anmutete, reichte er Skander den kleinen Filter. Durch ihn war die ganze Landschaft als von einem heftigen elektrischen Sturm durchtobt zu erkennen. Skander konnte sich von dem Anblick nicht losreißen.

»Das markovische Gehirn umgibt uns überall«, flüsterte Varnett. »Es zieht an, was es braucht, und stößt ab, was es nicht braucht. Wenn wir eine Verbindung herstellen könnten —«

»Wären wir wie Götter«, ergänzte Skander. Er gab widerwillig den Filter an Varnett zurück, der wieder hindurchstarrte.

»Und was für ein Universum würden Sie erschaffen, Varnett?«fragte Skander halblaut, griff dabei unter die Schutzkleidung und zog ein Messer heraus. »Ein mathematisch perfektes, wo alles absolut identisch wäre, dieselbe Gleichung?«

»Stecken Sie Ihre Waffe weg, Skander«, sagte Varnett, ohne den Blick von der Landschaft zu wenden. »Ohne mich gelingt es Ihnen nicht, und wenn Sie darüber nachdenken, wird es Ihnen klar werden. In nur wenigen Monaten wird man unsere Leichen finden und Sie hier — oder sterbend in der Stadt — und was bringt Ihnen das ein?«

Das Messer verharrte einen Augenblick, dann glitt es langsam in den Gürtel unter der Schutzkleidung zurück.

»Was, zum Teufel, sind Sie, Varnett?«fragte Skander argwöhnisch.

»Eine Abweichung«, erwiderte der andere. »Manchmal kommen wir vor. Gewöhnlich entdecken sie uns, und dann ist es aus. Aber nicht mich, noch nicht. Sie werden mich aber aufspüren, wenn ich nichts dagegen zu unternehmen vermag.«

»Was meinen Sie, eine Abweichung?«fragte Skander unsicher.

»Ich bin ein Mensch, Skander. Ein richtiger Mensch. Und ehrgeizig. Auch ich möchte ein Gott sein.«


* * *

Varnett hatte nur sieben Stunden gebraucht, die mathematische Lösung zu finden, aber es würde viel mehr Zeit kosten, das markovische Gehirn auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Projekt war von solcher Intensität, daß die anderen aufmerksam wurden und Fragen zu stellen begannen, vor allem die Forschungsassistenten. Schließlich beschlossen sie, alle einzuweihen — Varnett, weil er davon überzeugt war, die anderen, sobald der Kontakt mit dem markovischen Gehirn hergestellt war, zu seiner Sicht der Dinge bekehren zu können, und Skander, weil ihm keine andere Wahl blieb. Während sie im Labor arbeiteten, durchkämmten die anderen die Stadt und mit kleinen Flugmaschinen die übrigen Städte und Gebiete des Planeten.

»Ihr müßt nach einer Art Schacht, Eingang, Portal oder zumindest einem Tempel oder ähnlichem Bauwerk suchen, das eine Art direkter Berührung mit dem markovischen Gehirn bedeuten könnte«, erklärte ihnen Skander.

Und die Zeit ging weiter, während die anderen, allesamt gute Universalisten, sich darauf freuten, der Konföderation die Nachricht zu überbringen, daß die vollkommene Gesellschaft in Reichweite des Menschen sei.

Schließlich, eines Tages, nur zwei Monate, bevor das nächste Schiff fällig war, fanden sie es.

Jainet und Dunna, einer der Forschungsassistenten, stellten durch die großen Filter, die sie für die Suche hergestellt hatten, fest, daß ein winziges Gebiet in der Nähe des Nordpols durch das Fehlen des allgegenwärtigen Blitzens auffiel.

Sie überflogen es und sahen unter sich ein tiefes, sechseckiges Loch von totaler Schwärze. Sie wollten ohne Rückfrage nicht weiterforschen und riefen die anderen über Funk heran.

»Ich sehe nichts«, klagte Skander enttäuscht. »Hier ist kein Sechseckloch.«

»Aber es war da!«protestierte Jainet, und Dunna nickte zustimmend. »Es war wirklich da, fast direkt über dem Pol. Hier! Ich beweise es!«

Sie ging hinüber und ließ die Aufnahmescheibe der Bugkamera um etwas mehr als die Hälfte zurücklaufen. Sie verfolgten die Abspielung mit skeptischem Schweigen, als auf dem Bildschirm der Boden unter ihnen dahinglitt. Und plötzlich war es da.

