16

»Heb ihn auf!«, grunzte die grausame Stimme.

Kräftige Hände packten den benommenen Zauberer an den Oberarmen und stellten ihn auf die Beine. Ein Schwall kaltes Wasser traf ihn ins Gesicht und brachte ihn wieder vollkommen zu sich.

»Seine Hand. Diese da.« Einer derjenigen, die ihn festhielten, hob Rhonins Arm an. Jemand ergriff seine Hand, seinen kleinen Finger – und dann schrie Rhonin auf, als der Knochen brach. Er riss die Augen auf und blickte mitten in die brutale Fratze eines älteren Orks, der von Jahren des Kampfes gezeichnet war. Sein Gesichtsausdruck verriet kein Vergnügen an der Qual des Menschen, eher schon einen Anflug von Ungeduld, so als wäre er lieber ganz woanders gewesen, um Dinge von größerer Wichtigkeit zu erledigen.

»Mensch!« Das Wort quoll aus seinem Mund wie ein Fluch. »Du hast eine einzige Chance, mit dem Leben davonzukommen. Sag mir, wo der Rest eurer Truppe ist!«

»Ich bin nicht …« Rhonin hustete. Der Schmerz, den der gebrochene Finger verursachte, wogte in ihm. »Ich bin – allein.«

»Denkst du, ich bin ein Narr?«, grunzte der Anführer. »Du hältst Nekros für einen Narren? Wie viele Finger hast du noch, eh?« Er zog an dem Finger neben dem bereits gebrochenen. »Und es gibt noch viele andere Knochen in deinem Körper. Viele Knochen, um sie zu zerbrechen!«

Rhonin dachte so schnell nach wie der Schmerz es ihm erlaubte. Er hatte denen, in deren Gewalt er geraten war, schon mehrfach erklärt, allein unterwegs gewesen zu sein, doch das hatte die Orks nicht zufrieden gestellt. Was wollte dieser Nekros hören? Dass eine Armee in seinen Berg einmarschierte? Hätte ihm das besser gefallen?

Rhonin musste sich etwas einfallen lassen und wenigstens so lange am Leben bleiben, bis er eine Möglichkeit zur Flucht gefunden hatte …

Noch immer wusste er nicht, was eigentlich passiert war – nur dass Deathwing ihn trotz aller Vorsicht überlistet hatte. Augenscheinlich hatte der Drache es darauf angelegt, dass Rhonin entdeckt wurde. Aber warum? Es machte genauso viel – oder wenig – Sinn wie Nekros' augenscheinlicher Wunsch, feindliche Soldaten durch seine Festung spazieren zu sehen!

Nun, über Deathwings dunkle Pläne konnte er sich auch später noch den Kopf zerbrechen. Zunächst aber ging es ums nackte Überleben.

»Nein! Nein … bitte … die anderen … Ich bin nicht sicher wo sie sind … wurden getrennt …«

»Getrennt? Glaube ich nicht! Du kamst wegen ihr, nicht wahr? Wegen der Drachenkönigin! Das ist deine Aufgabe, Zauberer! Ich weiß es!« Nekros kam ihm ganz nah; sein widerlicher Atem raubte Rhonin fast wieder das Bewusstsein. »Meine Spione haben es gehört! Du hast es gehört, nicht wahr, Kryll?«

»Oh ja, oh ja, Meister Nekros! Ich habe alles gehört!«

Rhonin versuchte, an dem Ork vorbeizublicken, aber Nekros ließ ihn nicht sehen, wer da sprach. Dennoch sagte die Stimme einiges über die Identität des Sprechers aus; dieser Kryll musste der Goblin sein, den Rhonin vorhin schon einmal gehört hatte.

»Ich sage dir noch einmal auf den Kopf zu, Mensch, du bist wegen der Drachenkönigin hier – ist es nicht so?«

»Wir wurden getre …«

Nekros schlug ihm quer über das Gesicht und hinterließ eine blutige Spur an Rhonins Mund. »Gleich ist noch ein Finger dran! Du kamst, den Drachen zu befreien, bevor eure Armeen Grim Batol erreichen! Du hast dir gedacht, du machst dir das Chaos hier zunutze, was?«

Diesmal lernte Rhonin schnell. »Ja … ja. Das wollten wir.«

»Du hast ‚wir‘ gesagt! Zum zweiten Mal jetzt!« Der Führer der Orks lehnte sich triumphierend zurück. Nun erst bemerkte der verletzte Zauberer Nekros' verstümmeltes Bein. Nun verwunderte es ihn nicht mehr, dass dieser brutale Ork ein Drachenzuchtprogramm leitete, anstatt einen wilden Krieger-Trupp zu anzuführen.

