18

Zu langsam. Sie waren viel zu langsam.

Nekros stieß einen Peon mit wütendem Grunzen an, um den wertlosen Ork aus niedriger Kaste zur schnelleren Arbeit anzutreiben. Der andere Ork stöhnte und eilte mit seiner Last davon.

Die niederen Orks waren zu nichts anderem als körperlicher Arbeit zu gebrauchen, und momentan hatte Nekros den Eindruck, dass sie nicht einmal dazu taugten. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als die Krieger dazu zu zwingen, mitzuschuften, um alles bis zum Morgengrauen erledigt zu haben. Nekros hatte sogar darüber nachgedacht, mitten in der Nacht abzureisen, aber das war nicht mehr möglich, und er wollte nicht noch einen weiteren Tag verstreichen lassen. Mit jeder Stunde rückten die Invasionstruppen zweifellos näher, obwohl seine Späher, die ihre Augen wohl vor der Wirklichkeit verschlossen, noch immer behaupteten, es gäbe keine Spuren eines Spähtrupps, geschweige denn einer Armee. Da fiel es wohl nicht weiter ins Gewicht, dass Allianz-Krieger auf Greifen gesichtet worden waren, ein Zauberer den Weg in den Berg gefunden hatte und der schrecklichste aller Drachen nun dem Feind diente. Nein, dass die Wachposten unfähig waren, den Gegner zu sehen, bedeutete nicht, dass die Menschen und ihre Verbündeten nicht schon längst auf Grim Batol zuritten.

Der verstümmelte Krieger war so darin versunken, seinen Arbeitern die Dringlichkeit der Frachtverladung zu erklären, dass er seinen Chefpfleger zunächst gar nicht bemerkte. Erst auf ein vorsichtiges Räuspern hin, drehte sich Nekros um.

»Rede, Brogas. Wieso schleichst du hier herum wie dieser Abschaum?«

Der etwas dünnere Ork verzog das Gesicht. Seine Stoßzähne waren an den Seiten nach unten gebogen, was seinem ohnehin schlechtgelaunt wirkenden Gesicht einen noch traurigeren Ausdruck verlieh. »Das Männchen … Nekros, ich glaube, es stirbt bald.«

Noch schlechtere Nachrichten, vielleicht sogar die schlimmsten! »Lass ihn mich sehen.«

Sie gingen so schnell sie es vermochten, wobei Brogas darauf achtete kein Tempo vorzugeben, das die Behinderung seines Vorgesetzten noch unterstrichen hätte. Nekros hatte jedoch größere Sorgen. Um das Zuchtprogramm fortzusetzen, benötigte er ein weibliches und ein männliches Exemplar. Ohne die eine oder den anderen besaßen sie nichts … und das würde Zuluhed nicht gefallen.

Sie erreichten eine abgelegene Höhle, in der sich der älteste und letzte Begleiter Alexstraszas aufhielt. Tyranastrasz war im Vergleich zu anderen Drachen dereinst gewiss ein beeindruckender Anblick gewesen. Nekros hatte gehört, dass der alte Purpurdrache sogar Deathwing an Größe und Macht ebenbürtig gewesen war, obwohl es sich dabei vielleicht nur um eine Legende handelte. Trotzdem füllte der Drache immer noch die Kammer so weit aus, dass der Anführer der Orks im ersten Moment kaum glauben mochte, dass ein solcher Gigant überhaupt erkranken konnte.

Als er jedoch den unregelmäßigen Atem des Drachens hörte, erkannte er die Wahrheit. Tyran, wie ihn alle nannten, hatte im letzten Jahr mehrere Anfälle erlitten. Der Ork hatte einst angenommen, Drachen seien unsterblich und könnten nur im Kampf getötet werden, aber über die Jahre hinweg hatte er entdeckt, dass auch Drachen mitunter an Krankheiten litten. Irgendetwas hatte Tyran mit einer langsam arbeitenden, aber tödlich verlaufenden Krankheit gestraft.

»Wie lange geht es ihm schon so schlecht?«

Brogas schluckte. »Ungefähr seit letzter Nacht … Aber vor ein paar Stunden sah er bedeutend besser aus!«

Nekros fuhr zu dem Pfleger herum. »Narr! Du hättest mich früher rufen müssen!«

Er hätte den anderen Ork fast geschlagen, erkannte jedoch noch rechtzeitig, wie nutzlos eine frühere Alarmierung über die Befindlichkeit des Drachen gewesen wäre. Er wusste schon seit geraumer Zeit, dass er den älteren Drachen verlieren würde, hatte es vor sich selbst nur nicht eingestehen wollen.

»Was machen wir jetzt, Nekros? Zuluhed wird wütend sein. Unsere Schädel wird er auf Pfähle spießen!«

Nekros verzog das Gesicht. Auch er hatte sich dies gerade vorgestellt und entschieden, dass es ihm überhaupt nicht gefiel. »Wir haben keine Wahl. Bereite ihn auf die Reise vor. Er kommt mit, ob lebendig oder tot! Zuluhed soll machen, was er für richtig hält!«

»Aber Nekros …«

Jetzt schlug der einbeinige Ork seinen Untergebenen. »Weinerlicher Narr! Befolge den Befehl!«

Eingeschüchtert nickte Brogas und eilte davon, zweifellos, um die ihm unterstellten Pfleger zu misshandeln, während sie versuchten Nekros' Befehle zu befolgen. Ja, Tyran würde mit den anderen reisen, ob er noch atmete oder nicht. Er würde zumindest als Ablenkung für den Feind dienen …

Nekros trat einen Schritt näher und betrachtete den großen Drachen genauer. Die fleckigen Schuppen, der ungleichmäßige Atem, die fehlende Bewegung … nein, Alexstraszas Begleiter hatte nicht mehr lange in dieser Welt zu leben.

»Nekros«, krächzte die Stimme der Drachenkönigin plötzlich. »Nekros … ich kann deine Nähe riechen …«

Der schwergewichtige Ork suchte nach einem Ausweg, um sich nicht um seine eigene Haut sorgen zu müssen, sobald Tyran gestorben war. Also machte er sich auf zur Kammer der Königin. Wie immer griff er in seine Gürteltasche und legte eine Hand als Vorsichtsmaßnahme auf die Dämonenseele.

Durch halb geschlossene Augen sah Alexstrasza zu, wie er eintrat. Auch sie war in letzter Zeit kränklich gewesen, aber Nekros wollte nicht glauben, dass er auch sie verlieren würde. Vermutlich wusste sie einfach nur, dass ihr letzter Begleiter im Sterben lag. Nekros wünschte, einer der anderen Drachen hätte überlebt. Sie waren wesentlich jünger und kräftiger als Tyran gewesen.

»Was gibt es, meine ‚Königin‘?«

»Nekros, warum hältst du an diesem Irrsinn fest?«

Er grunzte. »Ist das alles, was du von mir willst, Weib? Ich habe Wichtigeres zu tun, als deine albernen Fragen zu beantworten!«

Die Drachenkönigin schnaubte. »All deine Mühen werden mit deinem Tod enden. Du hättest die Möglichkeit dich und deine Männer zu retten, aber du ergreifst sie nicht.«

»Wir sind kein feiger hinterhältiger Abschaum wie Orgrim Doomhammer. Der Dragonmaw-Clan kämpft bis zum letzten Blutstropfen!«

»Die Flucht nach Norden … Kämpft ihr so?«

Nekros Skullcrusher zog die Dämonenseele hervor. »Es gibt Dinge, von denen verstehst selbst du nichts! Es gibt Zeiten, in denen die Flucht geradewegs in den Kampf führt!«

Alexstrasza seufzte. »Ich kann nicht zu dir durchdringen, oder Nekros?«

»Zumindest lernst du.«

»Sag mir dann dies: Was wolltest du in Tyrans Kammer? Was fehlt ihm?« Die Augen und der Tonfall in der Stimme der Königin verrieten ihre Sorge um ihren Begleiter.

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Königin'! Denke lieber an dich selbst. Wir werden dich bald bewegen müssen. Benimm dich, und es wird kaum schmerzen …«

Mit diesen Worten steckte er die Dämonenseele ein und verließ Alexstrasza. Die Drachenkönigin rief noch einmal seinen Namen, zweifellos um mehr über das Befinden ihres Begleiters in Erfahrung zu bringen, aber Nekros konnte nicht noch weitere Zeit mit den Gedanken an Drachen verschwenden – zumindest nicht an rote.

Auch wenn die Kolonne Grim Batol verlassen würde, bevor die Invasoren der Allianz eintrafen, wusste der Ork-Kommandant mit absoluter Sicherheit, dass ein Wesen rechtzeitig auftauchen und angreifen würde. Deathwing würde kommen. Der schwarze Leviathan würde am Morgen eintreffen – nur wegen eines einzigen Wesens.

Alexstrasza …Der schwarze Drache würde wegen seiner großen Rivalin erscheinen.

»Lasst sie alle kommen!«, zischte der Ork sich selbst zu. »Alle. Solange der Dunkle nur als Erster hier ist …« Er strich über die Tasche, in der er die Dämonenseele aufbewahrte. »… und dann wird Deathwing schon den Rest erledigen.«


Rhonin erlangte nur langsam die Besinnung zurück. Selbst in seinem geschwächten Zustand blieb der Zauberer danach ruhig liegen und erinnerte sich daran, was beim letzten Mal geschehen war. Er wollte nicht, dass der Golem ihm erneut das Bewusstsein raubte – vor allem, weil Rhonin fürchtete, dass er dann nicht noch einmal zurückfinden würde.

