30

»Dir ist ein Netz eingepflanzt worden.«

Von irgendwoher drangen die Worte an meine Ohren, unbestimmt, leise; und vergeblich versuchte ich mich zu bewegen.

Ich öffnete die Augen und starrte in die flammenden Augen Parps. Hinter ihm leuchtete eine Batterie von Energielampen, die mich blendete.

Seitlich stand ein dünner Priesterkönig, der schon ziemlich alt zu sein schien. Seine Antennen waren wachsam auf mich gerichtet.

Mit Stahlbändern war ich auf eine schmale rollbare Plattform gefesselt; man hatte sogar Hals und Hüften abgesichert.

»Ich möchte dir den Priesterkönig Kusk vorstellen«, sagte Parp und deutete auf die große Gestalt.

Das wäre also der Priesterkönig, dachte ich, der Al-Ka " und Ba-Ta geschaffen hat – der führende Biologe im Nest.

Ich sah mich um und entdeckte Geräte, wie sie in jedem Operationssaal zu finden waren.

»Du hast jetzt die Ehre, ein Wesen der Priesterkönige zu sein«, sagte Parp lächelnd, und mich überkam Übelkeit.

Obwohl ich keinen Schmerz verspürte, war mir klar, daß nun ein Netz in mein Gehirn eingebettet war, das vom Beobachtungsraum aus kontrolliert werden konnte. Ich fragte mich, welche Gefühle mich erfüllen würden, wenn mir mein Wille entzogen wurde. Doch noch größer war meine Angst bei dem Gedanken, daß ich als Spion zu Misk geschickt werden und den Befehl erhalten könnte, meinem Freund zu schaden.

»Wer hat das getan?« fragte ich.

»Ich«, sagte Parp. »Die Operation ist nicht sehr schwierig; ich habe sie schon oft durchgeführt.«

»Er ist Mitglied der Kaste der Ärzte«, sagte Kusk, »und sehr geschickt.«

»Aus welcher Stadt?« fragte ich.

Parp musterte mich eindringlich. »Treve«, sagte er schließlich.

Ich überlegte, ob ich mich umbringen sollte, solange ich noch Herr meiner Entschlüsse war – doch der Gedanke an Selbstmord schreckte mich.

Parp rollte die Plattform aus dem Raum.

»Du bist ein Mensch«, sagte ich, »bring mich um.«

Aber er lachte nur. Als im Tunnel die Tür hinter uns zufiel, löste er einen Beutel von seinem Gürtel, nahm eine kleine scharfe Klinge heraus und kratzte mir damit über den Arm.

Die Decke über mir begann zu kreisen. »Sleen!« fluchte ich und verlor das Bewußtsein.

Mein Gefängnis war eine Gummischeibe – etwa dreißig Zentimeter dick und drei Meter im Durchmesser. In der Mitte befand sich ein Eisenring, von dem aus eine schwere Kette zu einem Band um meinen Hals führte.

Auch meine Hände und Füße waren gefesselt.

Die Scheibe befand sich in Sarms Hauptquartier, der es sichtlich genoß, mich bei sich zu haben. Gelegentlich stolzierte er um mich herum und erzählte mir von seinen erfolgreichen Kampfplänen und Strategien.

Ich stellte fest, daß die Hornklinge, die ich in der Kammer der Mutter abgeschlagen hatte, inzwischen nachgewachsen war.

Sarm zeigte mir das neue Glied, das goldener und frischer wirkte als der übrige Körper. »Eine weitere Überlegenheit der Priesterkönige!« sagte er und krümmte seine Fühler.

Ich gab ihm im stillen recht.

Ob Sarms Informationen zutrafen, konnte ich nicht beurteilen, doch nebenbei erfuhr ich so allerlei – aus den Berichten von Priesterkönigen und den wenigen Eingepflanzten, die ihm dienten.

Tagelang verbrachte ich hilflos auf der Gummimatte, ohne daß Sarm mein Kontrollnetz aktivierte und mich in den Einsatz schickte.

Parp lungerte oft in der Nähe herum und beschäftigte sich mit seiner Pfeife, die er ständig neu entzünden musste – mit dem silbernen Anzünder, den ich einmal für eine Waffe gehalten hatte.

Der Einsatz der Schwerkraftkanonen hatte aufgehört. Es stellte sich heraus, daß Misk über eine ähnliche Waffe verfügte, die nun stillschweigend nicht mehr zum Einsatz kam. Allerdings waren auf beiden Seiten neue Schiffe ins Feld geführt worden, speziell ausgerüstete Transportscheiben. Doch die Luftflotten schienen sich in der Kampfkraft etwa zu entsprechen, so daß sich hier bald ebenso ein Gleichgewicht ergab wie bei den Bodenkämpfen.

