Ich folgte Mul Al-Ka und Mul Ba-Ta durch mehrere Räume in einen langen Korridor.
»Dies ist der Behandlungssaal«, sagte einer der beiden.
Wir passierten mehrere hohe Stahlportale, an denen sich in etwa sechs Metern Höhe – in Reichweite der Priesterkönige – seltsame Punkte befanden. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um Duftpunkte.
Wenn die Priesterkönige von Duftpunkten umgeben sind, könnte man sich vorstellen, daß sie damit einer Vielzahl von Eindrücken ausgesetzt sind – etwa wie es bei uns der Fall wäre, wenn wir Dutzende von laut gestellten Radios und Fernsehgeräten im Zimmer hätten – aber das ist anscheinend nicht der Fall; der beste Vergleich lässt sich vielleicht damit ziehen, daß die Duftpunkte wie gemalte Schilder sind, auf die sich unsere Aufmerksamkeit ganz nach Belieben richten kann.
In unserem Sinne gibt es bei den Priesterkönigen keinen Unterschied zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort, da beispielsweise die gespeicherten Signale eines Duftbandes ebenso aufgenommen werden wie unmittelbar ausgeschickte Verständigungssignale.
»Die Behandlung wird dir nicht gefallen«, sagte einer meiner Führer.
»Aber sie wird dir gut tun«, bemerkte der andere.
»Warum muß ich behandelt werden?« wollte ich wissen.
»Damit das Nest nicht verseucht wird«, sagte der erste.
Düfte lassen natürlich mit der Zeit nach, doch die besonders behandelten synthetischen Produkte der Priesterkönige halten Tausende von Jahren und werden auf lange Sicht bestimmt unsere verblassenden Druckwerke, das sich auflösende Zelluloid unserer Filme und vielleicht sogar die Ruinen unserer geschichtlichen Bauwerke überdauern.
Duftpunkte werden übrigens in Reihen angeordnet, die ein geometrisches Quadrat bilden; sie werden in der obersten Zeile von links nach rechts und dann von rechts nach links und so weiter gelesen.
Unter den Duftpunkten an den hohen Türen befanden sich – vielleicht als Lesehilfe für Menschen oder andere Wesen gedacht – die vereinfachten Umrissbilder verschiedener Lebensformen.
Die Gestalt eines Menschen hatte ich bisher noch nicht gesehen.
Durch den Korridor kam uns jetzt mit gleichmäßigem Schritt ein junges Mädchen entgegengelaufen. Sie war vielleicht achtzehn Jahre alt. Ihr Kopf war kahlgeschoren, und sie trug die kurze Tunika eines Mul.
»Gib ihr den Weg frei«, sagte einer meiner Führer.
Ich trat zur Seite.
Das Mädchen hielt zwei Duftbänder umklammert und lief, ohne Notiz von uns zu nehmen, vorbei.
Sie hatte braune Augen, und trotz ihres kahlen Kopfes fand ich sie attraktiv.
Keiner meiner Begleiter nahm das geringste Interesse an ihr.
Irgendwie ärgerte mich das. Ich blickte ihr nach, lauschte auf das Patschen ihrer nackten Füße auf dem Steinboden.
»Wer war denn das?« fragte ich.
»Ein Mul«, sagte einer der Sklaven.
»Natürlich ist sie ein Mul«, sagte ich.
»Warum hast du dann gefragt?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Sie hat Botendienst«, sagte der andere. »Die trägt Duftbänder hin und her.«
»Oh«, sagte der erste Sklave, »für solche Dinge interessiert er sich.«
»Er ist neu in den Tunnels.«
Ich war neugierig und sah den ersten Sklaven an. »Sie hatte hübsche Beine, nicht wahr?« fragte ich.
Er schien verwirrt zu sein. »Ja«, sagte er, »sehr kräftig.«
»Sie war attraktiv«, sagte ich zu dem anderen.
»Attraktiv?«
»Ja.«
»Ja, sie ist gesund.«
»Vielleicht ist sie die Gefährtin eines Mannes.«
»Nein«, sagte der erste Sklave.
»Woher weißt du das?«
»Sie ist nicht in den Brutkästen«, sagte der Mann.