Erst als seine Stärke zurückkehrte, öffnete der gefangene Zauberer vorsichtig die Augen.

Der flammende Golem war nirgendwo zu sehen.

Überrascht hob Rhonin den Kopf und öffnete die Augen weit.

Er hatte die Bewegung kaum beendet, als die Luft vor ihm flimmerte und Hunderte kleiner Feuerbälle aus dem Nichts entstanden. Die brennenden Kugeln drehten sich, flossen zusammen und bildeten einen grob menschlichen Umriss, der innerhalb eines Atemzugs Substanz gewann.

Der riesige Golem entstand erneut in all seiner Pracht.

Rhonin, der das Schlimmste erwartete, senkte den Kopf und schloss gleichzeitig die Augen. Er harrte der entsetzlichen Berührung durch die magische Kreatur … und harrte und harrte. Schließlich siegte seine Neugier über die Furcht, und er öffnete vorsichtig ein Auge und sah, dass der Golem erneut verschwunden war.

Rhonin wusste nun, dass er von ihm auch dann unter Beobachtung gehalten wurde, wenn er nicht zu sehen war. Nekros wollte anscheinend mit ihm spielen, obwohl es vielleicht auch Kryll war, von dem dieser neueste Trick stammte. Die Hoffnung des Zauberers verging.

Vielleicht war es besser so. Immerhin hatte er doch geglaubt, dass sein Tod denen gefallen würde, die seinetwegen gestorben waren. Würde er auf diese Weise also nicht wenigstens seine Schuld endlich sühnen?

Rhonin konnte nichts tun, also ergab er sich in sein Schicksal und achtete weder auf das Verstreichen der Zeit, noch auf die Geräusche der Orks, die ihre Vorbereitungen für die Abreise abschlossen. Wenn Nekros zurückkehrte, würde er den Zauberer entweder mitnehmen oder, was wahrscheinlicher war, Rhonin ein letztes Mal verhören und anschließend hinrichten.

Und Rhonin konnte nichts dagegen tun.

Irgendwann, als er seine Augen erneut schloss, überkam ihn die Müdigkeit und entführte ihn in einen angenehmen Schlummer. Rhonin träumte von vielen Dingen – Drachen, Ghouls, Zwergen … und von Vereesa. Der Traum von der Elfe brachte Ruhe in seine besorgten Gedanken. Er hatte sie nur für kurze Zeit gekannt, aber ihr Gesicht tauchte immer häufiger in seinem Geist auf. In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätte er sie vielleicht besser kennen lernen können.

Die Elfe stand so sehr im Zentrum seines Traums, dass Rhonin sogar ihre Stimme hören konnte. Sie rief seinen Namen immer und immer wieder, zuerst sehnsüchtig und dann, als er nicht antwortete, mit wachsender Besorgnis … »Rhonin!« Ihre Stimme war entfernt, war nicht mehr als ein Flüstern, schien jedoch an Substanz zuzulegen.

»Rhonin!«

Dieses Mal riss ihn ihr Ruf aus seinen Träumen und zerrte ihn aus seinem Schlaf. Rhonin kämpfte dagegen an, denn er hatte keine Sehnsucht nach seiner Zelle und dem bevorstehenden Tod.

»Er antwortet nicht …«, flüsterte eine andere Stimme, nicht so sanft und musikalisch wie die von Vereesa. Dem Zauberer kam sie bekannt vor, und dieses Erkennen trieb ihn dem Erwachen noch stärker entgegen.

»Vielleicht verhindern sie so seine Flucht, obwohl es nur Ketten, aber keine Gitter gibt«, antwortete die Elfe. »Es sieht so aus, als hättest du die Wahrheit gesprochen.«

»Ich würde Euch nie belügen, edle Herrin. Ich würde Euch nie belügen!«

Dieser letzten schrillen Stimme gelang, was die anderen nicht vermocht hatten. Rhonin löste sich aus den letzten Resten des Schlafs … und hätte beinahe laut gerufen.

»Dann bringen wir es hinter uns«, murmelte Falstad, der Zwerg. Die Schritte, die darauf folgten, machten dem Zauberer klar, dass der Zwerg und die anderen sich auf ihn zubewegten.

Er öffnete die Augen.

Vereesa und Falstad betraten tatsächlich die Kammer. Das hübsche Gesicht der Elfe war voller Sorge. Die Waldläuferin hatte ihr Schwert gezogen und trug etwas um den Hals, das fast aussah wie das Medaillon, das Deathwing Rhonin gegeben hatte. Dieses hier verfügte jedoch über einen roten Stein, wohingegen der andere so schwarz war wie der bösartige Leviathan selbst.

Der Zwerg neben ihr trug seinen Sturmhammer auf dem Rücken. Als Waffe hielt er einen langen Dolch – dessen Spitze die Kehle des keuchenden Kryll berührte.

Der Anblick der ersten beiden, vor allem Vereesa, erfüllte Rhonin mit Hoffnung …

Hinter dem kleinen Rettungstrupp entstand der Golem aus dem Nichts – absolut lautlos.

»Passt auf!«, rief der Zauberer. Seine Stimme war noch heiser von seinen letzten Schreien.

Vereesa und Falstad wichen nach unterschiedlichen Seiten aus, als das monströse Skelett nach ihnen griff. Kryll wurde vom Zwerg weggestoßen und rutschte auf die Wand zu, an die man Rhonin gekettet hatte. Der Goblin fluchte, als er schwer gegen den Fels schlug.

Falstad kam als Erster wieder hoch und warf seinen Dolch dem Golem entgegen. Der ignorierte die Klinge, die von seiner Knochenpanzerung abprallte. Der Zwerg zog seinen Sturmhammer. Er schwang ihn dem unmenschlichen Wächter entgegen, während Vereesa ebenfalls aufsprang, um sich an dem Angriff zu beteiligen.

Leider bezweifelte Rhonin, dass sie die Kreatur in irgendeiner Weise besiegen konnten.

Falstads erster Schlag trieb das Monster einen Schritt zurück, aber beim zweiten packte der Golem den oberen Teil des Griffs. Der Greifenreiter zog an der Waffe, während der Golem versuchte, sie ihm abzunehmen.

»Die Hände!«, stieß der Magier hervor. »Achte auf die Hände!«

Brennende fleischlose Finger griffen nach Falstad, als der in ihre Reichweite kam. Der verzweifelte Zwerg ließ seinen wertvollen Hammer los und stolperte aus dem unmittelbaren Dunstkreis des Feindes.

Vereesa sprang vor und stieß zu. Ihre Elfenklinge richtete nichts gegen die makabre Panzerung aus, die den Stoß einfach ablenkte. Der Golem drehte sich um und schleuderte den Sturmhammer in ihre Richtung.

Die Waldläuferin sprang geschickt zur Seite, war jetzt jedoch die einzige, die sich noch gegen den unmenschlichen Wächter verteidigen konnte. Vereesa stieß noch zwei weitere Male zu und verlor beim zweiten Versuch beinahe ihre Klinge. Der Golem, offenbar immun gegen Stichwaffen, versuchte bei jedem Angriff nach der Klinge zu greifen.

Die Freunde so gut wie verloren … und Rhonin tat nichts, um ihnen beizustehen!

Es wurde noch schlimmer. Falstad hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden und versuchte nach seinem Hammer zu greifen.

Der Mund des Golem öffnete sich unmöglich weit …

… und eine Welle aus schwarzem Feuer erreichte Falstad beinahe. Im letzten Moment gelang es ihm, sich zur Seite zu werfen. Dennoch wurde seine Kleidung noch angesengt.

Jetzt stand Vereesa dem Golem völlig allein gegenüber.

Rhonin kämpfte gegen die Frustration. Der verletzte Zauberer sammelte die letzte Kraft, über die er noch verfügte, um einen Zauberspruch zu wirken. Da der Golem beschäftigt war, hatte er Zeit genug, sich darauf zu konzentrieren. Er benötigte nur noch einen Augenblick …

Geschafft! Die Ketten, die seinen Körper bannten, öffneten sich und fielen zu Boden. Aufatmend streckte Rhonin seine Arme einmal kurz, bevor er sie dem Golem zuwandte …

Etwas Schweres schlug gegen seinen Rücken; ein plötzlicher Druck auf seine Kehle raubte ihm den Atem.

»Böser, böser Zauberer! Weißt du denn nicht, dass du sterben sollst?«

Kryll drückte ihm die Kehle mit einer Kraft zusammen, die den Zauberer völlig überraschte. Er hatte gewusst, dass Goblins stärker waren als sie aussahen, aber Krylls Stärke war fast schon unheimlich.

»Genau so, Mensch … Gib auf! Fall vor mir auf die Knie …!«

Rhonin hätte beinahe genau das getan. Ihm schwindelte unter dem Luftmangel und das, verbunden mit der Folter, die er unter den Händen des Goblins erlitten hatte, reichte fast schon aus, ihn umzubringen. Aber wenn er fiel, würden auch Vereesa und Falstad sterben …

Er konzentrierte sich und griff mit einer Hand nach dem mörderischen Goblin.

Mit einem hohen Schrei gab Kryll ihn frei und fiel zu Boden. Rhonin taumelte gegen die Wand und rang nach Luft. Er hoffte, dass Kryll seine Schwäche nicht ausnutzen konnte.

Aber er musste sich keine Sorgen machen. Der Goblin hatte sich am Arm verbrannt und hüpfte fluchend davon. »Böser, böser Zauberer! Verdammt sei deine Magie! Ich überlass dich meinem Freund hier, meinem Freund und seiner zärtlichen Berührung!«

Kryll hüpfte auf den Ausgang zu und lachte boshaft über das Schicksal des Eindringlings.