Kurz nach dem Fehlschlag mit den Schwerkraftkanonen ließ Sarm Krankheitserreger in Misks Höhlengebiet verbreiten – Erreger, die es zum Teil seit Jahrhunderten nicht mehr im Nest gegeben hatte. Doch trotz der Bösartigkeit dieser Bakterien war die extreme Reinlichkeit der Priesterkönige und Muls, zusammen mit bestimmten Bakterienstrahlen, eine gute Gegenwaffe.

Am heimtückischsten und unnatürlichsten –jedenfalls für einen Priesterkönig – war der Einsatz der Goldenen Käfer, die aus ihren Höhlen in das Nestsystem gelassen wurden. Etwa zweihundert Käfer wurden mit Transportscheiben, die ferngesteuert wurden, durch die Tunnel in die von Misk beherrschten Systeme getrieben.

Die Ausscheidung der Kopfhaare des Goldenen Käfers hat offenbar eine sehr starke und für den Menschen unverständliche Wirkung auf die hochempfindlichen Sinnesorgane der Priesterkönige. Der Duft macht sie hilflos, hypnotisiert sie fast, schickt sie in die Kiefer des Goldenen Käfers, der sich mühelos auf sie stürzen kann.

Misks Priesterkönige begannen ihre Verstecke zu verlassen, kamen mit vorgeneigten Körpern auf die Straßen, die Fühler zu den Käfern hingestreckt. Die goldenen Wesen schwiegen, gaben ihren verwirrten menschlichen Helfern keine Erklärung – sie legten einfach die Waffen nieder und näherten sich den Käfern.

Offenbar begriff ein ungenanntes Mul-Mädchen als erste die Situation.

Einem verwirrten Hirten entriß sie den Stab und stürzte sich damit auf einen Käfer, scheuchte ihn erfolgreich zurück. Sofort kamen ihr andere Menschen zu Hilfe, und die Käfer machten kehrt.

Einen Tag später begannen auch Sarms Kämpfer ihre Waffen fortzulegen und ergaben sich, wie es bei den Priesterkönigen heißt, den Wonnen des Goldenen Käfers.

Schon wanderten die Käfer durch das ganze Nest – und bildeten eine größere Bedrohung für Sarms Streitkräfte als für Misk, denn inzwischen wagte sich keiner von Misks Priesterkönigen ohne menschliche Eskorte in die Tunnel.

Immer mehr Käfer ließen sich in Sarms Hinterland sehen, und die Gefahr wurde schließlich so groß, daß alle Eingepflanzten – und sogar Parp – losgeschickt wurden, um Priesterkönige zu beschützen.

Seltsamerweise gestattete es weder Misk noch Sarm, daß Käfer getötet wurden, denn für die Priesterkönige haben diese Wesen eine besondere Bedeutung.

Die Goldenen Käfer zwangen Sarm, sich an die Menschen um Hilfe zu wenden, die besonders in den gut gelüfteten Teilen des Nests unempfindlich waren gegen den narkotischen Duft der Insekten.

Entsprechend gab Sarm überall im Nest eine Amnestie für die früheren Muls bekannt und bot ihnen die Gelegenheit, wieder Sklaven der Priesterkönige zu werden. Diesem großzügigen Angebot, das er selbst wohl für nicht gerade unwiderstehlich hielt, fügte er noch das Versprechen auf zwei Töpfe Salz pro Mann und zwei weibliche Muls an, die nach Misks Niederlage zur Verfügung gestellt werden sollten, wenn es hoffentlich Frauen zürn Verteilen geben würde. Den Frauen in Misks Streitkräften bot er Gold, Juwelen, Edelsteine und Seidenstoffe, die Erlaubnis, ihr Haar wachsen zu lassen, und männliche Sklaven. Und er wies darauf hin, daß in Anbetracht seiner überlegenen Kampfkraft der Ausgang des Krieges eigentlich schon feststand.

Zwar hätte ich Misk auf keinen Fall im Stich gelassen, doch ich musste mir eingestehen, daß Sarm mit seiner Einschätzung der Lage wahrscheinlich recht hatte und daß seine Angebote einigen ehemaligen Muls durchaus interessant vorkommen mussten – besonders jenen, die vor Ausbruch des Krieges wichtige Posten innegehabt hatten.

