Ich wandte mich um und bemerkte eine große Rampe, die in großen Kehren zur Plattform emporstieg, auf der ich mich befand.
Ein zweiter Priesterkönig näherte sich auf einer flachen ovalen Scheibe, die über die Rampe zu gleiten schien.
Der neue Priesterkönig ähnelte Misk sehr – nur war er größer. Ich fragte mich, ob Menschen meiner Rasse die Priesterkönige voneinander unterscheiden konnten. Mir selbst fiel dies zuerst sehr schwer.
Die ovale Scheibe verhielt etwa zehn Meter vor uns, und das goldene Wesen stieg zierlich herab. Beim Näherkommen musterten mich seine Tentakel aufmerksam. Dann zog sich das Wesen etwa fünf Meter zurück.
Wie Misk trug es keinerlei Kleidung, und der einzige Schmuck bestand aus einem Obersetzungsgerät, das um seinen Hals hing.
Später sollte ich erfahren, daß der Priesterkönig seinen Rang und seine Kastenzeichen in Duftform am Körper trug – für andere Priesterkönige so klar zu erkennen wie auf der Erde etwa Uniformzeichen oder Berufskleidung.
»Warum ist es nicht narkotisiert?« fragte der zweite Priesterkönig und richtete seine Fühler auf Misk.
»Ich hielt es nicht für erforderlich«, sagte dieser.
»Ich hatte Narkose empfohlen«, sagte der Neuankömmling.
»Ich weiß«, entgegnete Misk.
»Diese Tatsache wird festgehalten.«
Misk schien die Achseln zu zucken. Er wandte den Kopf, seine Kiefer öffneten sich langsam, und die beiden Fühler zuckten kurz hin und her, als sei er ärgerlich. »Das Nest war nicht in Gefahr«, tönte es schließlich aus seinem Übersetzer.
Die Tentakel des Neuankömmlings begannen zu zittern, vielleicht vor Wut.
Es drehte einen Knopf an seinem Übersetzer, und im nächsten Augenblick war die Luft von schweren Düften erfüllt, die vielleicht einen Tadel darstellten. Ich hörte nichts, denn das Übersetzungsgerät war ausgeschaltet.
Auch Misk schaltete ab.
Ich beobachtete die Fühler und die Haltung der langen, anmutigen Körper.
Sie schritten umeinander herum, und ihre Bewegungen hatten etwas Peitschendes. Von Zeit zu Zeit, sicherlich aus Ärger oder Aufregung, neigten sich die Spitzen der Vorderbeine, und ich erhaschte einen Blick auf die scharfen Hornmesser, die in den Ballen verborgen waren.
Ich lernte später, an solchen Äußerlichkeiten Gefühle und Stimmungen der Priesterkönige abzulesen. Andere Anzeichen dieser Art waren weitaus weniger offensichtlich – etwa das Zittern der kleinen Härchen auf den Stützbeinen, als wollte das Wesen jeden Augenblick davonrennen; oder eine gewisse Unaufmerksamkeit, eine Hin- und Herbewegung der kleinen Reinigungshaken am dritten Gelenk der Vorderbeine. Überhaupt schienen mir die Priesterkönige ungewöhnlich oft an ihre Sauberkeit zu denken. Wie ich später erfuhr, halten sie die Menschen für außerordentlich unsauber und beschränken ihren Auslauf in den Tunnel gewöhnlich auf gewisse Gebiete. Oft helfen sich die Priesterkönige gegenseitig bei der Wäsche, wobei sie Reinigungshaken, Kiefer und Zungen einsetzen.
Das Übersetzungsgerät hatte natürlich seine Grenzen; es beschränkte sich auf eine präzise Übertragung, ohne daß die mechanische Stimme Gefühlswerte oder sonstige Dinge mit übermitteln konnte. Zum Beispiel konnte das Übersetzungsgerät sagen, daß der Sprecher ärgerlich war, aber zeigen konnte es das nicht.
Nach kurzer Zeit gaben die Priesterkönige ihren Rundgang auf und wandten sich in meine Richtung. Wie einstudiert schalteten sie gleichzeitig ihre Übersetzungsgeräte ein.
»Du bist Tarl Cabot aus der Stadt Ko-ro-ba«, sagte der größere Priesterkönig.
»Ja.«
»Ich bin Sarm«, lautete die Antwort, »geliebtes Kind der Mutter und Erstgeborener.«
»Bist du der Anführer der Priesterkönige?« fragte ich.
»Ja«, sagte Sarm.
»Nein«, sagte Misk.
Sarms Tentakel zuckten in Misks Richtung.
»Die Größte im Nest ist die Mutter«, sagte Misk.
Sarms Tentakel erschlafften. »Das ist wahr«, sagte er.
»Ich habe viel mit den Priesterkönigen zu besprechen«, sagte ich.