Der Golem unterbrach seinen Kampf gegen Vereesa und den Zwerg. Sein tödlicher Blick glitt hin zu dem Fliehenden. Seine Kiefer öffneten sich …

… und ein Ball aus schwarzem Feuer schoss aus seinem skelettierten Mund, bis er den ahnungslosen Goblin vollständig einhüllte.

Mit einem gnädig kurzen Schrei verpuffte Kryll in dem Flammenball, der ihn so rasch mit seinem magischen Feuer verbrannte, dass nur noch Asche zu Boden fiel … Asche und das ruinierte Medaillon, das er in seiner Gürteltasche bei sich getragen hatte.

»Er hat das kleine Monster umgebracht!«, staunte Falstad.

»Und wir werden die nächsten sein«, erinnerte ihn die Elfe. »Obwohl ich keine Hitze spüre, ist meine Klinge unter den Flammen seines Körpers schon halb geschmolzen. Ich glaube nicht, dass ich ihm noch lange standhalten kann.«

»Aye, mit meinem Hammer könnte ich vielleicht etwas unternehmen, aber …pass auf!«

Der Golem stieß erneut einen Feuerball aus, doch dieses Mal zur Decke hin gerichtet. Die Flammen taten jedoch mehr als nur den Fels zum Glühen zu bringen. Als der Feuerball aufschlug, zerplatzte die Decke und regnete in großen Stücken zu Boden.

Ein solches Stück traf Vereesa mit voller Wucht am Arm. Die Waldläuferin sackte zu Boden. Der Steinregen ließ Falstad zurückweichen und verhinderte, dass Rhonin zu ihr gelangen konnte.

Der Feuergolem konzentrierte sich auf die gefallene Elfe. Seine Kiefer öffneten sich erneut …

»Nein!« Rhonin reagierte mit einem Aufbäumen seiner Kräfte und hielt dem Wächter einen Schild entgegen, wie er ihn mächtiger noch nie erschaffen hatte.

Die schwarzen Flammen trafen auf das Hindernis … und wurden von ihm zurückgeschleudert.

Genau auf den Golem zu!

Rhonin hätte nicht geglaubt, dass die eigenen Waffen des Wächters diesen in solche Bedrängnis bringen könnten, aber die Flammen richteten sich nicht einfach nur gegen ihn, sondern verzehrten ihn hungrig. Aus der fleischlosen Kehle des Golems stieg ein Schrei empor, ein gottloser, unmenschlicher Schrei. Dann erbebte die monströse Kreatur – und explodierte in der kleinen Höhle mit der Macht eines magischen Sturms.

Diesen Gewalten konnten die Reste der Decke nicht mehr widerstehen. Sie stürzte endgültig ein – genau über Rhonin und seinen Rettern.


In der Schwärze der Nacht flog der Drache Deathwing nach Osten über das Meer. Schneller als der Wind reiste er nach Khaz Modan und, was bedeutsamer war, nach Grim Batol. Der Drache lächelte in sich hinein, ein Anblick, der jedes andere Wesen in Todesangst versetzt hätte. Alles lief so, wie er es geplant hatte. Seine die Menschen betreffenden Pläne verliefen glatt. Nur Stunden zuvor hatte er eine Nachricht von Terenas erhalten, in der es hieß, dass man nur eine Woche nach »Lord Prestors« Krönung bekannt geben wolle, dass der neue Monarch von Alterac die junge Tochter des Königs von Lordaeron am Tag ihrer Volljährigkeit heiraten würde.

Nur noch ein paar Jahre – nicht mehr als ein Augenzwinkern in der Lebensspanne eines Drachen –, und er würde die Position erreicht haben, die es ihm ermöglichte, die Vernichtung der Menschen einzuleiten. Nach ihnen würden die Elfen und Zwerge, älter und ohne die Vitalität der Menschen, fallen wie die Blätter eines sterbenden Baums.

Zukünftig würde er an diese Tage mit Freude zurückdenken. Doch jetzt musste sich Deathwing um eine dringendere und noch interessantere Situation kümmern. Die Orks bereiteten sich darauf vor ihre Bergfestung zu verlassen. Im Morgengrauen würden sie die Wagen nach draußen lenken und sich auf den Weg zur letzten Festung der Horde in Dun Algaz machen.

Mit ihnen würden auch die Drachen reisen.

Die Orks erwarteten eine Invasion der Allianz aus dem Westen. Zumindest erwarteten sie Greifenreiter und Zauberer … und einen schwarzen Riesen. Deathwing hatte nicht vor, Nekros Skullcrusher in diesem Punkt zu enttäuschen. Von Kryll wusste er, dass der einbeinige Ork etwas vorhatte. Der Drache freute sich darauf herauszufinden, was die niedere Kreatur beabsichtigte. Er vermutete bereits etwas, aber es würde interessant sein, herauszufinden, ob der Ork vielleicht doch einmal zu einem originellen Gedanken fähig gewesen war.

Der dunkle Umriss von Khaz Modans Küste erschien am Horizont. Deathwing konnte hervorragend in der Dunkelheit sehen und änderte leicht den Kurs, um weiter nach Norden zu fliegen. Es blieben ihm nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenaufgang. Das bedeutete, dass er genügend Zeit hatte, um sein Ziel zu erreichen. Dort würde der Drache warten und beobachten und den richtigen Moment wählen.

Und die Zukunft verändern.


Ein anderer Drache flog ebenfalls, einer, der viele Jahre lang nicht mehr geflogen war. Das Gefühl des freien Flugs begeisterte ihn, erinnerte ihn jedoch auch daran, wie sehr er aus der Übung gekommen war. Es hätte sich völlig natürlich anfühlen sollen, ein Teil seines ureigensten Wesens, aber es war ihm fremd geworden.

Der Drache Korialstrasz war viel zu lange Krasus, der Zauberer gewesen.

Wäre es bereits Tageslicht gewesen, hätten die, die seinen Flug beobachteten, einen großen, wenn auch nicht gigantischen Drachen gesehen, größer als die meisten, aber keiner der fünf Aspekte. Er war blutrot und schlank, und in seiner Jugend hatte Korialstrasz vor den Angehörigen seiner Art als gutaussehend gegolten. Zumindest hatte er die Aufmerksamkeit seiner Königin errungen. Der rote Riese war schnell, tödlich und in der Schlacht entscheidungsfreudig. Er hatte zu den entschlossensten Verteidigern der Königin gehört und war ihr wichtigster Diener geworden, wenn es um den Umgang mit neuen, aufstrebenden Völkern ging.

Selbst vor der Gefangennahme seiner geliebten Alexstrasza hatte er viele Jahre in der Gestalt des Zauberers Krasus verbracht und sich nur in seine wahre Gestalt zurück verwandelt, wenn er sie heimlich besuchte. Als einer ihrer jüngeren Begleiter hatte er nicht die Autorität eines Tyranastrasz, aber Korialstrasz wusste, dass er einen besonderen Platz im Herzen seiner Königin einnahm. Deshalb hatte er sich freiwillig gemeldet, um ihr wichtigster Agent unter dem vielversprechendsten und vielseitigsten der neuen Völker zu werden – der Menschheit. Dort sollte er dabei helfen, dieses Volk auf den Weg zur Reife zu führen.

Alexstrasza hielt ihn sicherlich für tot. Nach ihrer Gefangennahme und der Unterwerfung der restlichen Drachenflieger hatte er nur eine Möglichkeit gesehen, um den Kampf fortzusetzen. Und so hatte er sich wieder als Krasus getarnt und der Allianz in ihrem Krieg gegen die Orks geholfen. Es deprimierte ihn, beim Töten seines eigenen Blutes mitzuhelfen, aber die jungen Drachen, die in der Horde aufgewachsen waren, wussten nur wenig über den vergangenen Ruhm ihrer Rasse. Sie lebten selten lange genug, um ihre Blutgier hinter sich zu lassen und die Weisheit zu erlernen, die in Wirklichkeit das Erbe der Drachen war. Als er der Elfe und dem Zwerg geholfen hatte, den Berg und sein Inneres zu erreichen, hatte er das Glück gehabt, zu einem der jungen Drachen in dessen Geist sprechen zu können. Er hatte ihn beruhigt und ihm erklärt, was getan werden musste. Dass der andere Drache zugehört hatte, war ein gutes Zeichen. Zumindest für einen gab es also noch leise Hoffnung.

Aber vieles musste noch getan werden, so viel, dass Korialstrasz sich erneut von den Sterblichen abwenden und sie ihrem Schicksal überlassen musste. In dem Moment, als er die Wagen durch das Medaillon erblickt und die gebrüllten Befehle der Ork-Offiziere gehört hatte, hatte er begriffen, dass sein Kampf kurz vor dem Ende stand. Die Orks hatten den Köder geschluckt und verließen Grim Batol. Sie würden seine geliebte Alexstrasza ins Freie befördern – dorthin, wo er sie endlich retten konnte.

Selbst dort würde es nicht leicht werden. Er benötigte den richtigen Zeitpunkt, einen Hauch von List und natürlich reines Glück.