So hätte es mich nicht überraschen dürfen, daß mir als erster Überläufer Vika aus Treve vor die Augen kam – aber ich war dennoch überrascht.

Ich erfuhr davon, als ich eines Morgens in meinen Fesseln vom scharfen Biss einer Lederpeitsche geweckt wurde. Wütend rappelte ich mich auf.

Dann hörte ich ihr Lachen und wusste Bescheid.

Vika schüttelte den Schleier von ihrem Gesicht, warf den Kopf zurück und lachte. Dann schlug sie mich ein zweites Mal.

»Na«, zischte sie, »wer ist jetzt der Herr?«

»Ich hatte recht mit meiner Meinung über dich«, sagte ich ruhig.

»Was meinst du?« fragte sie.

»Du bist es nicht wert!« sagte ich.

Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, und sie begann auf mich einzuschlagen.

»Du darfst ihn nicht verletzen«, sagte Sarm, der hinter ihr stand.

»Er ist mein Sklave!« sagte sie heftig atmend.

Sarm krümmte seine Fühler. »Du bekommst ihn erst, wenn wir gesiegt haben«, sagte er. »Bis dahin habe ich noch Pläne mit ihm.«

Vika machte auf dem Absatz kehrt und verließ Sarms Hauptquartier.

Sarm trat zu mir. »Du siehst, Mul, wie wir Priesterkönige die Instinkte der Menschen auszunutzen verstehen.«

»Ja«, sagte ich.

Mehr noch als die Peitschenschläge schmerzte mich die Erkenntnis, daß mich Vika trotz meines realen Urteils enttäuscht hatte.

Sarm näherte sich einer Kontrolltafel. »Ich aktiviere jetzt dein Kontrollnetz«, sagte er.

Ich spannte meine Muskeln.

»Die einleitenden Versuche sind ganz einfach«, sagte Sarm, »und interessieren dich vielleicht.«

Parp hatte den Raum betreten und stellte sich neben mich, wobei er an seiner Pfeife zog. Ich sah, daß er sein Übersetzungsgerät abschaltete.

Sarn drehte einen Knopf.

»Schließ die Augen«, flüsterte Parp.

Ich spürte keinen Schmerz. Sarm starrte mich an.

»Vielleicht mehr Energie«, sagte Parp laut, so daß seine Worte von Sarms Übersetzer aufgefangen wurden.

Sarm betätigte noch einmal den Knopf.

»Schließ die Augen«, flüsterte Parp etwas lauter.

Aus irgendeinem Grund gehorchte ich.

»öffne sie.«

Ich gehorchte.

»Senkeden Kopf.«

Ich gehorchte.

»Jetzt den Kopf im Uhrzeigersinn drehen«, sagte Parp. »Und jetzt entgegengesetzt.«

Verwundert befolgte ich seine Kommandos.

»Du bist bewußtlos gewesen«, informierte mich Parp. »Jetzt stehst du nicht mehr unter Kontrolle.«

Ich drehte mich um und sah, daß Sarm die Maschine abgestellt hatte.

»Woran erinnerst du dich?« fragte Sarm.

»An nichts.«

»Die Sensorendaten überprüfen wir später«, sagte der Priesterkönig.

»Die ersten Reaktionen sind sehr viel versprechend«, bemerkte Parp laut.

»Ja«, erwiderte Sarm. »Du hast ausgezeichnet gearbeitet.« Und er verließ den Raum.

Ich wandte mich an Parp, der mich anlächelte. »Du hast mich nicht eingepflanzt.«

»Natürlich nicht.«

»Was ist mit Kusk?«

»Er gehört zu uns.«

»Aber wieso?«

»Du hast seine Kinder gerettet.«

»Aber er hat doch gar keine Kinder.«

»Al-Ka und Ba-Ta«, sagte Parp. »Glaubst du, ein Priesterkönig kann nicht lieben?«

Nun fiel mir mein Aufenthalt auf der Gummischeibe nicht mehr so schwer.

Ich erfuhr aus Gesprächen im Hauptquartier, daß nur wenige Menschen zu Sarm übergelaufen waren. Soweit ich mitbekam, hatte sich nur eine Handvoll Männer und Frauen von Sarms Versprechungen anlocken lassen. Auch als Sarm die Kammersklavinnen aus der Halle der Priesterkönige holen ließ und als Lockpreise aussetzte, meldete sich nur etwa ein halbes Dutzend Männer, um Anspruch auf. die hübschen Mädchen zu erheben. Im Verlaufe des Krieges beeindruckte mich die Loyalität und der Mut der Männer und Frauen im Dienste Misks – Menschen, die für ein wenig Fungus und Wasser und Freiheit in einen der seltsamsten Kriege aller Zeiten eingriffen.

