12

Mitten in dem riesigen, hellerleuchteten Amphitheater kam die Scheibe auf einem Marmorplatz zum Stillstand. Ringsum erstreckte sich die fantastische Architektur des Nests der Priesterkönige. Der Platz war belebt. Ich sah nicht nur Priesterkönige, sondern auch zahlreiche andere Wesen verschiedener Form und Art. Auch viele Männer und Frauen gingen barfuß und mit geschorenem Kopf über den Platz.

»Sind das Sklaven?« fragte ich. »Sie tragen keine Kragen.« »Es ist nicht erforderlich, einen Unterschied zwischen freien Menschen und Sklaven zu machen«, sagte Misk, »denn im Nest sind alle Menschen Sklaven.«

»Warum sind sie kahlköpfig?«

»Das ist sauberer.«

»Wir müssen uns beeilen«, drängte Sarm. Ich erfuhr später, daß seine Unruhe auf die Angst zurückzuführen war, sich auf diesem öffentlichen Platz zu beschmutzen. Hier gab es Menschen!

»Soll ich auch geschoren und in purpurne Sklavenkleidung gesteckt werden?« Ich legte die Hand auf den Schwertgriff.

»Vielleicht nicht«, sagte Sarm. »Es mag sein, daß er vernichtet wird. Ich muß zuerst die Duftbänder überprüfen.«

»Er darf nicht sofort vernichtet werden«, sagte Misk. »Auch wird er nicht geschoren und wie ein Sklave gekleidet – das ist der Wunsch der Mutter.«

»Was hat sie damit zu tun?« wollte Sarm wissen.

»Viel«, sagte Misk.

Sarm schien ratlos zu sein. Seine Fühler zuckten nervös. »Ist er aus bestimmtem Grund in die Tunnel geholt worden?«

»Ich bin von allein gekommen«, schaltete ich mich ein.

»Unsinn«, sagte Misk.

»Was soll er hier in den Tunnels?« fragte Sarm.

»Das weiß nur die Mutter«, sagte Misk.

»Ich bin der Erstgeborene«, sagte Sarm.

»Sie ist die Mutter«, entgegnete Misk.

»Na gut«, sagte Sarm und wandte sich ab. Ich spürte, daß er ziemlich aufgebracht war. »Beeilen wir uns!«

»Dein Schwert«, sagte Misk und streckte mir ein Vorderbein entgegen.

Obwohl ich mich zuerst weigern wollte, löste ich schließlich doch den Schwertgürtel und reichte Misk die Waffe.

Sarm, der in dem langen Raum auf einer Art Podest stand, wandte sich zufrieden ab.

Er trat an eine Wand, an der zahlreiche winzige Knöpfe zu sehen waren.

Einige zog er heraus. Sie schienen an schmalen Schnüren befestigt zu sein, die er zusammen mit den Knöpfen aus der Wand zog und zwischen seinen Fühlern hindurchführte.

Eine Ahn verging. Unruhig schritt ich auf und ab. Misk verharrte unbeweglich.

»Die Duftbänder verraten nichts«, sagte Sarm schließlich.

»Natürlich nicht. Zunächst ist es der Wunsch der Mutter, daß dieses Wesen als Matok leben soll.«

»Was ist das?« fragte ich.

»Ein Wesen, das im Nest lebt, aber nicht zum Nest gehört«, erklärte Misk.

»Wie das Wurmwesen«, sagte ich leise.

»Wenn es nach mir ginge, käme er ins Vivarium oder in die Vernichtungskammer.«

»Aber das ist nicht der Wunsch der Mutter. Die Mutter ist das Nest, und das Nest ist die Mutter«, sagte Misk.

»Ja«, erwiderte Sarm, und die beiden Priesterkönige traten aufeinander zu und führten sanft ihre Antennen zusammen.

Als sie sich voneinander lösten, wandte sich Sarm an mich. »Trotzdem werde ich mit der Mutter über diese Angelegenheit sprechen. Man hätte mich fragen müssen, denn ich bin der Erstgeborene.«

»Ja«, sagte Misk.

»Das Ding ist gefährlich«, sagte Sarm. »Es muß vernichtet werden.«

Dann wandte er sich ab und drückte auf einen Knopf.

Im nächsten Augenblick glitt eine Tür auf, und zwei gutaussehende junge Männer, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, traten ein und stellten sich vor der Empore auf. Sie hatten geschorene Köpfe und trugen die purpurne Sklaventunika.

Auf ein Zeichen Sarms warfen sie sich vor ihm zu Boden und standen wieder auf.

»Ich bin Tarl Cabot aus Ko-ro-ba«, sagte ich zu den beiden und streckte meine Hand aus.

Aber sie schienen sie nicht einmal zu bemerken. Ich hielt sie für eineiige Zwillinge. Sie hatten gut geformte Köpfe, breite Körper und strahlten Kraft und Selbstsicherheit aus.