Dass Deathwing lebte und offensichtlich den Niedergang der Lordaeron-Allianz plante, stellte eine neue und furchtbare Gefahr dar, die für einen gewissen Zeitraum drohte, all das, was Korialstrasz geplant hatte, zunichte zu machen. Und doch wies das, was Krasus entdeckt hatte, darauf hin, dass Deathwing sich zu sehr von der Politik der Allianz vereinnahmen ließ, um über die weit entfernten Orks und die Überreste ihres einst stolzen Geschwaders aus roten Drachen nachzudenken. Nein, Deathwing spielte sein eigenes Spiel mit den verschiedenen Königreichen als Figuren. Wenn man ihn nicht stoppte, würde er sicherlich Krieg und Zerstörung über sie bringen. Zum Glück erforderte ein solches Spiel Jahre, und so machte sich Korialstrasz keine Sorgen um die Menschen in Lordaeron und dahinter. Ihre Belange konnten warten, bis er seine Geliebte befreit hatte.

Auch wenn der Flugdrache die wachsende Bedrohung der Länder, die unter seinem Schutz standen, ignorieren konnte, nagte doch eine andere Sorge an seinen Gedanken, bis er sie nicht länger ignorieren konnte. Rhonin – und die beiden, die ihn gesucht hatten – hatten Krasus, dem Zauberer, vertraut und nicht geahnt, dass für Korialstrasz, den Drachen, die Rettung seiner Königin wichtiger war als das eigene Leben. Die Leben dreier Sterblicher hatten im Vergleich dazu keine Rolle gespielt – so hatte er zumindest bis vor kurzem geglaubt.

Doch nun plagten den Drachen Schuldgefühle. Schuldgefühle nicht nur, weil er Rhonin betrogen hatte, sondern auch weil er die Elfe und den Zwerg verlassen hatte, obwohl er ihnen versprach, sie im Berginnern zu begleiten.

Rhonin war vermutlich schon seit einiger Zeit tot, aber vielleicht war es für eine Rettung der anderen beiden noch nicht zu spät. Der rote Leviathan wusste, dass er sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren konnte, bis er alles für die beiden getan hatte, was möglich war.

An der Spitze der Südwestküste von Khaz Modan, nur wenige Stunden von Ironforge entfernt, suchte sich Korialstrasz einen Gipfel inmitten einer Bergkette aus und ging dort nieder. Er benötigte einige Momente, um sich zu orientieren, dann schloss er seine Augen und konzentrierte sich auf das Medaillon, das Rom der Waldläuferin Vereesa gegeben hatte.

Obwohl sie den Stein in der Mitte vermutlich für ein Juwel hielt, handelte es sich in Wirklichkeit um einen Teil des Drachens. Durch Magie war er in seine gegenwärtige Form gepresst worden, obwohl seine Existenz als eine von Korialstraszs Schuppen begonnen hatte. Die so verwandelte Schuppe verfügte über Fähigkeiten, die jeden Magier erstaunt hätten – wenn sie gewusst hätten, wie man Drachenmagie anwendet. Zum Glück für Korialstrasz wussten das nur wenige, sonst hätte er es auch nicht riskiert, ein solches Medaillon zu erschaffen. Rom, wie auch die Elfe, glaubte, dass das Juwel nur zur Kommunikation taugte und der Drache hatte nicht vor, diese Fehleinschätzung zu korrigieren.

Als der Wind heulte und Schnee gegen den mächtigen Körper des Leviathan blies, faltete Korialstrasz seine Flügel neben seinem Kopf, um sich während seiner Konzentrationsphase besser schützen zu können. Er stellte sich die Elfe vor, so wie er sie durch den Talisman gesehen hatte. Für eine Angehörige ihrer Art war sie nett anzusehen, und sie machte sich sichtlich Sorgen um Rhonin. Sie war außerdem eine tapfere Kriegerin. Vielleicht lebte sie noch – genau wie der Zwerg aus den Aeries.

»Vereesa Windrunner …«, sagte er ruhig. »Vereesa Windrunner.« Korialstrasz schloss seine Augen und versuchte sein inneres Auge zu öffnen. Seltsamerweise sah er nichts. Mit Hilfe des Medaillons hätte er alles sehen müssen, was sich vor dem Medaillon und der Elfe befand. Hatte sie es vielleicht in eine Tasche gesteckt?

»Vereesa Windrunner … mache ein Geräusch, egal wie leise, damit ich weiß, dass du mich hören kannst.«

Noch immer nichts.

»Elfe!« Zum ersten Mal verlor der Drache beinahe die Fassung. »Elfe!«

Immer noch keine Antwort, kein Bild. Korialstrasz konzentrierte sich völlig auf das Medaillon, lauschte auf irgendein Geräusch und wenn es nur das Zischen eines Orks gewesen wäre.

Nichts.

Zu spät … Sein schlechtes Gewissen war zu spät erwacht, um Rhonins Gefährten zu retten, und jetzt waren auch sie gestorben, weil der Drache ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Als Krasus hatte er mit Rhonins Schuld gespielt und mit den Erinnerungen an die Begleiter, die der Zauberer bei seiner letzten Mission verloren hatte. Rhonin hatte sich dabei schlecht gefühlt. Jetzt jedoch begann der Drache die Gefühle des Menschen besser zu verstehen. Alexstrasza hatte immer in einem umsorgenden, mütterlichen Tonfall von den jüngeren Völkern gesprochen, als seien auch sie ihre Kinder. Ihre Sorge hatte ihren Begleiter angesteckt und so hatte er als Krasus hart an einer guten Entwicklung der Menschen gearbeitet. Die Gefangennahme seiner Königin durch die Orks hatte seine Überzeugungen jedoch bis in die Grundfesten erschüttert und Korialstrasz dazu gebracht, seine eigenen Lehren zu vergessen … bis heute.

Für diese drei kam seine Wandlung also zu spät.

»Aber es ist noch nicht zu spät für dich, meine Königin«, sagte der Drache. Sollte er das hier überstehen, würde er den Rest seines Lebens damit verbringen seine Fehler, die er an Rhonin und den anderen begangen hatte, wiedergutzumachen. Jetzt zählte jedoch nichts anderes als die Rettung seiner Geliebten. Sie würde sein Handeln verstehen … hoffte er.

Der majestätische rote Drache spreizte seine Flügel und erhob sich in die Lüfte, machte sich auf den Weg nach Norden.

Nach Grim Batol.


Nekros Skullcrusher wandte sich von den Trümmern ab, wütend, aber nicht bereit sich von seinen Plänen ablenken zu lassen.

»Soviel zum Thema Zauberer …«, murmelte er und versuchte sich nicht vorzustellen, welch einen Zauberspruch der Mensch gewoben haben musste, um diese Zerstörungen auszulösen und den schier unbesiegbaren Golem zu vernichten. Der Spruch musste sehr mächtig gewesen sein, denn er hatte nicht nur den Zauberer das Leben gekostet, sondern auch eine ganze Sektion der Tunnel zum Einsturz gebracht.

»Graben wir die Leiche aus?«, fragte einer der Krieger.

»Nein, reine Zeitverschwendung.« Nekros griff nach der Tasche, in der sich die Dämonenseele befand und dachte bereits an den Höhepunkt seines verzweifelten Plans. »Wir verlassen Grim Batol jetzt

Die anderen Orks folgten ihm. Den meisten gefiel die Entscheidung, die Bergfestung zu verlassen, nicht, aber sie wollten auch nicht hier zurückbleiben – vor allem nicht, wenn der Spruch des Zauberers auch das restliche Tunnelsystem in Mitleidenschaft gezogen hatte.


Ein unglaublicher Druck lastete auf Rhonins Kopf, ein Druck, so brutal, dass er befürchtete, sein Schädel könne jeden Augenblick gesprengt werden. Mühsam zwang er seine Augen, sich zu öffnen. Er wollte herausfinden, was ihn niederdrückte und wie er es so schnell wie möglich entfernen konnte.

Als er seinen verschwommenen Blick nach oben richtete, stieß er die Luft aus den Lungen.

Eine Felslawine – mindestens eine Tonne, wenn nicht mehr – hing ungefähr einen Fuß über seinem Kopf. Der Schild, den er zuvor geschleudert hatte, leuchtete schwach und gab damit zu erkennen, was genau verhindert hatte, dass sie zermalmt worden waren.

Der Druck in seinem Kopf, das begriff er jetzt, war der Teil seines Geistes, dem es gelungen war, den Spruch zu erhalten und so sein Leben zu retten. Der wachsende Schmerz wies den gefangenen Zauberer jedoch darauf hin, dass der Spruch mit jeder verstreichenden Sekunde schwächer wurde.

Er drehte sich, versuchte eine bequemere Stellung einzunehmen und hoffte, dass damit auch der Druck abnehmen würde, doch dann spürte er etwas unter seinem Hinterkopf. Rhonin griff vorsichtig danach, vermutete einen kleinen Stein, den er entfernen wollte. Als seine Finger ihn berührten, spürte er ein jedoch einen Hauch von Magie.

Die Neugier lenkte ihn von der über ihm schwebenden Bedrohung ab. Rhonin zog den Gegenstand dicht genug zu sich heran, um ihn betrachten zu können.

Ein schwarzes Juwel. Sicherlich jenes, das sich einst in der Mitte von Deathwings Medaillon befunden hatte.

Rhonin hob die Augenbrauen. Er hatte das Medaillon zuletzt nach Krylls Tod gesehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nicht um den Stein gekümmert, war zu sehr mit der Gefahr beschäftigt gewesen, in der Vereesa und …

Vereesa! Das Gesicht der Elfe kreiste plötzlich in seinen Gedanken. Sie und der Zwerg waren weiter entfernt gewesen, hatten unter dem Schutz des ursprünglichen Zauberspruchs gestanden, aber jetzt …

Er drehte sich und versuchte sie zu entdecken. Als er sich bewegte, verstärkte sich jedoch der Druck in seinem Kopf, und die Steine senkten sich um einige Zentimeter.