Vika kam jeden Tag ins Hauptquartier, um mich zu verhöhnen, doch sie durfte mich nicht mehr auspeitschen. Ich vermutete, daß es einen Grund für ihren Hass gab, dessen Intensität mich aber überraschte.

Später erhielt sie den Auftrag, für meine Ernährung zu sorgen, und fand großen Spaß daran, mir Fungusbrocken hinzuwerfen oder mich Wasser schlecken zu lassen. Ich verweigerte ihre Gaben nicht, da ich bei Kräften bleiben wollte. Man wusste nie, wozu man das noch brauchen konnte.

Bei diesen Anlässen war auch oft Sarm zugegen, der uns mit vorgestreckten Fühlern beobachtete. Er schien sich schnell an den neuen weiblichen Mul zu gewöhnen und bat sie manchmal auch, ihn zu kämmen – eine Aufgabe, die ihr Spaß zu machen schien.

Aus irgendeinem Grunde irritierte mich das, was ich zweifellos nur schlecht verhehlte, denn sie kümmerte sich stets mit großer Bereitwilligkeit um den Priesterkönig.

Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß ich sie gern in die Arme genommen hätte – doch ich schüttelte diese Sehnsüchte ab.

Inzwischen begann sich das Kriegsgeschick langsam gegen Sarm zu wenden – eine unglaubliche Entwicklung. Das bemerkenswerteste Einzelereignis der folgenden Tage war eine Delegation von Sarms Priesterkönigen, die unter Leitung Kusks zu Misk überlief. Diese Tat war offensichtlich das Ergebnis langwieriger Überlegungen und Gespräche im Kreise der betroffenen Priesterkönige, die Sarm gefolgt waren, weil er der Erstgeborene war, die aber seither viel an seiner Kriegführung auszusetzen hatten – die Behandlung der Muls, den Einsatz der Schwerkraftkanonen, die Verwendung von Krankheitserregern und schließlich der – für Priesterkönige undenkbare – Trick mit den Goldenen Käfern. Kusk und seine Priesterkönige liefen zu einer Zeit über, da die eigentlichen Kämpfe noch unentschieden waren, so daß sich nicht behaupten ließ, daß ihre Entscheidung von persönlichen Interessen bestimmt war; zu der Zeit sah es noch ganz so aus, als liefen sie zur Verliererseite über. Aber es dauerte nicht lange, bis auch andere Priesterkönige, von Kusks Entscheidung überrascht, eine Beendigung des Krieges zu fordern begannen, und es gab weitere Überläufer. In seiner Verzweiflung trommelte Sarm seine Streitkräfte zusammen, rüstete sechs Dutzend Transportscheiben aus und stieß in Misks Tunnelsystem vor. Offenbar hatte dieser auf eine solche Attacke gewartet, denn die Scheiben zerschellten an Barrikaden oder vergingen im intensiven Feuer versteckter Stellungen. Nur vier Gleiter kehrten zurück.

Es wurde nun deutlich, daß Sarm in die Defensive gedrängt worden war, denn ich hörte Befehle, wonach Tunnel zu blockieren waren, die in seine Gebiete führten. Einmal hörte ich das Zischen von Silberröhren – nur wenige hundert Meter entfernt. Verzweifelt lehnte ich mich gegen den eisernen Griff meiner Fesseln auf. Hilflos musste ich miterleben, wie der Krieg in den Straßen draußen ohne mich entschieden wurde.

Dann trat eine Ruhepause ein, und ich vermutete, daß Sarms Streitkräfte zurückgetrieben worden waren. Nun begann sich auch der Mangel an Nahrungsmitteln bemerkbar zu machen; meine Rationen fielen immer spärlicher aus.

In dieser Situation verheimlichte Sarm mir nicht mehr, warum er mich am Leben erhalten hatte. »Es heißt, daß zwischen dir und Misk Nestvertrauen besteht. Wenn das stimmt, wird er bereit sein, für dich zu sterben.«

»Was soll das?«

»Sein Leben gegen das deine.«

»Niemals!«

»Nein!« rief Vika. »Er gehört mir!«

»Keine Angst, kleiner Mul«, sagte Sarm. »Wir bekommen Misk – und du bekommst deinen Sklaven!« »Sarm ist heimtückisch«, sagte ich. »Sarm ist ein Priesterkönig«, sagte er.

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