Irgendwie brachten mich diese lakonischen Antworten und die ergebene Hinnähme der beiden in Wut.
»Ich würde gern wissen, wie sie sich anfühlt, wenn man sie im Arm hat«, sagte ich.
Die beiden Männer sahen sich an und starrten dann auf mich.
»Darüber darf man nicht nachdenken«, sagte einer.
»Warum nicht?« wollte ich wissen.
»Das ist verboten.«
»Aber bestimmt habt ihr euch doch schon damit beschäftigt!«
Einer der Männer lächelte mich an. »Ja«, sagte er, »manchmal habe ich mich damit beschäftigt.«
»Ich auch«, sagte der andere.
Dann wandten wir uns alle drei um und beobachteten das Mädchen, das im Schein der Energielampen des Korridors nur noch ein bläulicher Fleck war.
»Warum läuft sie so?« fragte ich.
»Die Entfernungen zwischen den einzelnen Portalen sind genau bemessen«, sagte der erste Sklave. »Wenn sie bummelt, bekommt sie einen Tadel.«
»Ja«, sagte der andere, »fünf Tadel – und sie wird vernichtet.«
»Ein Tadel – ist das eine Eintragung in euren Unterlagen?«
»Ja«, sagte der erste Sklave, »er wird auf unserem Duftband vermerkt und auch als Duft auf unserer Tunika angebracht.«
»Die Tunika«, sagte der andere, »enthält überhaupt viele Informationen.
Durch die Tunika erkennen uns die Priesterkönige überhaupt erst.«
»Ja«, fuhr der erste Sklave fort, »ohne Duftsignale würden wir den Priesterkönigen ziemlich ähnlich vorkommen.«
Ich merkte mir diese Tatsache, die mir noch einmal nützlich werden konnte.
»Also«, sagte ich und blickte den Korridor entlang, »ich hätte gedacht, daß die Priesterkönige eine schnellere Methode der Duftbandbeförderung finden könnten.«
»Aber es gibt keine bessere Methode. Muls sind sehr billig und lassen sich leicht ersetzen.«
Wir starrten hinter dem Mädchen her, das jedoch inzwischen nicht mehr zu sehen war.
»Ja, sie ist ein gesunder Mul«, sagte einer der Sklaven.
»Ja«, sagte der andere, »und sie hat kräftige Beine.«
Ich lachte und schlug beiden auf die Schultern, und Arm in Arm setzten wir unseren Weg fort.
Nach kurzer Zeit erreichten wir ein langes wurmähnliches Tier, das sich blind im Korridor bewegte. Meine beiden Begleiter kümmerten sich nicht darum.
Auch ich begann mich an das Vorhandensein seltsamer Wesen im Nest der Priesterkönige zu gewöhnen.
»Was ist das?« fragte ich.
»Ein Matok«, sagte einer der Sklaven.
»Ja«, fügte der andere hinzu. »Er ist im. Nest, gehört aber nicht dazu.«
»Aber ich dachte, ich wäre ein Matok«, sagte ich.
»Bist du auch.«
»Wie wird das Wesen genannt?«
»Oh, es ist ein Schleimwurm.«
»Was tut es hier unten?«
»Vor langer Zeit einmal hatte es seine Funktion im Nest«, erfuhr ich, »und zwar als eine Art Abfallverwerter. Aber diese Arbeit verrichtet es schon seit vielen tausend Jahren nicht mehr.«
»Aber trotzdem bleibt es im Nest?«
»Natürlich«, sagte einer der Sklaven. »Die Priesterkönige sind tolerant.«
»Ja«, sagte der andere. »Der Schleimwurm hat seinen Platz im Nest verdient.«
»Wovon lebt er?«
»Er ernährt sich von der Beute des Goldenen Käfers«, sagte der erste Sklave.
»Und was erbeutet der Goldene Käfer?«
»Priesterkönige«, erwiderte der zweite Sklave.
Ich hätte gern weitergefragt, aber in diesem Augenblick erreichten wir ein großes Stahlportal.
Ich schaute auf und sah unter dem Quadrat aus Duftpunkten die Umrisse eines Menschen.
»Wir sind am Ziel«, sagte einer meiner Begleiter. »Hier wirst du behandelt.«
»Wir warten auf dich«, sagte der andere.