»Seht Ihr, großer Nekros? Grim Batol ist nicht länger sicher, mein glorreicher Kommandeur!«, fiel die schrille Stimme des Goblins ein. »Wer weiß, wie viele Feinde noch in den zahllosen Tunnels lauern? Wer weiß, wie lange es noch dauert, bevor die Armeen des Bündnisses hier aufmarschieren, angeführt von dem Einen Dunklen Herrscher? Eine Schande, dass fast alle anderen Drachen schon in Dun Algaz sind! Du kannst den Berg unmöglich mit unseren eigenen wenigen Bestien verteidigen! Besser, der Feind findet uns hier gar nicht erst, als so viele kostbare …«

»Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß, du armseliges Wrack!« Er stach einen fleischigen Finger in Rhonins Brust. »Nun, der hier und seine Kumpane kommen jedenfalls zu spät! Du wirst weder die Drachenkönigin noch ihre Jungen bekommen, Mensch! Nekros hat vorausschauend gehandelt!«

»Ich …« Noch ein Schlag. Das einzig Gute daran war, dass der Schmerz im Gesicht Rhonin kurzzeitig von dem Schmerz in seinem gebrochenen Finger ablenkte. »Ihr könnt Grim Batol haben, wenn ihr es unbedingt wollt! Möge der ganze Berg über euch zusammenbrechen!«

»Nekros – du musst diesen Irrsinn beenden!«

Rhonin schaute auf. Er kannte diese Stimme, auch wenn er sie erst einmal gehört hatte.

Seine Wächter reagierten ebenfalls. Sie drehten sich gerade weit genug von ihm weg, um Rhonin einen Blick auf die riesenhafte schuppige Gestalt zu erlauben, die dort so furchtbar in Ketten und Klammem gezwungen war. Alexstrasza, die Drachenkönigin, konnte sich kaum bewegen. Ihre Glieder, der Schwanz, Flügel und Kehle waren gründlich festgezurrt. Sie konnte zwar augenscheinlich ihren riesigen Rachen öffnen, doch nur soweit, dass sie essen oder mit Mühe zu sprechen vermochte.

Die Gefangenschaft hatte ihr nicht gut getan. Rhonin hatte schon einige Drachen gesehen, besonders scharlachrote, und deren Schuppen besaßen einen gewissen metallischen Glanz. Die von Alexstrasza hingegen waren stumpf geworden, verblasst und an einigen Stellen schienen sie sogar lose zu sein. Sie sah überhaupt nicht gesund aus, soweit er die Körpersprache des Reptils zu deuten vermochte. Die Augen wirkten irgendwie verwaschen, ganz zu schweigen von der unglaublichen Erschöpfung, die sich darin spiegelte.

Er konnte sich kaum vorstellen, was sie durchgemacht hatte. Gezwungen, eine Brut zu gebären, die dann von ihren Wächtern für deren mörderische Zwecke trainiert wurde. Wahrscheinlich sah sie ihre Jungen nie wieder, nachdem ihr die Eier einmal genommen worden waren. Vielleicht bedauerte sie sogar den Verlust an Leben, der von ihren Kindern verursacht wurde …

»Du hast keine Erlaubnis zu sprechen, Reptil!«, schnappte Nekros. Er fasste in einen Beutel, der an seiner Hüfte hing, und drückte auf etwas.

Rhonins Haut prickelte, als ihn eine magische Kraft von erstaunlicher Stärke streifte. Er wusste nicht, was der Ork tat, doch es bewirkte, dass die Drachenkönigin in solchem Schmerz aufbrüllte, dass es jeden außer Nekros berührte.

Doch trotz ihrer Qual fuhr Alexstrasza fort: »Du – du verschwendest Energie und Zeit, Nekros! Du kämpfst für etwas, das – das schon verloren – ist!«

Mit einem Stöhnen schloss sie endlich ihre Augen. Ihre Atmung, die einen Moment zuvor noch so schnell gewesen war, wurde kurz flach und stabilisierte sich dann langsam.

»Nur Zuluhed gebietet mir, Reptil!«, knurrte der einbeinige Ork. »Und er ist weit weg.« Seine Hand fuhr wieder aus dem Beutel. Gleichzeitig schwand die magische Kraft, die Rhonin gespürt hatte.