»Seht ihr!«rief Jainet. »Was habe ich gesagt?«

Und es war da, deutlich, unzweifelhaft. Varnett blickte auf den Schirm, auf die Szene unter ihnen, wieder zurück. Alles stimmte überein. Es hatte ein sechseckiges Loch gegeben, an der breitesten Stelle fast zwei Kilometer im Durchmesser. Die Merkmale der Gegend stimmten überein — es war an dieser Stelle.

Aber dort gab es jetzt kein Loch.

Sie warteten, fast einen ganzen Tag. Plötzlich schien die flache Ebene zu verschwinden, und da war das Loch wieder.

Sie photographierten es und führten alle Analysen durch, die möglich waren.

»Lassen wir etwas hineinfallen«, schlug Varnett schließlich vor. Sie fanden einen Ersatz-Druckanzug, schwebten unmittelbar über dem Loch und warfen ihn hinein, die Anzuglampe war eingeschaltet.

Der Anzug prallte auf das Loch. ›Prallte‹ war das einzige Wort, das sie dafür fanden. Der Anzug fiel auf das Loch und schien dort zu haften, nicht hineinzufallen. Nachdem er dort einen Augenblick schwebte, schien er vor ihren Augen zu verblassen. Nicht zu fallen, sondern sich aufzulösen — denn sogar die Filme zeigten, daß er nicht hineinfiel. Er verschwand einfach.

Einige Minuten später verschwand das Loch selbst.

»Sechsundvierzig Standard-Minuten«, sagte Varnett. »Genau. Und ich wette, daß es sich morgen zur selben Zeit wieder öffnet.«

»Aber wohin ist der Anzug gekommen? Warum ist er nicht hineingefallen?«fragte Jainet.

»Denkt an die Macht dieses Dinges«, sagte Skander. »Wenn Sie hinkämen, würden Sie nicht über vierzig Kilometer hinabsinken. Sie würden einfach hinbefördert werden.«

»Richtig«, sagte Varnett. »Es würde die Gleichung einfach ändern, und man wäre dort, statt hier

»Aber wo ist dort?« fragte Jainet.

»Wir glauben, im Steuerzentrum des markovischen Gehirns«, sagte Skander. »Es würde eines geben — so, wie es in einem Raumschiff zwei Brücken gibt. Das andere ist für Notfälle.«Oder männliche und weibliche Mitglieder auf Ihrem Planeten, hätte Skander beinahe gesagt.

»Am besten kehren wir um und lassen das alles durch unsere eigenen Datenbanken laufen«, schlug Varnett vor. »Schließlich war das ein langer Tag für uns. Das Loch öffnet und schließt sich regelmäßig. Wir können morgen also dasselbe tun wie heute.«

Sie murmelten alle ihre Zustimmung, und einigen ging erst jetzt auf, wie müde sie waren.

»Jemand sollte hierbleiben«, sagte Skander, »wenn auch nur, um die zeitlichen Abläufe festzuhalten und die Kamera laufen zu lassen.«

»Das mache ich«, sagte Varnett. »Ich kann hier in der Maschine schlafen, und ihr fliegt mit den beiden anderen zurück. Wenn sich irgend etwas ergibt, sage ich euch Bescheid. Dann kann mich morgen jemand ablösen.«

Alle waren damit einverstanden, und sie kehrten bis auf Varnett ins Lager zurück.

Fast alle legten sich sofort schlafen, nur Skander und Dunna gaben ihre Aufzeichnungen noch in die Datenbank ein, dann suchten auch sie ihre Quartiere auf.

Skander saß auf der Kante seines Bettes, zu erregt, um Müdigkeit zu spüren. Seltsamerweise fühlte er sich statt dessen in Hochstimmung, aufgeputscht wie von Adrenalinstößen.

Ich muß das Spiel riskieren, dachte er. Ich muß davon ausgehen, daß das wirklich das Tor zum Gehirn ist. In weniger als fünfzig Tagen wird diese Mannschaft ausgetauscht, und sie werden nach Hause gehen und das Geheimnis ausplaudern. Dann werden alle Bescheid wissen, und die Statisten der Konföderation gewinnen die Macht.

War es das, was mit den Markoviern geschehen war? Waren sie zu einem solchen Gemeinschaftsparadies geworden, daß sie stagnierten und ausstarben?

Nein! sagte er sich. Nicht für sie! Ich werde sterben oder die Menschheit retten!

