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Ich wandte mich an Misk. »Ich muß dir sagen, daß ich in das Sardargebirge gekommen bin, um die Priesterkönige zu töten – aus Rache für die Vernichtung meiner Stadt und ihrer Einwohner.«
Ich hielt es nur für fair, Misk über meine Absichten aufzuklären.
»Nein«, entgegnete Misk, »du bist ins Sardargebirge gekommen, um die Rasse der Priesterkönige zu retten.«
Ich starrte ihn verblüfft an.
»Ich bin aber aus eigenem Willen gekommen! Weil meine Stadt vernichtet wurde.«
»Deshalb wurde sie ja vernichtet.«
Ich wandte mich ab. Tränen brannten mir in den Augen. »Wenn ich mein Schwert bei mir hätte«, sagte ich schließlich, »würde ich deinen jungen Schüler umbringen.«
»Nein«, sagte Misk, »und eben aus diesem Grunde bist du in dieses Gebirge geholt worden.«
Ich eilte an das Kopfende der Steinplattform und hob meine Fackel, als wollte ich damit zuschlagen. Aber ich brachte es nicht fertig.
»Du wirst ihm keinen Schaden zufügen, denn er ist unschuldig«, sagte Misk. »Ich kenne dich.«
»Woher?«
»Weil du zu den Cabots gehörst, und diese Familie ist uns gut bekannt – schon seit über vierhundert Jahren.«
»Ihr habt meinen Vater umgebracht!« rief ich.
»Nein – er lebt, ebenso wie viele andere Einwohner Ko-ro-bas – aber sie sind überall auf Gor verstreut.«
»Und Talena?«
»Soweit ich weiß, ist sie noch am Leben«, sagte Misk, »aber wir können nicht nach ihr oder anderen Landsleuten von dir forschen, ohne den Verdacht zu erwecken, daß wir dich bevorzugen.«
»Warum habt ihr mich nicht einfach geholt – warum musstet ihr erst eine Stadt vernichten?«
»Um unsere Motive vor Sarm geheimzuhalten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Von Zeit zu Zeit vernichten wir eine Stadt, die wir mit einem Zufallswähler bestimmen. Dadurch werden die niederen Schichten an die Macht der Priesterkönige erinnert.«
»Aber wenn die Stadt nichts Unrechtes getan hat?«
»Um so besser! Dann fürchten uns die Menschen im Schatten der Berge noch mehr. Außerdem kommen uns die Wissenden zu Hilfe. Sie erfinden eine Begründung für die Zerstörung der Stadt – in deinem Falle schoben sie dir die Schuld zu.«
»Und was sollte die Episode vor sieben Jahren – die Belagerung Ars, das Imperium von Marlenus?«
»Damit wurdest du getestet«, sagte Misk. »Sarm hielt dich für den richtigen Mann, den Eroberungsdrang Ars einzudämmen. Wir halten es für besser, wenn sich die Menschen in getrennten Gemeinschaften entwickeln – besser auch vom wissenschaftlichen Standpunkt, und es ist sicherer für sie und für uns, wenn sie in Uneinigkeit leben.«
»Deshalb also auch die Beschränkungen in der Technologie und Waffenkunde?«
»Natürlich – allerdings haben wir den Fortschritt auf manchen Gebieten – etwa in der Medizin – nicht gebremst. Du wirst bemerkt haben, daß du seit deinem ersten Besuch auf der Gegenerde nicht mehr sichtlich gealtert bist. Natürlich sind die Seren der Menschen nicht ganz so wirksam wie die unseren; ihre Wirkung lässt oft schon nach einigen hundert Jahren nach.«
»Wie angenehm.«
»Im großen und ganzen«, sagte Misk und starrte auf mich herab, »mischen sich die Priesterkönige in die Angelegenheiten der Menschen nicht ein. Sie dürfen nach eigenem Ermessen lieben oder töten – was sie anscheinend am liebsten tun.«
»Aber die Akquisitionsreisen?«
»Wir bleiben in Kontakt mit der Erde – denn dieser Planet mag eines Tages zur Gefahr für uns werden. Wenn dies geschieht, müssen wir ihn bremsen, vernichten oder das System verlassen.«
»Und was werdet ihr tun?«
»Wahrscheinlich nichts. Nach unseren Berechnungen, die natürlich nicht stimmen müssen, werden sich die Lebewesen auf der Erde in den nächsten tausend Jahren selbst vernichten.«
Ich schüttelte traurig den Kopf.
»Wie ich schon sagte, ist der Mensch kein rationales Wesen. Was wäre, wenn wir ihm die Straße der Technik nicht versperrten?«
Ich konnte mir gut vorstellen, welche Gefahr die Priesterkönige sahen – ebensogut hätte man Gorillas oder Schimpansen automatische Schnellfeuerwaffen geben können.
»Trotzdem brachten wir den Menschen auf die Gegenerde, denn er ist eine interessante Spezies, um die es schade wäre. Wir haben auch andere Rassen hier angesiedelt.«
»Vielleicht auch das Spinnenvolk?« fragte ich.