Gleichzeitig hörte er einen tiefen Fluch.

»Falstad?«, stieß Rhonin hervor.

»Aye …«, kam die leise Antwort. »Ich wusste, dass du überlebt hast, Zauberer, weil wir nicht zerquetscht worden sind, aber ich dachte, du würdest vielleicht nie wieder aufwachen. Es wurde Zeit!«

»Hast du … lebt Vereesa?«

»Schwer zu sagen. Der Schimmer, der von deinem Zauberspruch ausgeht, lässt mich ein wenig von ihr sehen, aber nicht genug. Hab nichts von ihr gehört, seit ich aufgewacht bin.«

Rhonin biss die Zähne zusammen. Sie musste überlebt haben. »Falstad, wie viel Platz ist zwischen dir und den Felsen?«

Sein Gefährte bewies Galgenhumor. Er lachte. »Sie sind nah genug, um meine Nase zu kitzeln, Mensch, sonst hätte ich schon längst nach ihr gesehen. Hätte nicht gedacht, dass ich meine eigene Beerdigung erleben würde.«

Der Magier ignorierte die letzte Bemerkung und dachte an die Nähe der Steinlawine, von der der Zwerg gesprochen hatte. Anscheinend wurde die Kraft des Spruchs schwächer, je weiter er von Rhonin entfernt war. Vereesa und Falstad waren zwar nicht zermalmt worden, aber die Waldläuferin war möglicherweise am Kopf getroffen worden und vielleicht sogar unter dem Schlag gestorben.

Doch Rhonin musste sich seine Hoffnung bewahren.

»Mensch – wenn es nicht zuviel verlangt ist … kannst du irgendwas für uns tun?«

Konnte er sie retten? Besaß er noch so viel Macht und Stärke? Er steckte den schwarzen Stein ein und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre verzweifelte Situation.

»Gib mir ein wenig Zeit …«

»Und was sollte ich wohl sonst tun?«

Der Druck auf den Kopf des Magiers wurde immer stärker. Rhonin bezweifelte, dass sein Schild noch lange funktionieren würde und doch musste er ihn erhalten, während er sich gleichzeitig an einem zweiten, vielleicht noch komplexeren Spruch versuchte.

Er musste nicht nur sie alle drei aus dieser gefährlichen Lage retten, sondern auch noch an einen sicheren Ort bringen. Und all das, während sein erschöpfter Körper nach Erholung schrie.

Wie funktionierte dieser Spruch noch gleich? Das Denken erzeugte Schmerz, aber schließlich fielen Rhonin die Worte ein.

Wenn er die Formel versuchte, würde er dabei seine Konzentration unweigerlich von dem Schild ablenken. Und wenn er zu lange brauchte …

Welche Wahl habe ich denn?

»Falstad, ich versuche es jetzt …«

»Das würde mir größte Freude bereiten, Mensch. Ich glaube, der Stein drückt bereits gegen meine Brust.«

Ja, auch Rhonin hatte den Rutsch bemerkt. Er musste sich definitiv beeilen.

Er sprach die Worte und sammelte seine Macht …

Die Felsen über ihm begannen sich unheilvoll zu bewegen. Mit seiner gesunden Hand malte Rhonin ein Zeichen. Der Schuldspruch versagte. Tonnen von Gestein sanken dem Trio entgegen …

… und plötzlich lag Rhonin auf dem Rücken und blickte in einen wolkenverhangenen Himmel.

»Dagaths Hammer!«, brüllte Falstad neben ihm. »Musste das denn so knapp abgehen?«

Trotz seiner Schmerzen setzte sich Rhonin auf. Der kalte Wind half ihm dabei, sich aus seinem desorientierten Zustand zu lösen. Er sah zu dem Zwerg hinüber.

Falstad setzte sich ebenfalls auf. Der Blick des Greifenreiters flackerte wild, aber ausnahmsweise hatte das nichts mit einem zu bestreitenden Kampf zu tun. Sein Gesicht war bleich, etwas, das Rhonin sich bei dem kampferprobten Krieger niemals vorgestellt hätte.

»Nie, nie wieder krieche ich in einen Tunnel! Von jetzt an gibt es nur noch den Himmel für mich. Dagaths Hammer!«

Der Zauberer wollte antworten, wurde jedoch von einem entfernteren Stöhnen gestoppt. Er kam unsicher auf die Beine und stolperte zu Vereesas bewegungslosem Körper. Im ersten Moment glaubte Rhonin, er habe sich das Stöhnen eingebildet – die Waldläuferin wirkte völlig leblos –, doch dann wiederholte es sich.

»Sie – sie lebt, Falstad!«

»Aye, ihr Stöhnen ist ein klarer Hinweis darauf, würde ich wetten. Natürlich lebt sie! Beeil dich und sag mir, wie's ihr geht.«

»Moment …« Rhonin drehte die Elfe vorsichtig um, betrachtete ihr Gesicht, ihren Kopf und ihren Körper. Sie hatte einige Schrammen davongetragen, und auf ihrem Arm befanden sich Blutflecke, aber abgesehen davon schien es ihr nicht schlechter zu gehen als ihren Begleitern.

Als er vorsichtig ihren Kopf anhob, um einen genaueren Blick auf eine Schramme zu werfen, öffnete Vereesa die Augen. »R-Rhon …«

»Ja, ich bin's. Bleibt ruhig. Ich glaube, Ihr seid am Kopf getroffen worden.«

»Erinnere … erinnere mich an …« Die Waldläuferin schloss für einen Moment die Augen – setzte sich dann plötzlich auf. Ihre Augen waren schreckgeweitet, ihr Mund aufgerissen. »Ähh Decke! Die Decke! Sie fällt auf uns herab!«

»Nein!« Er hielt sie fest. »Nein, Vereesa, wir sind in Sicherheit. Wir sind sicher …«

»Aber die Höhlendecke …« Das Gesicht der Elfe entspannte sich. »Nein, wir sind nicht mehr in der Höhle … aber wo sind wir, Rhonin? Wie sind wir hierher gekommen? Und wie haben wir eigentlich überlebt?«

»Erinnert Ihr Euch an den Schild, der uns vor dem Golem beschützte? Nachdem sich das Monster selbst vernichtete, hielt der Schild weiterhin, sogar als die Decke über uns zusammenbrach. Seine Reichweite sank, aber es reichte, um uns davor zu bewahren, zerquetscht zu werden.«

»Falstad! Ist er …?«

Der Zwerg tauchte auf ihrer anderen Seite auf. »Wir sind alle gerettet, meine Elfendame. Gerettet sind wir, aber leider mitten im Nirgendwo gelandet.«

Rhonin blinzelte. Mitten im Nirgendwo? Er sah sich um. Der schneebedeckte Gipfel, der kalte Wind – der mit jedem Augenblick kälter wurde – und die dichte Wolkendecke über ihnen … Der Zauberer wusste genau, wo sie waren, trotz der Dunkelheit um sie herum. »Nicht nirgendwo, Falstad, ich glaube, wir sind auf dem Gipfel des Berges. Die Orks und alles andere müssen weit unter uns sein.«

»Der Gipfel des Berges?«, wiederholte Vereesa.

»Aye, das ergibt Sinn.«

»Und da ich euch beide immer besser sehen kann, schätze ich, dass der Morgen bereits dämmert.« Rhonins Stimmung sank. »Was bedeutet, wenn Nekros Skullcrusher ein Ork ist, der zu seinem Wort steht, werden sie die Festung mitsamt der Eier in Kürze verlassen.«

Vereesa und der Zwerg sahen ihn an. »Wieso sollten sie etwas so Dummes tun?«, fragte Falstad. »Wieso sollten sie einen so sicheren Ort verlassen?«

»Wegen einer bevorstehenden Invasion aus dem Westen.

Zauberer und Zwerge, die wie der Wind reiten, listige Greife. Hunderte, vielleicht Tausende von Zwergen und Zauberern, vielleicht sogar ein paar Elfen. Deswegen und vor allem wegen der Magie, hätten Nekros und seine Männer keine Chance sich gegen sie aus dem Berg heraus zu verteidigen …« Der Magier schüttelte den Kopf. Die Lage wäre vielleicht anders gewesen, wenn der Kommandant das wahre Potential des Artefakts, das er bei sich trug, begriffen hätte, aber anscheinend tat Nekros das nicht oder die Loyalität zu seinem Herrn war stärker. Der Ork hatte entschieden nach Norden zu gehen, also ging er nach Norden.

Falstad konnte es immer noch nicht glauben. »Eine Invasion? Wie kommt selbst ein Ork auf eine so hirnverbrannte Idee?«

»Wegen uns. Wegen unserer Anwesenheit. Vor allem wegen mir. Deathwing wollte, dass ich hierher komme, um als Beweis eines bevorstehenden Angriffs zu dienen. Dieser Nekros ist irrsinnig. Er glaubte bereits, dass ein Angriff droht, und als ich mitten unter den Orks auftauchte, fühlte er sich bestätigt.« Rhonin betrachtete seinen gebrochenen Finger, der sich mittlerweile taub anfühlte. Er würde sich damit beschäftigen, sobald er es konnte, doch im Moment gab es Wichtigeres als einen einzelnen Finger.

