Ich hielt die Fackel über meinen Kopf und starrte in die Höhle, die sich unter Muls Unterkunft auftat.
»Die Arbeiter bei den Fungus-Trögen«, sagte Misk, »brechen beide Enden der Fackel ab und nehmen sie in den Mund.«
Ich sah mich um. An einem Ring hing ein mit Knoten versehenes Seil.
Ich nahm die Fackel zwischen die Zähne und begann hinabzuklettern.
Es wurde schnell kühler, und Feuchtigkeit bildete Tropfen auf meiner Plastiktunika. Als ich das Ende des Seils erreichte, etwa zwölf Meter unter Misks Gemach, fand ich mich in einer einfachen Felskammer.
Ich schaute nach oben und sah Misk, der sich unter Missachtung des Seils durch die Öffnung in der Decke beugte, sich zierlichen Schrittes kopfüber an der Decke entlangbewegte, an der Wand herabkam und nach wenigen Sekunden neben mir stand.
»Du darfst niemand erzählen, was du hier siehst«, sagte Misk.
Ich schwieg.
»Es sei Nestvertrauen zwischen uns«, sagte ich dann.
»Aber du gehörst dem Nest nicht an.«
»Trotzdem soll Nestvertrauen zwischen uns sein.«
»Gut«, sagte Misk.
Ich steckte die Fackel in eine Felsspalte und reckte die Arme hoch.
Sanft berührten die Fühler meine Handflächen.
Misk richtete sich auf. »Irgendwo dort unten, ohne Duft und in der Nähe des Fußbodens, damit ein Priesterkönig ihn nicht findet," ist ein Knopf, der fast wie ein Kieselstein aussieht. Du musst ihn suchen und drehen.«
Es bereitete mir keine Mühe, den angegebenen Knopf zu finden. Ich drehte ihn, woraufhin ein Teil der Wand zurückschwang.
»Tritt ein«, sagte Misk, und ich gehorchte.
Wir waren kaum über die Schwelle getreten, als der Priesterkönig einen versteckten Mechanismus auslöste, der die Tür lautlos hinter uns schloß.
Ich sah mich verblüfft um. Der Raum schien groß zu sein, denn er verlor sich in fast allen Richtungen im Dunkel. Die wenigen Objekte, die ich erkennen konnte, waren Schaltschränke, Duftanzeiger, Messgeräte, Kabelstränge und Kupferplatten. An einem Ende des Raumes sah ich Spulen mit Duftbändern, von denen sich einige langsam drehten und ihre Bänder durch langsam rotierende schimmernde Kugeln schickten. Die Kugeln waren ihrerseits durch dünne verwobene Drähte mit großen, schweren Geräten verbunden, die offensichtlich aus Stahl bestanden. An der Frontseite der Geräte schnappten dünne Metallscheiben hoch, Lichter blitzten auf, während eine unbekannte Energieübertragung ablief, dann schnappte die Scheibe zur Seite und wurde sofort durch eine neue ersetzt. Acht Drähte führten zum Körper eines Priesterkönigs, der reglos in der Mitte eines moosbedeckten Steinlagers lag.
Ich hielt die Fackel in die Höhe und besah mir den Priesterkönig, der mir mit seinen drei Metern Länge ziemlich klein vorkam. Am meisten verblüffte mich jedoch die Tatsache, daß er Flügel hatte, lange, herrlich goldene, durchsichtige Flügel, die auf seinem Rücken zusammengefaltet waren.
Das Wesen schien bewusstlos zu sein.
»Ich musste die ganze Anlage selbst entwerfen und bauen«, sagte Misk, »und deswegen ist sie unentschuldbar primitiv, aber es gab in diesem Falle keine andere Möglichkeit.«
Ich verstand nicht, was er meinte.
»Ich musste sogar eigene mnemonische Scheiben herstellen und einen Umwandler zum Ablesen der Duftbänder, die es zum Glück in ausreichender Menge gibt.«
»Ich begreife das alles nicht«, sagte ich.
»Natürlich nicht«, sagte Misk, »du bist ja auch nur ein Mensch.«
»Ist das eine Mutation?« fragte ich.
»Nein – es ist ein Männchen«, erwiderte Misk und schwieg einen Augenblick. »Der erste männliche Priesterkönig, der seit achttausend Jahren im Nest geboren wurde.«
»Bist du denn nicht männlich?« wollte ich wissen.
»Nein, ebensowenig wie die anderen.« '»Und bist du weiblich?«
»Nein«, sagte Misk, »im Nest ist nur die Mutter weiblich.«
»Aber es muß doch andere weibliche Wesen geben.«
»Von Zeit zu Zeit gab es weibliche Eier, doch die hat Sarm vernichten lassen. Ich wüßte nicht, daß es im Nest ein weibliches Ei gibt.«
»Wie lange lebt ein Priesterkönig?«
»Vor langer Zeit entdeckten die Priesterkönige das Geheimnis der Zellenerneuerung, so daß wir, wenn wir nicht durch einen Unfall sterben, nur durch den Goldenen Käfer ums Leben kommen.«
»Wie alt bist du?« fragte ich.
