Ich machte mir klar, daß ich zu spät gekommen war. Tief in den Tunnels des Goldenen Käfers fand ich Vikas Körper.
Ich hielt die Mul-Fackel über meinen Kopf und durchsuchte die übelriechende Höhle, in der sie auf einem Bett aus halbverfaultem Moos lag.
Sie war in Lumpen gekleidet, die Oberreste ihres einstmals langen und schönen Kleides, zerrissen und fleckig von der entsetzlichen Flucht, durch die dunklen Felsentunnels stolpernd, schreiend, in unsagbarer Angst vor den Zangen des Goldenen Käfers.
Zu meiner Freude war ihr Hals ohne Sklavenkragen.
War sie vielleicht freigelassen worden, ehe man sie in die gefährlichen Tunnels entlassen hatte? Ich erinnerte mich an eine Bemerkung Misks, daß in Ehrerbietung vor dem Goldenen Käfer nur freie Frauen in die Tunnels geschickt wurden.
Es roch nach den Ausscheidungen des Goldenen Käfers, und im Gegensatz zu den peinlich sauberen Tunnels der Priesterkönige war hier der Unrat und Gestank um so abstoßender. In einer Ecke lagen Knochen und ein menschlicher Schädel. Die Knochen waren zersplittert und ausgesaugt.
Wie lange Vika schon tot war, wusste ich nicht zu sagen; es mochten einige Stunden sein. Allerdings war sie nicht so kalt, wie ich erwartet hatte. Sie regte sich nicht, und ihre Augen schienen mit dem Entsetzen ihrer letzten Lebenssekunde auf mich gerichtet, in der sich die Zangen des Goldenen Käfers um sie geschlossen hatten. Ich hoffte fast, daß sie ihren Angreifer nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte.
Ihre Haut fühlte sich seltsam trocken an und enthielt noch einen Hauch von Wärme, so daß ich lange Zeit auf einen Herzschlag lauschte. Doch es war nichts festzustellen. Ebenso verspürte ich keinen Pulsschlag an ihrem Handgelenk.
Obwohl ich Vika gehasst hatte, hatte ich ihr dieses Schicksal nicht gewünscht. Als ich sie so anschaute, war mir seltsam traurig zumute, und die Bitterkeit, mit der ich zuvor an sie gedacht hatte, war völlig verschwunden. In meinen Augen war sie nur noch ein junges Mädchen, gewiß zu unschuldig für einen solchen Tod, ein Mädchen, das dem Goldenen Käfer entgegengetreten war und in der Folge einen der entsetzlichsten Tode gestorben war, den diese Welt kannte. Sie war ein Mensch, und welche Fehler sie auch gehabt haben mochte, sie hatte etwas anderes verdient.
»Es tut mir leid, Vika aus Treve«, sagte ich leise.
Seltsamerweise schien ihr Körper keinerlei Wunden aufzuweisen.
Ich fragte mich, ob sie etwa aus Angst gestorben war.
Es waren keine Kratzer oder Prellungen zu sehen. Ihr Körper war völlig intakt.
Ich fand keinen Hinweis auf die Art ihres Todes – bis auf einen kleinen Einstich an ihrer linken Flanke, durch den eine Art Gift hatte injiziert werden können. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch fünf runde Schwellungen, die sich von ihrem Schenkel an ihrer Seite entlangzogen.
Diese Schwellungen, hart und rund, schienen unter der Haut zu liegen, möglicherweise eine Reaktion auf das Gift, das ihr anscheinend eingespritzt worden war.
Ich fuhr mir mit dem Arm über die Stirn.
Ich konnte nichts für sie tun, außer vielleicht den Goldenen Käfer zu jagen.
Ich fragte mich, ob ich sie irgendwo vergraben sollte, aber das erschien mir angesichts der Felstunnels ein unmögliches Unterfangen. Ich konnte sie aus der unschönen Höhle tragen, aber solange das Ungeheuer nicht vernichtet war, gab es keine Sicherheit für die Tote.
Ich wandte ihr den Rücken und machte mich daran, die Tunnels nach dem Goldenen Käfer abzusuchen, der jedoch verschwunden zu sein schien.
Das Schwert in der Rechten, die Mul-Fackel in der Linken, so stolperte ich durch die Gänge. Es war eine lange, unheimliche Suche, während der mein Hass auf den Goldenen Käfer gegen mein Mitleid mit Vika kämpfte – bis ich mich schließlich von solchen störenden Gefühlen freimachte, und ganz in meiner Aufgabe aufging – Doch meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Mädchen zurück. Ich hatte sie seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Wieso war sie erst jetzt in diese Tunnels gebracht worden? Wie hatte sie so lange überleben können? Und wieso hatte der Goldene Käfer sie nicht aufgefressen?
Und ich wunderte mich über die fünf seltsamen Schwellungen an ihrem Körper.
Misk hatte mir gesagt, ich würde zu spät kommen, denn der Goldene Käfer würde bald ausschlüpfen.
Ein Entsetzensschrei kam über meine Lippen, und ich wandte mich um und rannte zurück, so schnell mich meine Beine trugen.
Immer wieder stieß ich gegen Felsvorsprünge, verletzte mir Schultern und Beine an scharfen Kanten, doch ich verlangsamte meinen Schritt nicht. Ich brauchte nicht einmal auf die winzigen Zeichen zu achten, die ich zur Orientierung an die Tunnelwände gekratzt hatte, denn ich schien jede Kurve und Biegung aus dem Gedächtnis zu kennen.
Ich stürzte in die Höhle des Goldenen Käfers und hielt die Fackel in die Höhe. »Verzeih mir, Vika!« rief ich.
Ich fiel neben ihr auf die Knie und stieß die Mul-Fackel in einen Felsspalt.
Aus ihrem Fleisch blickten mich an einer Stelle die schimmernden Augen eines Organismus an, goldenfarbig und etwa so groß wie eine junge Schildkröte, ein Wesen, das sich aus einer ledrigen Hülle zu befreien versuchte. Mit dem Schwert löste ich das Ei und zerdrückte es und das Wesen unter meiner Sandale.
Vorsichtig entfernte ich das zweite Ei auf gleiche Weise und zertrat es, ebenso wie die anderen drei Eier.
Dann nahm ich mein Schwert, wischte auf einer Seite das schützende öl ab und hielt den schimmernden Stahl vor den Mund des Mädchens. Als ich die Klinge anhob, stieß ich einen Freudenschrei aus, denn ein Stück Metall war beschlagen.
Ich nahm Vika in die Arme und drückte sie an mich.
»Mein Mädchen!« sagte ich. »Du lebst!«