»Aber warum will der schwarze Drache, dass die Orks die Festung verlassen?«, fragte die Waldläuferin. »Was gewinnt er damit?«

»Ich glaube, ich weiß es …« Rhonin stand auf, ging zum Rand des Gipfels und sah nach unten. Er stemmte sich gegen den Wind, damit er nicht in den Abgrund geweht wurde. Er konnte unter sich nichts erkennen, glaubte jedoch Lärm zu hören … vielleicht eine Wagenkolonne, die nach draußen zog? »Ich denke, dass er die rote Drachenkönigin nicht etwa befreien will – wie er mir erzählt hat –, sondern töten! Das war zu riskant, als sie sich im Inneren befand, aber draußen kann er auf sie herabstoßen und sie mit einem einzigen Schlag vernichten.«

»Seid Ihr sicher?«, fragte die Elfe, als sie neben ihn trat.

»Es muss so sein.« Er sah auf. Selbst die feste Wolkendecke konnte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der Morgen rasch näher rückte. »Nekros wollte im Morgengrauen aufbrechen …«

»Ist er völlig verblödet?«, murmelte Falstad. »Würde es nicht mehr Sinn machen, wenn der verdammte Ork im Schutz der Nacht losgezogen wäre?«

Rhonin schüttelte den Kopf. »Deathwing kann bei Nacht recht gut sehen, vielleicht sogar besser als wir. Nekros erwähnte während seines Verhörs, dass er sogar auf Deathwing vorbereitet sei. Er schien der Ankunft des dunklen Herrschers sogar entgegenzufiebern

»Aber das ergibt doch gar keinen Sinn!«, sagte die Waldläuferin. »Wie sollte ein einzelner Ork ihn besiegen?«

»Wie konnte er die Drachenkönigin unter Kontrolle halten, und woher nahm er eine Kreatur wie den Golem?« Die Frage verstörte ihn mehr als er zu erkennen gab. Der Gegenstand, den der Ork bei sich trug, hatte gewiss erstaunliche Fähigkeiten, aber war er so mächtig?

Falstad befahl mit einem Wink zu schweigen und zeigte dann nach Nordwesten, weit hinter die Berge.

Ein riesiger dunkler Schatten brach einen Moment später durch die hohen Wolken und verschwand wieder, als er tiefer sank.

»Es ist Deathwing …«, flüsterte der Greifenreiter.

Rhonin nickte. Die Zeit der Spekulationen war vorbei. Dass Deathwing gekommen war, konnte nur eines bedeuten. »Was immer auch geschehen mag, es geschieht jetzt


Die lange Ork-Karawane zog los, als das erste Licht der Morgendämmerung Grim Batol erreichte. Die Wagen wurden am Anfang des Zuges und an seinem Ende von bewaffneten Kriegern begleitet, die frisch geschliffene Äxte, Schwerter und Lanzen trugen. Eskorten ritten neben den Peon-Fahrern, vor allem neben den Wagen mit den wertvollen Dracheneiern. Jeder Ork sah aus, als müsse er jeden Moment dem Feind entgegenstürmen, denn selbst der niedrigste Krieger kannte die Gerüchte über die bevorstehende Invasion.

Nekros Skullcrusher saß auf einem der wenigen Pferde, die den Orks zur Verfügung standen, und beobachtete die Abreise voller Ungeduld. Er hatte die Drachenreiter und ihre Tiere nach Dun Algaz vorausgeschickt, damit selbst im Fall seines Scheiterns noch ein paar Drachen der Horde zur Verfügung stehen würden. Er hatte es nicht gewagt die Geflügelten zum Transport der Eier zu benutzen, denn ein früherer, fehlgeschlagener Versuch hatte den Kommandanten davon überzeugt, dass es sinnlos und zu riskant war.

Es wäre unmöglich gewesen, einen Wagen zu konstruieren, der einen Drachen transportieren konnte, und so war Nekros die Aufgabe zugefallen, die beiden gefährlichsten Wesen unter Kontrolle zu halten. Beide, Alexstrasza und – überraschend – Tyran folgten am Ende der Kolonne, sich stets der Macht bewusst, die das Dämonensiegel auf sie ausübte. Für den kranken Gefährten der Drachenkönigin musste die Lage sehr schwierig sein, und Nekros bezweifelte, dass er die Reise überleben würde. Trotzdem wusste der Ork, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war.

Die beiden großen Leviathane boten immer noch einen beeindruckenden Anblick. Das Weibchen noch mehr als das Männchen, da es bei besserer Gesundheit war. Nekros bemerkte, wie Alexstrasza ihn anstarrte und der Hass in ihren Augen leuchtete. Das interessierte den Ork nicht. Sie würde ihm gehorchen, so lange er das Artefakt trug, mit dem er jeden Drachen zu beherrschen vermochte.

Der Gedanke an Drachen ließ ihn zum Himmel blicken. In den wolkenverhangenen Lüften fand ein Leviathan viele Orte, an denen er sich verbergen konnte, aber irgendwann musste etwas geschehen. Selbst wenn die Streitkräfte der Allianz noch weit weg waren, Deathwing würde kommen. Nekros verließ sich darauf.

Die Menschen würden erfahren, wie dumm es war, sich auf den Sieg des dunklen Herrschers zu verlassen. Was einen Drachen beherrschte, konnte sicherlich auch weitere beherrschen. Mit der Dämonenseele würde der Ork-Kommandant die Kontrolle über die grausamste aller Bestien erlangen. Er, Nekros, würde Deathwings Herr werden … aber nur, wenn das verdammte Reptil in absehbarer Zeit auftauchte.

»Wo bist du, verteufelte Kreatur?«, murmelte er. »Wo?«

Die letzte Reihe von Kriegern verließ den Höhleneingang. Nekros sah ihnen zu, als sie vorbei schritten. Sie waren stolz und wild und erinnerten ihn an die Tage, als die Horde keine Niederlage gekannt hatte und keinen Gegner, der nicht hatte besiegt werden können. Sobald Deathwing unter seinem Willen stand, würde Nekros seinem Volk diesen Ruhm zurückbringen. Die Horde würde erneut aufsteigen, selbst die Clans, die aufgegeben hatten. Die Orks würden über die Territorien der Allianz herfallen und die Menschen und alle anderen erschlagen.

Und vielleicht würde es dann auch einen neuen Ober-Häuptling der Horde geben. Zum ersten Mal wagte es Nekros, sich selbst in dieser Rolle vorzustellen; im Geiste sah er Zuluhed, wie er sich vor ihm verneigte. Ja, wer immer seinem Volk den Sieg schenkte, der würde mit Bestimmtheit zum neuen Herrscher gekrönt werden.

Kriegshäuptling Nekros Skullcrusher …

Er trieb sein Pferd voran und schloss sich der Kolonne an. Er würde Misstrauen säen, wenn er nicht mit ihnen ritt. Außerdem war es nicht wichtig, wo er sich aufhielt. Die Dämonenseele verlieh ihm auch über Entfernungen hinweg die Kontrolle. Kein Drache konnte ohne seine Zustimmung die Freiheit erlangen – und der alte Ork hatte nicht vor, diese Zustimmung zu geben.

Wo blieb die verdammte schwarze Bestie?

Wie zur Antwort hob ein entsetzliches Brüllen an. Es kam jedoch nicht aus dem Himmel, wie Nekros anfangs glaubte, sondern aus dem Boden, auf dem sich die Orks bewegten. Das führte unter den Kriegern zu Verwirrung, während sie sich umdrehten und nach einem Feind Ausschau hielten.

Einen Atemzug später spie die Erde Zwerge aus.

Sie schienen überall zu sein. Es waren mehr Zwerge, als Nekros in ganz Khaz Modan vermutet hätte. Sie brachen aus dem Untergrund hervor, axt- und schwertschwingend und griffen die Kolonne von allen Seiten zugleich an.

Die Orks überwanden ihre ursprüngliche Verblüffung schnell. Sie stießen ihren eigenen Kriegsschrei aus und warfen sich den Angreifern entgegen. Die Wächter blieben bei den Wagen, wappneten sich jedoch, und selbst die Peons, die in allen Dingen ungeschickt waren, zogen Keulen hervor. Für einen Ork erforderte es keine großartige Ausbildung, etwas mit einem Stück Holz zu erschlagen.

Nekros trat nach einem Zwerg, der ihn herabziehen wollte. Einer der Untergebenen des Kommandanten griff sofort ein und begann einen heftigen Kampf mit dem Angreifer. Nekros brachte sein Pferd näher an die Wagen heran und benötigte einen Moment, um sich der Situation anzupassen. Anstelle einer Invasion wurde er von Abschaum angegriffen, denn die Zwerge sahen aus wie die zerlumpten Gestalten, die schon immer in den Stollen der Berge gelebt hatten. Wenn man ihre Anzahl bedachte, hatten die Trolle keine gute Arbeit geleistet.

Aber wo war Deathwing? Nekros hatte sich auf den Drachen vorbereitet. Es musste einen Drachen geben!

Donnerndes Gebrüll erschütterte die Kämpfer. Eine riesige Gestalt schoss halb unsichtbar durch die dunklen Wolken, befreite sich davon und raste den Orks entgegen.

»Endlich! Endlich bist du gekommen, du schwarze …!« Nekros Skullcrusher erstarrte in vollkommener Überraschung. Er hielt die Dämonenseele umklammert, dachte jedoch in diesem Moment nicht daran, sie einzusetzen.

Der Drache, der ihnen entgegenschoss, hatte nicht die Farbe der Dunkelheit, sondern die des Feuers.


»Wir müssen nach unten gelangen«, murmelte Rhonin. »Ich muss wissen, was geschieht.«

»Kannst du nicht deinen Spruch aus der Höhle wiederholen?«, fragte Falstad.