Der Zauberer hatte schon viele Gerüchte darüber gehört, wie die Horde überhaupt solch großartige Wesen unter ihre Kontrolle bringen konnte, aber nichts kam dem gleich, was er gerade selbst miterlebt hatte. Es war klar, dass sich in dem Beutel ein Gegenstand von großer magischer Kraft verbarg. Begriff Nekros überhaupt, über was für eine Macht er da gebot? Mit etwas derartigem zur Verfügung, hätte er die Horde selbst anführen können!

»Wir müssen die anderen in unsere Gewalt bringen«, sagte der ältere Ork, an einen seiner Krieger gewandt, die am Eingang standen. »Wo hast du die Leiche der Wache gefunden?«

»Fünfte Ebene, dritter Tunnel.«

Nekros' Augenbrauen wuchsen zusammen. »Über uns?« Er betrachtete Rhonin wie ein erstklassiges Stück Fleisch.

»Zauberwerk! Fangt in der fünften Ebene an und arbeitet euch nach oben, dann …« Er stockte kurz. »Lasst keinen Tunnel aus! Irgendwie sind sie von oben gekommen!« Ein Grinsen breitete sich langsam über seine fremdartigen Züge mit den hässlichen Stosszähnen aus.

»Vielleicht doch keine Magie! Torgus sah die Greifen! Das ist es! Der Rest von ihnen kam, nachdem Deathwing Torgus vertrieben hatte!«

»Deathwing … Deathwing dient niemandem – außer sich selbst!«, stieß Alexstrasza plötzlich hervor, und ihre Augen öffneten sich weit. Sie klang fast angsterfüllt, und Rhonin konnte das gut verstehen. Wer hatte keine Furcht vor dem schwarzen Dämon?

»Aber er arbeitet jetzt mit den Menschen zusammen«, erwiderte ihr Wärter. »Torgus hat ihn gesehen!« Seine Hand klopfte auf den Beutel. »Nun, vielleicht sind wir selbst für ihn bereit!«

Rhonin konnte seinen Blick nicht von dem Beutel und dessen Inhalt abwenden, der seiner Form nach zu schließen ein Medaillon oder eine Scheibe zu sein schien. Welche Kraft könnte der Gegenstand besitzen, dass Nekros glaubte, er würde damit sogar mit dem gepanzerten Behemoth fertig werden?

»Es sind die Drachen, die Ihr alle wollt …« Noch einmal drehte sich Nekros zu dem Zauberer um. »Und die sollt Ihr auch bekommen. Aber du und der Dunkle Herrscher, ihr werdet nichts mehr davon haben, Mensch!« Er bewegte die Hand in Richtung der Tür. »Schafft ihn fort!«

»Töten wir ihn?«, grunzte der eine der Wächter in hoffnungsvollem Ton.

»Noch nicht! Vielleicht habe ich noch Fragen an ihn, später … vielleicht! Ihr wisst, wo ihr ihn hinzubringen habt! Ich komme gleich nach, um sicherzustellen, dass nicht mal seine Magie ihm jetzt noch helfen kann!«

Die beiden großen Orks, die Rhonin festhielten, zogen ihn mit solcher Kraft empor, dass er meinte, sie würden ihm die Arme aus den Schultern reißen. Mit verschwommenem Blick sah er, wie Nekros sich einem anderen Ork zuwandte.

»Die Arbeiten müssen schneller vorangehen! Macht die Wagen fertig, während ich mich um die Königin kümmere! Bereitet alles vor!«

Nekros entfernte sich aus Rhonins Blickfeld – und eine andere Gestalt erschien. Der Goblin, den der Ork Kryll genannt hatte, zwinkerte Rhonin zu, als teilten sie beide ein Geheimnis. Als der Zauberer den Mund öffnete, schüttelte die boshafte kleine Kreatur den übergroßen Kopf und lächelte. In seinen Händen hielt der Goblin etwas fest umschlossen, das die Aufmerksamkeit des Menschen erregte. Kryll zog eine Hand gerade solange beiseite, dass Rhonin sehen konnte, was er bei sich trug.

Deathwings Medaillon.

Und als die Wachen ihn aus der Kammer des Kommandanten schleiften, wurde dem erschöpften Magier klar, dass er jetzt wusste, wie der Drache so viele Informationen über Grim Batol hatte an sich bringen können. Er wusste auch, dass, was Nekros auch immer planen mochte, der Ork – ebenso wie Rhonin – letztlich immer genau das tun würde, was der schwarze Drachen wollte.