»Ja.«
»Es heißt im Schatten der Berge, daß die Priesterkönige alles wissen, was auf dem Planeten vorgeht.«
»Unsinn«, sagte Misk. »Vielleicht zeige ich dir eines Tages den Beobachtungsraum. Dort sitzen ständig vierhundert Priesterkönige an Beobachtungsgeräten – entsprechend gut informiert sind wir. Wenn zum Beispiel gegen unser Waffengesetz verstoßen wird, entdecken wir das früher oder später, und nachdem wir die Koordinaten bestimmt haben, wird der Flammentod-Mechanismus aktiviert.«
Ich hatte einmal mitbekommen, wie ein Mann den Flammentod starb – der Höchste Wissende von Ar, auf dem Dach des Justizzylinders seiner Stadt.
»Ja«, sagte ich schaudernd. »Ich würde gern den Beobachtungsraum sehen.«
»Viele Informationen erhalten wir auch von den Eingepflanzten«, sagte Misk. »Wir versehen Menschen mit einem Kontrollnetz, das mit einem Sender verbunden ist. Die Linsen ihrer Augen werden so angepasst, daß alle Wahrnehmungen über Umwandler auf Duftschirmen im Beobachtungsraum erscheinen. Wir können auch durch diese Wesen sprechen und handeln, wenn das Kontrollnetz vom Sardargebirge aus aktiviert ist.«
»Sehen die Augen dann anders aus?« fragte ich.
»Manchmal.«
»Ist Parp ein Eingepflanzter?«
»Ja«, erwiderte Misk, »ebenso wie der Mann aus Ar, der dir in der Nähe Ko-ro-bas auf der Straße begegnete.«
»Aber dieser Mann wehrte sich gegen das Netz.«
»Vielleicht war die Anlage fehlerhaft.«
»Und wenn nicht?«
»Dann war er ein bemerkenswerter Mann.«
»Du hast gesagt, du kennst die Cabots schon vierhundert Jahre.«
»Ja – dein Vater, der ein ehrenwerter Mann ist, hat uns gelegentlich geholfen, obwohl er es ohne sein Wissen nur mit Eingepflanzten zu tun hatte. Er ist vor über sechshundert Jahren nach Gor gekommen.«
»Unmöglich!« rief ich.
»Mit dem Stabilisierungsserum ist das nicht unmöglich.«
Die Information erschütterte mich. Ich begann zu schwitzen, und die Fackel zitterte in meiner Hand.
»Ich arbeite seit Jahrtausenden gegen Sarm und die anderen«, sagte Misk, »und vor über dreihundert Jahren brachte ich endlich das Ei in meinen Besitz, aus dem dieser männliche Priesterkönig hervorging. Mit Hilfe eines Eingepflanzten – der sich an den Vorgang später nicht erinnerte – ließ ich dann deinen Vater den Brief schreiben, den du in deiner Heimatwelt fandest.«
»Aber damals war ich noch gar nicht geboren!« rief ich verwirrt.
»Dein Vater hatte die Anweisung, dich Tarl zu nennen – und damit er dir nichts von der Gegenerde verriet oder dich von unseren Zielen abzubringen versuchte, wurde er nach Gor zurückgeholt, ehe du größer wurdest.«
»Ich dachte, er hätte meine Mutter im Stich gelassen«, sagte ich.
»Sie wusste Bescheid, denn sie war zuvor auf Gor gewesen.«
»Davon hat sie aber nie etwas gesagt.«
»Matthew Cabot war eine Geisel, die ihr den Mund versiegelte.«
»Aber meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war.. .«
»Ja, wegen eines unangenehmen Bazillus, in eurer verseuchten Atmosphäre!«
Mir taten die Augen weh, wahrscheinlich wegen des Rauchs von der Fackel. Ich dachte an die schöne, einsame Frau, die ich kurz in meiner Kindheit gekannt hatte.
»Warum ist sie nicht auf Gor geblieben?« wollte ich wissen.
»Sie fürchtete sich hier, und dein Vater bat darum, daß sie zur Erde zurückkehren dürfte.«
»Aber ich fand den Brief in den Bergen doch nur zufällig – am Ort meines Nachtlagers.«
Als uns deine Lagerstelle klar wurde, legten wir den Brief dort ab«, sagte Misk.
»Und der Umschlag vernichtete sich selbst. ..«
»Du warst gewarnt.«
»Und die Kompassnadel?«
»Es bereitet keine Schwierigkeit, ein Magnetfeld durcheinander zu bringen.«
»Aber ich kehrte an den Ort zurück, von wo ich geflohen war.«
»Ein erschreckter Mensch neigt dazu, im Kreise zu laufen. Aber es wäre auch egal gewesen. Ich hätte dich überall auflesen können. Ich glaube, du selbst hattest das Gefühl, daß es keinen Ausweg geben konnte, und bist vielleicht aus einem gewissen Stolz an den Ort deines Fundes zurückgekehrt.«
»Ich hatte nur Angst. Als ich dann das Schiff betrat, wurde ich ohnmächtig.«
»Du warst narkotisiert«, sagte Misk.