»Wenn ich das tue, habe ich keine Kraft mehr, um uns nach der Landung eine Hilfe zu sein … Außerdem weiß ich nicht, wo ich uns absetzen sollte. Würdest du gerne genau vor einem axtschwingenden Ork landen?«

Vereesa blickte in die Tiefe. »Es sieht auch nicht so aus, als könnten wir hinunter klettern.«

»Nun, wir können nicht für immer hier oben bleiben!« Der Zwerg ging auf und ab und sah dann so plötzlich auf, als sei er in etwas Unangenehmes getreten. »Hestras Flügel! Wieso bin ich so dumm? Er könnte noch hier sein!«

Rhonin sah den Zwerg an, als hätte dieser den Verstand verloren. »Wovon redest du? Wer soll noch hier sein?«

Anstelle einer Antwort griff Falstad in eine Tasche. »Die verdammten Trolle haben es sich anfangs geschnappt, aber Gimmel hat es zurückgegeben … ah, hier ist es!«

Er zog etwas hervor, das wie eine kleine Pfeife aussah. Rhonin und Vereesa sahen zu, als der Zwerg die Pfeife an die Lippen hielt und so kräftig er konnte hineinblies.

»Ich höre nichts«, bemerkte der Zauberer.

»Es hätte mich auch gewundert, wenn du etwas gehört hättest. Warte ab. Er ist gut ausgebildet. Das beste Tier, das ich je hatte. Als wir von den Trollen verschleppt wurden, waren wir nicht weit von hier entfernt. Er hat sicherlich eine Weile gewartet …« Falstad wirkte leicht verunsichert. »Es ist noch nicht viel Zeit seit unserer Trennung vergangen …«

»Wollt Ihr Euren Greif herbei befehlen?«, fragte die Waldläuferin mit deutlicher Skepsis.

»Besser, als wenn wir darauf warten, dass uns Flügel wachsen, oder?«

Sie warteten; warteten für eine Zeitspanne, die Rhonin unendlich erschien. Trotz der Kälte spürte er, wie seine Stärke langsam zurückkehrte, aber er befürchtete immer noch, ihre Dreiergruppe an einen Ort zu versetzen, der ihren sofortigen Tod bedeutet hätte.

Trotzdem schien es so, als müsse er es versuchen. Der Zauberer richtete sich auf. »Ich tue, was ich kann. Ich erinnere mich an ein Gebiet, nicht weit vom Berg entfernt. Ich glaube, Deathwing zeigte es mir während der Vision. Vielleicht kann ich uns dorthin bringen.«

Vereesa ergriff seinen Arm. »Seid Ihr sicher? Ihr seht nicht aus, als wäret Ihr bereit.« Ihre Augen waren voller Sorge. »Ich weiß, was Euch der Einsatz in der Kammer gekostet haben muss, Rhonin. Das war kein einfacher Spruch, den Ihr gewoben habt und mit dem ihr sogar Falstads und mein Leben erhalten konntet …«

Ihm gefiel der Dank, der aus ihren Worten sprach, aber ihnen blieb keine andere Wahl. »Wenn ich nicht …«

Eine große geflügelte Gestalt stieß plötzlich durch die Wolken. Rhonin und die Elfe zuckten zusammen, fürchteten einen Angriff Deathwings.

Nur Falstad, der alles beobachtete, verhielt sich nicht, als sei der Untergang nah. Er lachte und zeigte mit der Hand auf die herannahende Gestalt.

»Ich wusste, er würde mich hören. Seht doch, ich wusste es!«

Der Greif stieß einen Schrei aus, der, so hätte der Magier geschworen, voller Freude war. Das große Tier flog rasch auf sie zu – auf seinen Herrn, um genau zu sein. Es landete buchstäblich auf Falstad, und nur die schlagenden Flügel verhinderten, dass das volle Gewicht des Greifen den Zwerg zerquetschte.

»Ha! Guter Junge, guter Junge! Aus jetzt!«

Mit wedelndem Schwanz, der mehr an einen Hund als an eine teilweise Raubkatze erinnerte, kam der Greif schließlich vor Falstad zum Stehen.

»Nun?«, fragte der kleine Krieger seine Begleiter. »Ist es nicht Zeit, von hier Abschied zu nehmen?«

Sie stiegen so rasch auf, wie sie konnten. Rhonin, der immer noch am geschwächtesten war, saß zwischen dem Zwerg und Vereesa. Zunächst bezweifelte er, dass der Greif sie alle tragen konnte, aber dem Tier gelang dies mühelos. Auf einer längeren Reise, das gab Falstad freimütig zu, wäre es ein größeres Problem gewesen, aber auf einem so kurzen Flug kam der Greif mit der zusätzlichen Bürde zurecht.

Wenige Augenblicke später brachen sie durch die Wolkendecke und sahen etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatten.

Rhonin hatte geglaubt, die Kampfgeräusche kämen von den Hügelzwergen, die versuchten den Wagenzug der Orks zu stürmen, aber er hätte niemals damit gerechnet, einen anderen Drachen als Deathwing über der Schlacht kreisen zu sehen.

»Ein Roter!«, rief die Waldläuferin. »Ein älteres Männchen! Und keines, das im Berg aufgewachsen ist!«

Das fiel ihm ebenfalls auf. Die Orks hielten die Königin noch nicht so lange gefangen, dass ein solch riesiger Leviathan hätte entstehen können. Außerdem hatte sich die Horde angewöhnt, die Drachen zu töten, bevor sie zu groß und unabhängig wurden. Nur die Jungen konnten von ihren Reitern sicher kontrolliert werden.

Woher also stammte dieser rote Leviathan, und was wollte er hier?

»Wo sollen wir landen?«, rief Falstad und erinnerte ihn an ihre momentane Lage.

Rhonin warf einen Blick auf das Gelände hinab. Die Schlacht schien sich auf die Kolonne zu konzentrieren. Er bemerkte Nekros Skullcrusher, der auf einem Pferd saß und etwas in der Hand hielt, das trotz des wolkenverhangenen Himmels hell strahlte. Der Zauberer vergaß Falstads Frage, als er versuchte den Gegenstand zu erkennen. Nekros schien ihn auf den unbekannten Drachen zu richten.

»Und?«, drängte der Zwerg.

Rhonin riss seinen Blick von dem Ork los und konzentrierte sich. »Da!« Er zeigte auf einen Hügel, der ein Stück weit vom Ende der Ork-Kolonne entfernt lag. »Ich glaube, dort wäre es am besten.«

»Sieht aus wie jeder andere Platz.«

Das Tier brachte sie dank des Könnens seines Reiters rasch zu ihrem Ziel. Rhonin glitt sofort vom Rücken des Greifen und lief zum Rand der Erhebung, um die Lage zu sondieren.

Was er sah, ergab nicht den geringsten Sinn.

Der Drache, der eben noch Nekros anzugreifen schien, flatterte jetzt mühsam in der Luft und brüllte, als sei er in einen erbarmungslosen Kampf mit einem unsichtbaren Feind verstrickt. Der Zauberer fasste erneut den Ork-Kommandanten ins Auge und bemerkte, wie der glitzernde Gegenstand in dessen Hand mit jeder vergehenden Sekunde heller zu leuchten schien.

Es war eine Art Artefakt, und seine Macht war so groß, dass jetzt selbst er die Aura wahrnahm, die von ihm ausging. Rhonins Blick wechselte von dem Gegenstand zu dem roten Riesen.

Wie kontrollieren die Orks die Drachenkönigin? Das war die Frage, die er sich in der Vergangenheit mehr als einmal gestellt hatte – und jetzt erkannte Rhonin die Antwort, weil er es mit eigenen Augen sah, worüber Nekros gebot.

Der rote Drache kämpfte dagegen an, kämpfte härter als je ein Wesen gekämpft hatte – zumindest konnte Rhonin sich keinen härteren vorstellen. Die Dreiergruppe hörte das schmerzerfüllte Brüllen und wusste, dass nur wenige Wesen so hatten leiden müssen.

Und dann, mit einem letzten heiseren Aufschrei, sackte der Leviathan in sich zusammen. Für einen Moment schien er zu schweben, dann stürzte er in einiger Entfernung von der Schlacht dem Boden entgegen.

»Ist er tot?«, fragte Vereesa.

»Ich weiß es nicht.« Wenn das Artefakt den Drachen noch nicht getötet hatte, so drohte der tiefe Sturz das begonnene Werk zu vollenden. Rhonin wandte sich von dem Anblick ab, wollte ein so mutiges Wesen nicht elend verenden sehen …

… und bemerkte plötzlich eine andere, ebenfalls riesige Gestalt, die aus den Wolken hervorschoss. Sie war schwarz wie ein Albtraum.

»Deathwing!«, warnte Rhonin die anderen.

Der dunkle Drache flog auf die Kolonne zu, aber weder Nekros noch den beiden versklavten Drachen entgegen. Stattdessen suchte er sich ein anderes, unerwartetes Ziel: Die mit Eiern beladenen Wagen.

Der Ork-Anführer sah ihn erst spät. Nekros drehte sich um und hielt Deathwing das Artefakt entgegen. Gleichzeitig schrie er etwas.

Rhonin und die anderen erwarteten, auch den schwarzen Herrscher unter der Macht des Talisman fallen zu sehen, aber Deathwing zeigte sich ungerührt. Er setzte seinen Sturzflug auf die Karren mit Eiern fort.