Obgleich sie in den Wäldern und Hügeln zuhause war, musste Vereesa zugeben, dass sie hier in der Unterwelt keinen Tunnel vom anderen unterscheiden konnte. Ihr angeborener Richtungssinn schien zu versagen – entweder das, oder aber die Tatsache, dass sie sich ständig bücken musste, lenkte sie zu sehr ab. Auch wenn inzwischen Trolle die Gänge benutzten, waren sie doch ursprünglich von Zwergen aus dem Fels gehauen worden, in den Tagen, da die Region um Grim Batol noch im Besitz einer größeren Minengesellschaft gewesen war. Dies bedeutete, dass Rom, Gimmel und auch Falstad wenig Probleme damit hatten, sich hier fortzubewegen, die groß gewachsene Elfe musste sich hingegen dauernd niederbeugen. Ihr Rücken und ihre Beine schmerzten, doch sie biss die Zähne zusammen, denn sie wollte vor diesen harten Kriegern keine Schwäche zeigen. Immerhin war es Vereesa gewesen, die sich hatte hierher begeben wollen.

Irgendwann fragte sie dennoch: »Sind wir bald da?«

»Bald, sehr bald«, antwortete Rom. Unglücklicherweise hatte er das schon häufiger versichert.

»Dieser Eingang«, bemerkte Falstad, »wo ist er noch mal gleich?«

»Der Tunnel mündet in eine ehemalige Transportstrecke für das Gold, das wir abbauten. Vielleicht könnt Ihr sogar ein paar alte Schienenstränge sehen, wenn die Orks sie nicht für ihre Waffen eingeschmolzen haben.«

»Und dieser Weg führt ins Innere des Berges?«

»Aye, Ihr könnt dem alten Stollen folgen, selbst wenn die Schienen nicht mehr da sein sollten. Sie haben allerdings Wachen aufgestellt, also wird es nicht leicht werden.«

Vereesa dachte darüber nach. »Ihr habt auch Drachen erwähnt. Wie hoch über uns?«

»Nicht Drachen am Himmel, Lady Vereesa, sondern hier am Boden. Das wird heikel, könnte man sagen.«

»Am Boden?«, schnaubte Falstad.

»Aye, solche mit verletzten Flügeln – oder sie sind nicht vertrauenswürdig genug, um herumfliegen zu dürfen. Auf dieser Seite des Berges müsste es zwei geben.«

»Am Boden …«, murmelte der Aerie-Zwerg. »Das wird ein ganz anderer Kampf …«

Rom hielt plötzlich an und zeigte geradeaus. »Da ist es, Lady Vereesa! Die Öffnung!«

Die Waldläuferin blinzelte, doch sogar mit ihren Augen, die im Dunkeln sehen konnten, vermochte sie die angebliche Öffnung nicht auszumachen.

Falstad hingegen fand sie. »Furchtbar klein. Das wird haarig werden.«

»Aye, zu eng für die Orks, und sie glauben, auch zu schmal für uns. Doch es ist ein Trick dabei«, meinte Rom.

Da sie immer noch nichts entdecken konnte, musste Vereesa sich damit zufrieden geben, den Zwergen zu folgen. Erst als sie am Ende einer Sackgasse angekommen waren, bemerkte sie ein wenig Licht, das von oben hereinfiel. Als sie näher trat, fand die Elfe einen schmalen Schlitz vor, durch den sie kaum ihr Schwert hätte schieben können, geschweige denn ihren Körper.

Sie blickte den Führer der Zwerge an. »Es gibt einen Trick, sagt Ihr?«

»Aye! Der Trick ist, dass Ihr diese Steine, die wir sorgfältig arrangiert haben, beiseite räumen müsst, damit Ihr den Spalt groß genug bekommt. Von der anderen Seite sieht es aus, als wäre es ein einziger Felsblock, und diesen zu sprengen, würde die Orks sehr viel mehr Zeit kosten, als sie aufzubringen bereit sind!«

»Aber sie wissen, dass Ihr euch hier aufhaltet, nicht wahr?«

Roms Miene wurde finster. »Aye, aber dank der Drachen haben sie von uns wenig zu fürchten. Dieser Weg ist gefährlich. Das muss Euch klar werden. Es ärgert uns, dass wir so nah sind und diese verfluchten Eindringlinge doch nicht loswerden können …«

Aus irgendeinem Grund kam es Vereesa so vor, als hätte ihr der Anführer der Zwerge damit noch nicht alles offenbart. Was er gesagt hatte, mochte wohl in gewisser Weise zutreffen, aber sein Volk schien diesen Gang nicht oft benutzt zu haben. Warum? War in der Vergangenheit etwas geschehen, das seine Leute dazu veranlasst hatte, sich von ihm fernzuhalten, oder war es wirklich einfach nur gefährlich dort?

Und wenn ja – wollte sie dieses Risiko wirklich auf sich nehmen?