Ich selbst bin zu einem Zeitpunkt ausgeschlüpft, als unsere Welt noch gar nicht in deinem Sonnensystem war – also vor über zwei Millionen Jahren.«
»Dann stirbt das Nest niemals aus.«
»Aber es stirbt aus«, wandte Misk ein. »Einer nach dem anderen gehen wir an den Wonnen des Goldenen Käfers ein. Wir werden alt, wir haben keine Interessen mehr.«
»Warum wendet ihr euch nicht gegen die Goldenen Käfer?«
»Weil das nicht richtig wäre.«
»Würde Sarm diesen männlichen Priesterkönig umbringen, wenn er von seiner Existenz wüsste?«
»Ja – weil er nicht sterben will.«
Ich beobachtete die Maschine, die Drähte, die an acht Stellen am Körper des jungen Priesterkönigs endeten. »Was geht hier vor?« fragte ich.
»Ich lehre ihn – Wissen und Erleben sind Ladungen und Spannungen im Nervengewebe, die im Verlauf des Erlebens und Assimilierens von Sensorimpulsen ausgehen. Die Anlage bewirkt dies künstlich, ohne daß eine zeitraubende äußere Stimulation erforderlich wäre.«
Ich beobachtete das kurze Aufzucken des Lichts, das rasche, wirksame Vorschnellen der Scheiben, die sofort zurückgezogen wurden. Ringsum schien der Raum nur aus Geräten und Instrumententafeln zu bestehen.
»Dann veränderst du also sein Gehirn«, sagte ich leise.
»Er ist ein Priesterkönig und hat acht Gehirne, Modifikationen des Gangliennetzes, wohingegen Wesen wie du, durch das Rückgrat beschränkt, stets nur ein Gehirn entwickeln.«
»Seltsam.«
»Natürlich unterweisen die unteren Ordnungen ihre Jungen anders, vermögen ihnen nur einen Bruchteil des Wissens einzugeben.«
»Und wer entscheidet, was er lernt?«
»Normalerweise gibt es dafür standardisierte mnemonische Platten. Doch die Leitung der Traditionswahrer obliegt Sarm, so daß ich keine Platten bekommen konnte und eigene herstellen musste.«
»Mir gefällt nicht, daß sein Gehirn geändert wird«, sagte ich.
»Sei kein Narr. Alle Wesen, die ihren Nachkommen etwas beibringen, ändern deren Gehirne. Wie sonst kann man etwas lehren? Dieses Wesen ist ein Priesterkönig, mit naturgegebener Vernunft und gesegnet mit bestimmten Kritik- und Wahrnehmungsfähigkeiten, die auch durch eine mechanische Unterweisung nicht ausgeschaltet werden können.«
»Aber wird er nicht eine Art Maschine sein, die . . .«
»Wir alle sind Maschinen«, bemerkte Misk. »Wir tun, was wir tun müssen – eine schwierige Sache. Wir Priesterkönige sind physisch jung, aber psychisch überaltert, und man denkt immer öfter an die Wonnen der Goldenen Käfer.«
»Glauben die Priesterkönige an ein Leben nach dem Tod?«
»Natürlich«, sagte Misk, »denn nach dem Tod besteht das Nest fort.«
»Nein«, sagte ich, »ich meine das Leben des Individuums.«
»Das Bewußtsein«, sagte Misk, »scheint eine Funktion des Gangliennetzes zu sein. Ich habe gelebt, nun sind andere an der Reihe.«
Wieder betrachtete ich den jungen Priesterkönig auf der Steinplattform.
»Wird er sich erinnern, daß er diese Dinge gelernt hat?« fragte ich.
»Nein. Zwar werden seine äußeren Sensoren im Augenblick umgangen, aber er wird glauben, seine Erfahrungen und Erkenntnisse auf natürlichem Wege gewonnen zu haben – so sind die Lernscheiben eingerichtet.«
»Was wird ihn gelehrt?« fragte ich.
»Grundinformationen in Bezug auf Sprache, Mathematik und Wissenschaften, ebenso wie Geschichte und Literatur der Priesterkönige, Nestsitten, gesellschaftliche Angewohnheiten, technische, landwirtschaftliche und geschlechtliche Kenntnisse und andere Informationen.«
»Aber lernt er später weiter?«
»Natürlich – zunächst hat er ohne großen Zeitverlust die Erfahrungen seiner Vorfahren aufgenommen und hat nun Muße, sich neuen Informationen zuzuwenden.«
»Aber wenn die mnemonischen Scheiben nun falsche Daten enthalten?«
»Zweifellos kommt das vor«, sagte Misk, »aber sie werden ständig auf dem laufenden gehalten, um die Fehlermöglichkeiten auf ein Minimum zu beschränken.«