»Ihr dürft sprechen«, sagte Sarm.

»Ich bin Mul Al-Ka«, sagte der eine, »unwürdiger Sklave der ruhmreichen Priesterkönige.«

»Ich bin Mul Ba-Ta«, sagte der andere, »unwürdiger Sklave der ruhmreichen Priesterkönige.«

»Im Nest wird das Wort ›Mul‹ verwendet, wenn von einem menschlichen Sklaven die Rede ist«, erklärte Misk.

Ich nickte. Die Begriffe »Al-Ka« und »Ba-Ta« stehen für die beiden ersten Buchstaben des goreanischen Alphabets, so daß die beiden Sklaven keine Namen hatten, sondern nur A und B genannt wurden.

Ich wandte mich an Sarm. »Wahrscheinlich gibt es doch mehr als achtundzwanzig menschliche Sklaven.« Das goreanische Alphabet hatte achtundzwanzig Buchstaben.

»Andere tragen Zahlen«, erwiderte der Priesterkönig. »Wenn einer stirbt, wird die Nummer neu vergeben.«

»Und warum tragen die Sklaven keine Nummer?« wollte ich wissen.

»Weil sie etwas Besonderes sind. Kannst du raten, welcher der beiden synthetisiert worden ist?«

Ich muß ziemlich erschrocken zusammengefahren sein.

Sarms Tentakel kicherten.

»Ja«, sagte Sarm. »Einer ist synthetisiert – zunächst aus der Synthese von Proteinmolekülen, woraufhin sich dann ein Molekül auf das andere formte. Es ist ein künstlich konstruierter Mensch. Kusk, ein Priesterkönig, hat zweihundert Jahre dazu gebraucht – für ihn kein Problem, eine Erholung von seinen ernsthaften biologischen Forschungsarbeiten.«

Ich erschauerte. »Was ist mit dem anderen?« fragte ich.

»Auch der ist eine interessante Arbeit Kusks«, sagte Sarm. »Das Produkt genetischer Manipulation. Und von nicht geringer Bedeutung ist die Übereinstimmung der beiden.«

Ich begann zu schwitzen. Es stimmte, ich hätte die Männer – wenn es wirklich Männer waren – nicht auseinanderhalten können.

»Kusk ist wirklich ein Meister seines Faches, einer der Großen des Nestes.«

Sarms Fühler wickelten sich umeinander. Er schien sich sehr zu amüsieren.

»Es ist spät«, sagte Misk. »Wenn der Matok im Nest bleiben soll, muß er behandelt werden.«

»Ja«, sagte Sarm, aber er schien es nicht wirklich eilig zu haben. »Sieh sie dir ehrfürchtig an, Matok«, sagte er und deutete auf die beiden Muls.

»Sie sind das Produkt der Priesterkönige und die vollkommensten Exemplare deiner Rasse, die es je gegeben hat.«

Ich fragte mich, was Misk mit seiner ›Behandlung‹ meinte, aber Sarms Worte ärgerten mich, und ich sagte deshalb: »Das glaube ich nicht.«

»Sie sind symmetrisch geformt«, erläuterte Sarm. »Außerdem sind sie intelligent, kräftig und bei bester Gesundheit.« Sarm schien auf eine Antwort zu warten, doch ich schwieg. »Außerdem leben sie von Fungus und Wasser und waschen sich zwölfmal am Tag.«

Ich lachte. »Bei den Priesterkönigen!« rief ich, ehe ich den gebräuchlichen goreanischen Ausruf zurückhalten konnte, der hier etwas fehl am Platze war.

»Warum bist du erheitert?« fragte Sarm.

»Du nennst sie vollkommene Menschen?« fragte ich und deutete auf die beiden Sklaven.

»Natürlich«, sagte Sarm.

»Natürlich«, sagte Misk.

»Vollkommene Sklaven!« rief ich.

»Der vollkommenste Mensch ist natürlich der vollkommenste Sklave.«

»Der vollkommenste Mensch«, erwiderte ich, »ist frei.«

Die beiden Sklaven schienen mich verwundert anzusehen.

»Sie haben nicht den Wunsch, frei zu sein«, sagte Misk und wandte sich an die beiden Männer. »Was ist eure größte Freude, Muls?« fragte er.

»Sklaven der Priesterkönige zu sein«, antworteten sie wie aus einem Munde.

»Siehst du?« fragte Misk.

»Ja«, sagte ich. »Ich sehe jetzt, daß sie keine Menschen sind. Warum laßt ihr euren Kusk nicht einmal einen Priesterkönig synthetisieren?«

Sarm schien vor Wut zu zittern.

Misk hatte sich nicht bewegt. »Das wäre unmoralisch«, sagte er.