Sie hatte sich schon entschieden. Wenn nicht allein für Rhonin, dann doch für all das, das sie dazu beitragen konnte, um diesen langen Krieg endlich zu beenden. Nichtsdestotrotz hoffte sie weiterhin, Rhonin lebend zu finden.

»Wir sollten anfangen. Müssen die Steine in einer bestimmten Reihenfolge herausgenommen werden?«

Rom blinzelte. »Elfherrin, Ihr müsst warten, bis es dunkel wird! Wenn Ihr früher geht, werden sie Euch sehen, so sicher wie ich hier vor Euch stehe!«

»Aber wir können nicht so lange warten!« Vereesa hatte keine Ahnung, wann die Trolle sie und Falstad gefangen genommen hatten, doch es konnte höchstens ein paar Stunden her sein.

»Es ist nur wenig mehr als eine Stunde, Lady Vereesa. Das wird Euch Euer Leben doch sicher wert sein.«

So bald schon? Die Waldläuferin sah Falstad an.

»Ihr wart sehr lange bewusstlos«, antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. »Eine Weile dachte ich, Ihr wäret tot.«

Die Elfe versuchte sich zu beruhigen. »In Ordnung. Wir werden bis dahin warten.«

»Gut!« Der Anführer der Hügelzwerge klatschte in die Hände. »Das gibt uns Zeit zu essen und auszuruhen!«

Eigentlich war Vereesa zu angespannt, um auch nur an Essen zu denken, doch als Gimmel ihr ein paar Minuten später das einfache Mahl anbot, nahm sie es dankend an. Dass diese armen Seelen, die so ums Überleben ringen mussten, bereitwillig mit ihnen teilten, was sie hatten, zeugte von ihrer Freundlichkeit und ihrem guten Herzen. Wenn die Zwerge es gewollt hätten, hätten sie Falstad und sie einfach umbringen können, nachdem sie die Trolle erledigt hatten. Niemand außerhalb ihrer Gruppe hätte es je erfahren müssen.

Gimmel wachte darüber, dass jeder seinen gerechten Anteil der Vorräte bekam. Nachdem er seinen Teil erhalten hatte, schritt Rom langsam davon, um, wie er sagte, einige der Seitentunnel, an denen sie vorbeigekommen waren, auf Trollspuren hin zu untersuchen. Falstad aß mit Genuss, ihm schienen das getrocknete Fleisch und die ebenfalls getrockneten Früchte ausgezeichnet zu munden. Vereesa aß mit geringerer Begeisterung, denn die getrocknete Zwergenkost war bei Menschen und Elfen nicht unbedingt beliebt. Sie wusste, dass sie das Fleisch dörrten, um es länger haltbar zu machen, und es freute sie, dass irgendjemand in diesem trostlosen Lande Früchte gefunden oder angepflanzt hatte – aber ihre empfindsamen Geschmacksnerven protestierten dagegen. Das Essen sättigte jedoch, und die Waldläuferin wusste, dass sie ihre Kräfte noch benötigen würde.

Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatte, stand Vereesa auf und schaute sich um. Falstad und die anderen hatten es sich bequem gemacht, doch die ungeduldige Elfe wollte sich etwas bewegen. Sie zog eine Grimasse, als sie daran dachte, wie ihr Lehrer sie einmal als menschlich bezeichnet hatte. Die meisten Elfen gewöhnten sich ihre Ungeduld schon früh ab, doch manche behielten diese Eigenschaft ein Leben lang. Solche Elfen neigten dann dazu, fern von ihrem Heimatland zu leben oder Dienste anzunehmen, die sie im Namen ihres Volkes auf ausgedehnte Reisen führten. Wenn sie diese Sache hier überlebte, würde sie vielleicht Weiterreisen, vielleicht sogar Dalaran besuchen.

Zu Vereesas Glück waren die Tunnel hier ein wenig höher als jene, durch die sie hergelangt waren. Die Elfe konnte sich größtenteils nur leicht gebeugt durch die Felsenstollen bewegen, manchmal konnte sie sogar aufrecht stehen.

Plötzlich hörte sie eine undeutliche Stimme aus einiger Entfernung und blieb stehen. Die Waldläuferin war bereits weiter gegangen, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte; vielleicht hielt sie sich schon mitten in Troll-Gebiet auf. Mit größter Vorsicht, darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen, zog Vereesa ihr Schwert und schlich näher an die Quelle der Laute heran.

Die Stimme klang nicht wie die eines Trolls. Und je näher sie dem Ursprungsort kam, desto mehr schien es ihr, als würde sie den Sprecher kennen – aber wie war das möglich?