»Wenn das Wesen, das ihr die Mutter nennt, euer Anführer ist, möchte ich sie sehen.«
Sarm legte sich auf seine Hinterbeine zurück. Seine Tentakel berührten sich. »Niemand darf die Mutter sprechen – mit Ausnahme ihrer Kastenhelfer und der Hohen Priesterkönige«, sagte Sarm. »Das sind der Erstgeborene, der Zweitgeborene, der Drittgeborene, der Viertgeborene und der Fünftgeborene.«
»Außer an den drei großen Feiertagen«, sagte Misk.
Sarms Tentakel zuckten ärgerlich.
»Was sind das für Feiertage?« fragte ich.
»Die Nesttage«, sagte Misk. »Tola, Tolam und Tolama.«
»Und was bedeuten sie?« fragte ich.
»Sie erinnern an die Wiederkehr des Hochzeitsfluges«, sagte Misk, »des ersten Eies und der Ausbrütung des ersten Eies.«
»Stehen diese Feiertage bevor?« fragte ich.
»Ja«, sagte Misk.
»Aber«, schaltete sich Sarm ein, »selbst bei diesen Festen darf niemand aus den niedrigen Ständen die Mutter sehen – nur Priesterkönige.«
»Das stimmt«, sagte Misk.
Ärger stieg in mir auf. Sarm schien diese Veränderungen nicht zu bemerken, doch Misks Fühler rührten sich sofort. Vielleicht hatte er schon seine Erfahrungen mit Menschen machen müssen.
»Denke nicht schlecht von uns, Tarl Cabot«, sagte Misk, »denn an den Feiertagen brauchen die Wesen der niederen Stände nicht zu arbeiten – nicht einmal an den Funguströgen.«
»Die Priesterkönige sind großzügig«, sagte ich.
»Tun die Menschen im Schatten der Berge soviel für ihre Tiere?« fragte Misk.
»Nein«, sagte ich. »Aber Menschen sind keine Tiere.«
»Sind Menschen Priesterkönige?« fragte Sarm.
»Nein.«
»Dann sind sie Tiere«, sagte Sarm.
Ich zog mein Schwert und näherte mich Sarm. Ich hatte mich sehr schnell bewegt, und das Wesen schien überrascht zu sein. Es sprang mit fast unglaublicher Geschwindigkeit zurück und hatte im Nu eine Entfernung von fünfzehn Metern zwischen uns gelegt.
»Wenn ich nicht mit dem Wesen sprechen darf, das ihr Mutter nennt«, sagte ich, »kann ich vielleicht mit dir sprechen!«
Ich trat einen Schritt vor.
Sarm zuckte wütend zurück, und seine Fühler fuhren aufgeregt hin und her. Wir starrten uns an.
Ich bemerkte, daß Sarm seine gebogenen Hornklingen entblößt hatte.
Hinter mir ertönte die mechanische Stimme Misks: »Aber sie ist die Mutter, und wir im Nest sind ihre Kinder.«
Ich lächelte.
Sarm merkte, daß ich nicht weiter vorrücken wollte, und beruhigte sich etwas.
In diesem Augenblick stellte ich auch fest, wie die Priesterkönige atmen; wahrscheinlich war Sarms Atmung durch die Aufregung beschleunigt.
Am Unterleib finden Muskelkontraktionen statt, die an jeder Seite des Unterleibs durch vier kleine Löcher Luft in den Körper saugen; die gleichen Löcher dienen zum Ausstoßen der verbrauchten Luft. Normalerweise ist dieser Atemvorgang nicht zu hören, doch jetzt vernahm ich deutlich das pfeifende Entweichen der Luft.
Sarm beruhigte sich schließlich. Er hatte seine Hornklingen verschwinden lassen und legte nun die beiden Vorderbeine zusammen.
Seine Antennen rührten sich nicht.
Er musterte mich reglos.
Plötzlich zeigte ein Tentakel in Misks Richtung. »Du hättest es narkotisieren sollen. Es ist gefährlich!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Misk.
Ich bedauerte nun, daß ich Misks Vertrauen enttäuscht hatte. Ich hatte mich unvernünftig verhalten.
»Es tut mir leid«, sagte ich und steckte mein Schwert ein.
»Komm mit auf die Scheibe, Tarl Cabot aus Ko-ro-ba«, sagte Misk und deutete mit einem Vorderbein auf das flache Oval, das Sarm benutzt hatte.
Ich zögerte.
»Es hat Angst«, sagte Sarm.
»Es hat auch Grund dazu.«
Ich trat auf die Scheibe, und die beiden Priesterkönige folgten. Sie stellten sich links und rechts ein wenig hinter mich. Kaum war dies geschehen, als die Scheibe lautlos auf die Rampe glitt, die in den Kessel hinabführte.
Die Scheibe bewegte sich sehr schnell, und ich hielt mich nur mit Mühe auf den Beinen, stemmte mich nach vorn in den Wind. Zu meinem Ärger schienen die Priesterkönige keine Schwierigkeiten dieser Art zu haben.
Ihre Vorderbeine ragten in die Höhe, ihre Fühler wehten im Wind nach hinten.