Er ging zuerst zur Datenbank und löschte alle Informationen. Als er fertig war, blieb nichts übrig; dann zerstörte er die Maschinen, damit niemand auch nur den entferntesten Hinweis finden konnte. Anschließend ging er zum Hauptkontrollzentrum. Dort wurden die atmosphärischen Bedingungen hergestellt. Langsam und methodisch stellte er alle Systeme bis auf den Sauerstoff ab. Er wartete dort fast eine Stunde, bis die Meßgeräte anzeigten, daß die Luft überall in den Zelten fast ausschließlich aus Sauerstoff bestand.

Dann ging er bedächtig zur Luftschleuse, darauf bedacht, nirgends anzustreifen oder irgendeinen Funken hervorzurufen. Obwohl ihn die Möglichkeit nervös machte, daß einer der Schläfer wach werden und den Funken erzeugen mochte, nahm er sich die Zeit, seinen Druckanzug anzuziehen und alle anderen Anzüge mit hinauszunehmen.

Als nächstes holte er aus dem Notkoffer eines der Flugzeuge ein kleines Kästchen und öffnete es.

Vorgefertigte Geräte für alle Gelegenheiten. Es war eine Leuchtpistole.

Das Loch, das sie hervorrief, würde durch die automatischen Anlagen binnen Sekunden abgedichtet werden, aber nicht, bevor sich der Sauerstoff im Inneren entzündet hatte.

Es war in einem plötzlichen Aufflammen vorbei, wie Flammpapier.

Danach konnte er die dem Vakuum ausgesetzten Überreste der Schlafenden sehen, deren verkohlte Leiber noch in ihren Betten lagen.

Sieben erledigt, bleibt noch einer, dachte er ohne Reue.

Er stieg in ein Flugzeug und flog zum Nordpol. Er schaute auf den Chronometer. Der Rückflug hatte neun Stunden in Anspruch genommen, drei Stunden lang hatte er seine Arbeit getan; und nun noch einmal neun, um zum Pol zu gelangen.

Ungefähr eine Stunde übrig, bis das Loch sich wieder öffnete.

Genug Zeit für Varnett.

Es schien Tage zu dauern, bis Skander ankam, aber der Chronometer zeigte knapp über neun Stunden an.

Als er über den Horizont kam, suchte er nach Varnetts Flugzeug. Es war nirgends zu sehen.

Plötzlich entdeckte Skander es — am Boden, dort unten auf der Polebene. Er bremste und schwebte über ihm. Plötzlich erkannte er in der Düsternis nahe dem Mittelpunkt der Ebene einen winzigen weißen Punkt.

Varnett! Er würde als erster hineingelangen!

Varnett entdeckte eine Bewegung und schaute zum Flugzeug hinauf. Plötzlich begann er auf sein eigenes zuzulaufen.

Skander schoß auf ihn herab, so niedrig über dem Boden, daß er einen Absturz befürchtete. Varnett duckte und überschlug sich, war aber unverletzt.

Skander verfluchte sich und beschloß zu landen. Er hatte immer noch das Messer, und es mochte genügen. Er nahm die Leuchtpistole mit, die, wenn sie den Anzug auch nicht zu durchdringen vermochte, durch blendendes Licht ablenken konnte. Er war kein großer Mann, aber einen Kopf größer als der Junge, und im übrigen schienen ihm die Chancen ausgeglichen zu sein.

Er landete bei Varnetts Flugzeug, sprang heraus, die Leuchtpistole in der rechten, das Messer in der linken Hand. Er verfluchte die Dunkelheit und die Tatsache, daß er den Blick von Varnett hatte abwenden müssen, um landen zu können.

Varnett war verschwunden.

Bevor Skander sich damit auseinandersetzen konnte, sprang eine weiße Gestalt vom anderen Flugzeug herab, ihm in den Rücken. Skander stürzte hin und verlor die Leuchtpistole.

Die beiden Gestalten rollten über den felsigen Boden und rangen um das Messer. Skander war größer, aber älter und körperlich in schlechterer Verfassung als Varnett. Schließlich stieß Skander den Jungen weg und ging mit dem Messer auf ihn los. Varnett ließ ihn ganz nah herankommen; als das Messer vorschnellte, packte der Junge zu und bekam das Handgelenk Skanders zu fassen. Die beiden rangen und ächzten in ihren Anzügen, während Skander mit dem Messer zuzustoßen versuchte.

Sie waren in dieser Stellung, als plötzlich das Loch aufging.

Sie befanden sich bereits beide darin.

Beide verschwanden.

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