»… ging nicht anders, Erhabener! Ich dachte nicht, dass Ihr wollt, dass sie von Euch wissen!« Eine Pause. »Aye, eine Elfe, schön von Gesicht und Gestalt, das ist sie.« Wieder eine Pause. »Der andere? Ein Wilder von den Aerie. Sagte, sein Reittier wäre entkommen, als die Trolle sie gefangen nahmen.«

So sehr sie es auch versuchte, Vereesa konnte denjenigen, mit dem die eine Stimme in Zwiesprache stand, nicht vernehmen. Aber wenigstens wusste sie, wen sie gerade hörte: einen Hügelzwerg, und zwar ein ihr sehr vertrauter.

Rom. Also hatte er nicht ganz die Wahrheit gesagt, als er meinte, er wolle die Tunnel inspizieren. Doch mit wem sprach er, und warum konnte sie den anderen nicht hören? War der Zwerg verrückt geworden? Sprach er mit sich selbst?

Rom war nun kaum noch zu vernehmen, außer wenn er knapp bestätigte, was sein unhörbares Gegenüber zu ihm sagte. Vereesa riskierte es, entdeckt zu werden, und schlich auf den Gang zu, aus dem die Stimme des Zwerges drang. Sie lehnte sich gerade weit genug vor, um den Zwerg mit einem Auge beobachten zu können.

Rom saß auf einem Felsen und starrte auf seine Hände, die er zusammenhielt. Von ihnen ging ein schwaches, zinnoberrotes Leuchten aus. Vereesa kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was sich darin befand.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnte sie ein kleines Medaillon erkennen, in dessen Mitte ein Juwel eingelassen war. Sie brauchte kein Zauberer zu sein, um ein Objekt der Macht, einen verzauberten Talisman zu erkennen, von Magie erschaffen. Die großen Könige der Elfen gebrauchten ähnliche Geräte, um sich untereinander oder mit ihren Dienern in Verbindung zu setzen.

Doch welcher Zauberer war es, der da mit Rom sprach? Zwerge waren eigentlich nicht dafür bekannt, dass sie die Magie liebten – oder jene, die damit umgingen.

Wenn Rom Verbindung zu einem Zauberer hatte, dem er augenscheinlich sogar diente, warum wanderten er und seine Bande dann noch in den Tunneln hemm und hofften auf den Tag, an dem sie sich endlich wieder sorglos unter freiem Himmel bewegen konnten? Dieser große Zauberer konnte doch mit Sicherheit etwas zur Erfüllung dieses Wunsches beitragen.

»Was?«, stieß Rom plötzlich hervor. »Wo?«

Mit überraschender Schnelligkeit blickte er hoch und sah direkt in Vereesas Gesicht.

Sie wich zurück, doch sie wusste, dass sie zu spät reagiert hatte. Der Zwergenanführer hatte sie gesehen – trotz der Düsternis.

»Tretet hervor, damit ich Euch sehen kann!«, rief er. Als sie zögerte, fügte Rom hinzu: »Ich weiß, dass Ihr es seid, Lady Vereesa.«

Es war sinnlos, sich weiter zu verstecken, also trat die Waldläuferin in den offenen Gang. Sie machte keine Anstalten, das Schwert wegzustecken, denn sie war unsicher, ob Rom nicht ein Verräter an seinen Freunden oder an ihr selbst war.

Er sah sie enttäuscht an. »Und ich hatte gedacht, ich wäre hier vor Euren scharfen Elfenohren sicher! Warum seid Ihr mir gefolgt?«

»Meine Absichten waren nicht böse, Rom. Ich musste mir nur ein wenig die Beine vertreten. Eure Absichten hingegen lassen viele Deutungen zu …«

»Was ich hier tue, geht Euch nichts an, oder?«

Das Juwel auf dem Medaillon strahlte kurz auf, was beide überraschte. Rom neigte seinen Kopf leicht zur Seite, als lausche er dem unhörbaren Sprecher. Wenn dem so war, wurde rasch deutlich, dass ihm nicht gefiel, was er gerade vernahm. »Glaubt Ihr, es ist weise …? Aye, ganz wie Ihr meint …«

Vereesa umfasste ihr Schwert fester. »Mit wem sprecht Ihr?«

Zu ihrer Überraschung hielt Rom ihr das Medaillon entgegen. »Er wird es Euch selbst sagen.« Als sie das dargebotene Medaillon nicht annahm, fügte er hinzu: »Er ist ein Freund, kein Feind.«

Immer noch das Schwert haltend, streckte Vereesa zögernd ihre freie Hand aus, um den Talisman entgegenzunehmen. Sie erwartete einen Schlag oder sengende Hitze, doch das Medaillon fühlte sich kühl und harmlos an.