Sarm wandte sich an Misk. »Hätte die Mutter etwas dagegen, wenn dieses Wesen gestraft würde?«

»Ja, aber nur, wenn es dabei zu Schaden käme.«

»Gut«, sagte Sarm und befahl den beiden Sklaven: »Straft den Matok, aber verletzt ihn nicht.«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, als die beiden Sklaven auch schon auf mich losgingen.

Ich reagierte sofort und begann meinerseits einen Angriff. Einen der Männer stieß ich mit meinem linken Arm zur Seite und schlug dem anderen eine Rechte ins Gesicht. Der Kopf schnappte zurück, und seine Knie wurden ihm weich. Ehe der andere sein Gleichgewicht zurückerlangen konnte, sprang ich ihn an, hob ihn über meinen Kopf und schmetterte ihn zu Boden. Er rollte sofort auf den Bauch. Ich hätte ihm nun mühelos das Genick brechen können, aber ich wollte den beiden nicht schaden.

Ich fand, daß die Sklaven sehr kampfunerfahren sein mussten.

Ich drehte mich zu Sarm und Misk um, die den Kampf reglos verfolgt hatten.

»Tu ihnen nicht weh«, sagte Misk. »Vielleicht hat der Matok recht«, wandte er sich dann an Sarm. »Vielleicht sind sie keine vollkommenen Menschen.«

»Vielleicht«, sagte Sarm.

Einer der Sklaven hob schwach die Hand. In seinen Augen standen Tränen. »Bitte«, sagte er, »lass uns in die Vernichtungskammer gehen.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Inzwischen hatte auch der andere das Bewußtsein wiedererlangt und wiederholte die Bitte seines Bruders.

»Sie haben das Gefühl, daß sie die Priesterkönige verraten haben, und möchten sterben«, erklärte Misk, der meine Verblüffung zu bemerken schien.

Sarm sagte zu den beiden Sklaven: »Ich will gnädig sein. Ihr dürft in die Vernichtungskammer gehen.«

Zu meinem Erstaunen sahen ihn die beiden Sklaven dankbar an und machten Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Halt!« rief ich.

Die Männer blieben stehen und sahen mich an.

»Ihr könnt die beiden nicht in den Tod schicken«, sagte ich zu den Priesterkönigen.

Ich erhielt keine Antwort.

Verzweifelt suchte ich nach einer plausiblen Begründung. »Kusk wäre sicherlich ärgerlich über die Vernichtung seiner Geschöpfe«, sagte ich.

Sarm und Misk fassten sich bei den Fühlern.

»Der Matok hat recht«, sagte Misk.

»Es stimmt«, sagte Sarm.

Ich atmete auf.

Sarm wandte sich an die beiden Sklaven. »Ihr dürft nicht in die Vernichtungskammer gehen.«

Gelassen verschränkten die beiden Männer die Arme und blieben stehen. Es schien nichts geschehen zu sein, außer daß einer ein wenig schneller atmete und das Gesicht des anderen blutig war.

Ich war natürlich recht durcheinander. Die Reaktionen der beiden Sklaven waren mir unverständlich.

»Du musst verstehen, Tarl Cabot aus Ko-ro-ba«, sagte Misk, »daß es den Muls größte Freude bereitet, den Priesterkönigen zu dienen. Wenn es der Wunsch eines Priesterkönigs ist, daß sie sterben, gehen sie freudig in den Tod. Wenn ihnen das Leben geschenkt wird, sind sie gleichermaßen erfreut.«

Ich stellte fest, daß die beiden Sklaven keine besondere Freude zu empfinden schienen.

»Und doch sagt ihr, daß sie Menschen sind?« fragte ich.

»Natürlich«, erwiderte Sarm.

Zu meiner Überraschung sah mich nun einer der Sklaven an und sagte: »Wir sind Menschen.«

Ich trat vor und reichte ihm die Hand. »Ich hoffe, ich habe dir nicht weh getan.«

Ungeschickt nahm er meine Hand. Offensichtlich war er mit der Sitte des Händeschüttelns nicht vertraut.

»Ich bin auch ein Mensch«, sagte der andere, sah mich an und hielt mir die Hand hin.

Ich nahm sie.

»Ich habe Gefühle«, sagte der erste Mann.

»Ich auch«, bemerkte der zweite.

»Wir alle haben Gefühle«, sagte ich.

»Natürlich«, sagte der erste Mann, »denn wir sind doch Menschen.«

Ich sah sie aufmerksam an. »Wer von euch ist synthetisiert?«

»Wir wissen es nicht«, sagte der erste Mann.

»Nein«, bemerkte der zweite Mann. »Man hat es uns nie gesagt.«

Die beiden Priesterkönige hatten unser Gespräch interessiert verfolgt, doch jetzt wurde Sarm unruhig. »Es wird spät«, sagte er. »Der Matok muß behandelt werden.«

»Folge mir«, sagte der erste Sklave, wandte sich um und verließ das Zimmer. Der zweite Sklave hielt sich neben mir.

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