»Wurde das Schiff vom Sardargebirge aus gesteuert?«
»Es wäre technisch möglich gewesen«, sagte Misk, »aber das Risiko konnte ich nicht eingehen.«
»Dann war es also bemannt.«
»Ja.«
Ich sah den Priesterkönig an.
»Ja – ich habe es gesteuert.« Er schaute auf mich herab. »Es ist spät.
Du musst müde sein.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es wurde also nichts dem Zufall überlassen.«
»Es gibt keine Zufälle – nur Ignoranz.«
»Das kann man nie wissen.«
»Nein«, sagte Misk und neigte seine Antennen in meine Richtung. »Du musst dich jetzt ausruhen.«
»Und was sollte das Zwischenspiel in Vikas Raum?«
»Sarm ist sehr misstrauisch, und er hat für deine Unterbringung, gesorgt.
Er wollte, daß du Vikas Charme erliegst, daß sie dich erobert, dich zum Sklaven ihrer Schönheit macht – wie schon viele vor dir.«
»Ist das möglich?«
»Hundert Männer, stolze Krieger, ließen sich von ihr betören.«
Wieder spürte ich meinen Hass auf dieses Mädchen, und ich ballte die Fäuste. »Was wurde aus ihnen?« fragte ich.
»Sie kamen als Muls zum Einsatz.«
»Ich bin froh, daß ich ihr widerstanden habe.«
»Als du den Beobachtungsapparat in ihrem Zimmer zerstörtest, musste ich schnell handeln.«
Ich lachte. »Dann dachtest du also, du würdest mich retten?«
»Jedenfalls wollten wir das Risiko nicht länger tragen.«
»Du sprichst in der Mehrzahl?«
»Ja.«
»Und wer ist der andere?«
»Das größte Wesen im Nest.«
»Die Mutter?«
»Natürlich.«
Misk berührte mich sanft mit seinen Fühlern. »Komm jetzt«, sagte er.
»Kehren wir in unsere Unterkunft zurück.«
»Warum wurde ich nach der Belagerung Ars zur Erde zurückgeschickt?«
»Um dich mit Hass auf die Priesterkönige zu erfüllen«, erwiderte Misk.
»Um dir den Wunsch einzupflanzen, in das Sardargebirge vorzudringen.«
»Aber warum sieben Jahre?« Es waren grausame, einsame Jahre gewesen.
»Wir warteten.«
»Aber worauf?«
»Dass es ein weibliches Ei gab.«
»Gibt es das jetzt?«
»Ja«, sagte Misk, »aber ich weiß nicht, wo es ist.«
»Wer weiß es denn?«
»Die Mutter.«
»Aber was habe ich mit all dem zu tun?«
»Du gehörst nicht zum Nest, also kannst du das Erforderliche tun.«
»Und was ist das Erforderliche?«
»Sarm muß sterben.«
»Ich möchte Sarm nicht töten.«
»Na gut.«
Ich wunderte mich über den Verlauf des Gesprächs und schaute zu Misk auf. Ich hob sogar meine Fackel, um den großen Kopf mit den breiten schimmernden Augen besser auszumachen.
»Warum ist ein Ei so wichtig?« wollte ich wissen. »Ihr habt die Stabilisationsseren. Gewiß wird es noch viele Eier geben, von denen viele weiblich sind.«
»Aber es ist das letzte Ei.«
»Warum?«
»Die Mutter schlüpfte aus und vollführte ihren Hochzeitsflug, als die Stabilisationsseren noch gar nicht erfunden waren«, sagte Misk. »Wir haben ihr Altern immer wieder hinauszögern können, aber mit den Jahrtausenden schlugen unsere Bemühungen immer weniger an, und jetzt kann es keine neuen Eier mehr geben – die Mutter stirbt.«
Ich schwieg, und das einzige Geräusch in dem klammen Metalllabor war das Zischen meiner Fackel.
»Ja«, sagte Misk schließlich, »das Ende des Nests scheint gekommen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das geht mich nichts an.«
»Richtig«, sagte Misk.
Wir starrten uns an. »Also«, fragte ich, »willst du mich bedrohen?«
»Nein.«
»Willst du nicht meinen Vater oder meine Freie Gefährtin fangen lassen und sie umbringen, wenn ich dir nicht diene?«
»Nein, nein.«
»Warum nicht? Bist du kein Priesterkönig?«
»Weil ich Priesterkönig bin. Nicht alle Priesterkönige sind wie Sarm«, sagte er und starrte auf mich herab. »Komm, es ist spät, und du bist müde. Wir legen uns oben schlafen.«
Misk verließ den Raum, und ich folgte ihm mit der Fackel.