Meine Grüße an Euch, Vereesa Windrunner.

Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Vereesa ließ das Medaillon beinahe fallen, nicht wegen der Stimme, sondern weil der Sprecher ihren Namen kannte. Sie blickte kurz zu Rom, der ihr ein Zeichen gab zu sprechen.

Wer seid Ihr?, verlangte die Waldläuferin zu wissen, indem sie dem unsichtbaren Sprecher ihre Gedanken schickte.

Nichts geschah. Sie blickte wieder zu dem Zwerg hin.

»Hat er etwas zu Euch gesagt?«, fragte Rom.

»In meinen Gedanken, ja. Ich antwortete auf die gleiche Weise, doch er erwidert nichts mehr.«

»Ihr müsst zu dem Medaillon sprechen! Dann wird er Eure Stimme als Gedanken wahrnehmen. Das Gleiche gilt, wenn er zu Euch spricht.« Die hundeartigen Gesichtszüge schauten entschuldigend drein. »Ich habe keine Ahnung, warum das so ist, aber so funktioniert es nun mal.«

Vereesa schaute das Medaillon an und versuchte es noch einmal.

»Wer seid Ihr?«

Ihr kennt mich durch meine Anweisungen an Eure Befehlshaber. Ich bin Krasus von den Kirin Tor.

Krasus? Das war der Name des Zauberers, der ursprünglich mit den Elfen vereinbart hatte, dass Vereesa Rhonin ans Meer führen sollte. Sie wusste wenig mehr über ihn, als dass ihre Herren mit großem Respekt auf seinen Wunsch reagiert hatten. Vereesa kannte sehr wenige Menschen, die solches von den Elfen-Königen verlangen konnten.

»Euer Name ist mir geläufig. Ihr seid auch Rhonins Schirmherr.«

Eine Pause. Eine unbehagliche Pause, wenn die Waldläuferin es richtig beurteilen konnte.

Ich bin für seine Reise verantwortlich.

»Ihr wisst, dass er vielleicht Gefangener der Orks ist?«

Das weiß ich. Es war nicht geplant.

Nicht geplant? Vereesa fühlte unerklärlichen Zorn in sich aufsteigen. Nicht geplant!

Seine Aufgabe war es zu beobachten. Nicht mehr.

Das glaubte die Elfe schon lange nicht mehr. »Von wo aus beobachten? Aus den Verliesen Grim Batols? Oder sollte er sich mit den Hügelzwergen treffen, aus Gründen, die Ihr nicht genannt habt?«

Noch eine Pause, dann: Die Situation ist sehr viel komplizierter, junge Elfe, und sie wird von Moment zu Moment noch schwieriger. Eure Anwesenheit war zum Beispiel auch nicht Teil des Planes. Ihr hättet am Hafen umkehren sollen.

»Ich habe einen Eid geschworen. Und ich war mir sicher, dass er über die Grenzen Lordaerons hinaus gilt.«

Neben ihr stand Rom mit verwirrtem Gesichtsausdruck. Ohne die Möglichkeit, selbst mit dem Zauberer zu sprechen, konnte er nur raten, was Krasus zu sagen hatte und worauf Vereesas Antworten sich bezogen.

Rhonin hat … Glück, antwortete Krasus endlich.

»Wenn er noch lebt«, schnappte sie.

Wieder zögerte der Zauberer mit seiner Antwort. Warum verhielt er sich so? Es war ihm doch bestimmt gleichgültig, was mit Rhonin geschah. Vereesa wusste genug über die Wege der Zauberer, elfisch oder menschlich, um zu verstehen, dass sie einander bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausnutzten. Es überraschte sie nur, dass Rhonin, der eigentlich schlauer auf sie gewirkt hatte, auf diesen Krasus hereingefallen war.

Ja … falls er noch lebt …Neuerliches Zögern …. liegt es an uns herauszufinden, was wir tun können, um ihn zu befreien.

Seine Antwort brachte sie völlig aus dem Konzept. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte.

Vereesa Windrunner, hört mich an. Ich habe in einigen Angelegenheiten falsch geurteilt – dies gibt Anlass zu großer Sorge – und Rhonin Schicksal beruht auf einer dieser Fehlentscheidungen. Ihr habt vor, ihn zu finden, nicht wahr?

»So ist es.«

Sogar in der Bergfeste der Orks? Einem Ort voller Drachen?

»Ja.«

Rhonin hat Glück, Euch zur Freundin zu haben … und ich hoffe, ebensolches Glück zu haben. Ich werde tun, was ich kann, um Euch bei Eurem bewundernswerten Vorhaben zu helfen, obgleich Ihr es natürlich allein sein werdet, die in reale Gefahr gerät.

»Natürlich«, gab die Elfe sarkastisch zurück.

Bitte gebt den Talisman an Rom zurück. Ich werde noch einmal mit ihm sprechen.

Sie reichte das Zaubergerät liebend gerne an den Zwerg weiter. Rom nahm es und starrte in das Juwel hinein. Manchmal nickte er, obwohl es offensichtlich schien, dass er nicht mit dem einverstanden war, was Krasus sagte.

Schließlich sah er Vereesa an. »Wenn Ihr wirklich meint, es sei notwendig …«

Sie begriff, dass diese Worte für den Zauberer bestimmt waren. Einen Moment später verschwand das Leuchten aus dem Juwel. Rom, der überhaupt nicht glücklich aussah, gab der Elfe erneut den Talisman.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Er will, dass Ihr es bei Eurem Vorhaben tragt. Hier! Er wird es Euch selbst sagen!«

Vereesa ergriff es erneut. Sofort erfüllte Krasus' Stimme ihren Kopf. Rom hat euch gesagt, dass ich wünsche, dass Ihr es tragt?

»Ja, aber das will ich nicht …«

Wollt Ihr Rhonin finden? Wollt Ihr ihn retten?

»Ja, aber …«

Ich bin Eure einzige Hoffnung.

Sie wollte widersprechen, doch in Wahrheit wusste sie, dass sie Hilfe benötigte. Die Chancen standen mehr als schlecht, mit ihr und Falstad ganz auf sich allein gestellt.

»Nun gut. Was erwartet Ihr?«

Hängt den Talisman um Euren Hals, und kehrt mit Rom zu den anderen zurück. Ich werde Euch und Euren Zwergenfreund in den Berg führen … und zu dem Ort, wo Ihr Rhonin wahrscheinlich finden könnt.

Er bot ihr nicht alles an, was sie brauchte, aber genug, um ihre Zustimmung zu erreichen. Sie zog sich die Kette über den Kopf und bettete das Medaillon auf ihre Brust.

Ihr werdet mich hören können, wann immer ich es wünsche, Vereesa Windrunner.

Rom ging an ihr vorbei, er trat bereits den Rückweg an. »Kommt! Wir verschwenden Zeit, Lady Vereesa!«

Als sie ihm folgte, fuhr Krasus fort, zu ihr zu sprechen. Erwähnt nirgends, wozu dieses Medaillon fähig ist. Sprecht nicht vor anderen zu mir, außer wenn ich es erlaube. Zurzeit kennen nur Rom und Gimmel meine Rolle.

»Und die wäre?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu murmeln.

Zu versuchen, uns allen die Zukunft zu erhalten.

Die Elfe grübelte über diese Worte nach, sagte aber nichts. Sie vertraute dem Zauberer noch nicht, hatte aber keine andere Wahl.

Vielleicht wusste Krasus dies, denn er fügte hinzu: Hört mich jetzt, Vereesa Windrunner. Ich werde euch vielleicht befehlen, Dinge zu tun, die nicht in Eurem bevorzugten Interesse zu liegen scheinen, oder in dem derer, um die Ihr Euch sorgt. Vertraut darauf, dass sie es dennoch sind. Es liegen Gefahren vor euch, die Ihr nicht versteht, Gefahren, die Ihr nicht alleine angehen könnt.

Und Ihr, Ihr versteht sie alle?, dachte Vereesa, wohl wissend, dass Krasus ihre Frage nicht hörte.

Es ist noch ein wenig Zeit, bevor die Sonne sinkt. Ich muss mich einer wichtigen Angelegenheit widmen. Verlasst die Tunnel nicht, bevor ich es sage. Fürs erste lebt wohl, Vereesa Windrunner.

Bevor sie protestieren konnte, erlosch das Juwel. Die Waldläuferin fluchte leise. Sie hatte des Magiers fragwürdige Hilfe akzeptiert, nun hatte sie auch seinen Befehlen zu gehorchen. Vereesa legte nicht gerne ihr Leben, ganz zu schweigen von dem Falstads, in die Hände eines Zauberers, der von der Sicherheit seines weit entfernten Turms aus kommandierte.

Schlimmer noch, die Elfe hatte ihre beider Leben in die Hände des selben Zauberers gelegt, der schon Rhonin auf diese wahnwitzige Reise geschickt hatte … und damit in den sicheren Tod.

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