Der Zauberer traute seinen Augen nicht. »Es interessiert ihn nicht, ob Alexstrasza lebt oder stirbt. Er will ihre Eier!«

Mit überraschender Zärtlichkeit nahm Deathwing zwei der Wagen auf, während die darauf befindlichen Orks herabsprangen. Die Tiere, die die Wagen zogen, schrien, hilflos in ihrem Geschirr zappelnd. Der Drache wandte sich ab und flog davon.

Deathwing wollte die Eier nicht zerstören, aber warum? Welchen Zweck erfüllten sie für den einzelnen Drachen?

Dann wurde Rhonin klar, dass er gerade seine eigene Frage beantwortet hatte. Deathwing wollte die Eier für sich selbst. Die Drachen, die schlüpften, würden zwar rot sein, aber unter der Erziehung des dunklen Herrschers würden sie so bösartig werden wie er selbst!

Vielleicht begriff auch Nekros dies, oder vielleicht reagierte er auch nur auf den Diebstahl, als er sich umdrehte und etwas in Richtung Kolonnen-Ende brüllte. Er hielt das Artefakt immer noch hoch, doch jetzt zeigte er mit der anderen Hand auf den davonjagenden Giganten.

Einer der beiden Leviathane, der männliche, spreizte seine Schwingen und erhob sich, um die Verfolgung aufzunehmen. Rhonin hatte noch nie einen Drachen gesehen, der so todgeweiht und krank aussah. Es überraschte ihn, dass das Wesen überhaupt noch so hoch fliegen konnte. Nekros glaubte doch hoffentlich nicht, dass dieser Drache eine Chance gegen den jüngeren und viel kräftigeren Deathwing hatte?

Die Orks kämpften immer noch gegen die Zwerge, aber letztere wirkten jetzt verzweifelt und enttäuscht. Es schien, als hätten sie ihre ganze Hoffnung auf den ersten roten Drachen gesetzt. Sollte das zutreffen, verstand Rhonin, weshalb sie die Hoffnung fahren ließen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Vereesa hinter ihm. »Wieso hilft Krasus ihnen nicht? Der Zauberer sollte hier sein! Schließlich steckt er doch sicherlich hinter dem längst überfälligen Angriff der Hügelzwerge.«

»Krasus!« Bei all der Aufregung hatte Rhonin seinen Mentor völlig vergessen gehabt. Er hatte einige Fragen, die er dem gesichtslosen Zauberer gern gestellt hätte. »Was hat er damit zu tun?«

Sie erzählte es ihm. Rhonin lauschte zuerst ungläubig, dann mit wachsender Verärgerung. Wie bereits vermutet, war er von dem vermeintlichen Freund nur benutzt worden. Allerdings nicht nur er, sondern auch Vereesa, Falstad und die verzweifelten Zwerge unter ihnen.

»Nach dem Kampf gegen den Drachen brachte er uns in den Berg«, schloss sie. »Kurz danach hörte er auf, zu mir zu sprechen.« Die Elfe entfernte das Medaillon und zeigte es ihm.

Es sah dem, das Rhonin von Deathwing erhalten hatte, erstaunlich ähnlich. Sogar die Muster stimmten überein. Der Magier erinnerte sich daran, dass er es bemerkt hatte, als die Elfe und Falstad bemüht gewesen waren, ihn vor den Orks zu retten. Hatte Krasus von den Drachen erfahren, wie man so etwas herstellte?

Zu irgendeinem Zeitpunkt hatte sich der Stein verschoben. Rhonin schob ihn mit einem Finger zurück an seinen Platz und betrachtete das Juwel. Er stellte sich vor, sein Mentor könne ihn hören. »Nun, Krasus, bist du da? Können wir noch etwas für dich tun? Sterben, vielleicht?«

Es war sinnlos. Welche Macht sich auch immer darin befunden hatte, sie schien verloschen zu sein. Natürlich hätte Krasus sich auch nicht die Mühe gemacht zu antworten, wenn das noch möglich gewesen wäre. Rhonin hob das Artefakt an, wollte es den Hügel hinabschleudern.

Eine leise Stimme in seinem Kopf fragte: Rhonin?

Der Zauberer zögerte, völlig überrascht, überhaupt eine Antwort zu erhalten.

Rhonin … gut … gut … Dann gibt es … vielleicht noch … Hoffnung.

Seine Begleiter beobachteten ihn, ohne genau zu verstehen, was er tat. Rhonin sagte nichts. Er versuchte nachzudenken. Krasus klang krank, fast schon sterbend.

»Krasus, bist du …?«

Hör zu! Ich muss Kraft … sparen. Ich sehe … ich sehe dich … Du kannst vielleicht noch etwas retten …

Trotz seines Misstrauens fragte Rhonin: »Was willst du?«

Zuerst … zuerst muss ich dich zu mir holen.

Das Medaillon leuchtete auf und hüllte den Magier in seinem Licht ein.

Vereesa griff nach ihm. »Rhonin!«

Ihre Hand glitt durch seinen Arm hindurch. Entsetzt sah er zu, wie zuerst sie und Falstad, dann der gesamte Hügel verschwanden.

Augenblicklich entstand eine andere, felszerklüftete Landschaft um ihn herum, ein kahler Ort, der zu viele Schlachten gesehen hatte und nun aus der Ferne Zeuge einer weiteren wurde. Krasus hatte ihn an die westliche Seite der Berge getragen, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem die Orks gegen die Zwerge kämpften. Es war ihm nicht klar gewesen, dass Krasus so nahe war.

Rhonin dachte an seinen hinterlistigen Mentor und drehte sich um. »Krasus! Sei verflucht und zeige …«

Er starrte in das Auge eines gefallenen Giganten, des gleichen roten Drachen, der erst vor Minuten vom Himmel herabgestürzt war. Der Drache lag auf der Seite. Ein Flügel ragte nach oben, sein Kopf ruhte am Boden.

»Ich … entschuldige mich in aller Form bei dir, Rhonin«, murmelte der Drache mühsam. »Für all das Leid, das ich dir und den anderen zugefügt habe …«

Es war so einfach. So erstaunlich einfach.


Als Deathwing wendete, um die nächsten Eier zu holen, fragte er sich, ob er die Schwierigkeiten seines Plans vielleicht überschätzt hatte. Er hatte angenommen, dass es riskanter werden würde, den Berg in seiner eigenen Gestalt oder in einer Maske zu betreten, vor allem, wenn Alexstrasza seine Anwesenheit wahrnahm. Natürlich wäre es kaum möglich gewesen, ihn zu verletzen, aber die Eier, die er benötigte, hätten zerstört werden können. Davor hatte er sich gefürchtet, vor allem, wenn eines der Eier ein Weibchen enthielt. Er hatte vor langer Zeit begriffen, dass er Alexstrasza nie unter seine Kontrolle bringen würde, daher benötigte Deathwing alle Eier, die er in seine Klauen bekommen konnte, um seine Chancen zu verbessern. Gerade deshalb hatte er so lange gezögert. Nun schien es jedoch, als habe er wartend Zeit verschwendet, dass ihm schon damals nichts wirklich im Weg gestanden hätte, so wie ihm jetzt nichts im Weg stand.

Er korrigierte sich: Nichts außer einem kranken, taumelnden, viel zu alten Drachen, der seinem Untergang entgegenflog.

»Tyran …« Deathwing wollte dem anderen keinen Respekt zollen, indem er ihn mit vollem Namen ansprach. »Bist du noch nicht tot?«

»Gib die Eier zurück!«, keuchte der rote Drache.

»Damit sie bei den Orks wie Hunde aufwachsen? Bei mir werden sie zu den Herren der Welt! Drachengeschwader werden erneut über Himmel und Erde herrschen!«

Sein kranker Gegner schnaufte. »Und wo ist dein Geschwader, Deathwing? Ah, mein Schmerz macht mich vergesslich. Sie alle starben für deinen Ruhm!«

Der schwarze Drache fauchte und spreizte seine Schwingen. »Komm her, Tyran! Ich schicke dich gerne auf den Weg ins Nichts!«

»Der Befehl des Orks ist mir egal. Ich hätte dich ohnehin bis zu meinem letzten Atemzug gejagt!«, stieß Tyran hervor. Er schnappte nach der Kehle des Schwarzen und verfehlte sie nur knapp.

»Ich schicke dich deinen Herren in blutigen kleinen Stücken zurück, du alter Narr!«

Die beiden Drachen brüllten einander an. Tyrans Schrei war im Gegensatz zu Deathwings kaum zu hören.

Sie waren bereit zum Kampf.


Rhonin starrte ihn an. »Krasus?«

Der rote Drache hob den Kopf weit genug, um zu nicken. »Das ist der Name … den ich als … Mensch trage …«

»Krasus …« Aus Überraschung wurde Verbitterung. »Du hast mich und meine Freunde hintergangen. Du hast all das arrangiert und mich zu deiner Marionette gemacht.«

»Das werde ich ewig … bedauern …«

»Du bist nicht besser als Deathwing!«

Der Leviathan zuckte zusammen, nickte jedoch ein weiteres Mal. »Das habe ich verdient. Vielleicht ist dies der Pfad … der Pfad, den er vor so langer Zeit einschlug. Es ist so … so leicht, nicht zu bemerken, was man … anderen antut …«

Der entfernte Schlachtenlärm war selbst bis hierher zu hören und erinnerte Rhonin daran, dass es um wichtigere Angelegenheiten als seinen verletzten Stolz ging. »Vereesa und Falstad sind noch dort hinten – und diese Zwerge. Sie könnten alle wegen dir sterben. Warum hast du mich gerufen, Krasus?«

»Weil es immer … immer noch eine Möglichkeit gibt, als … Sieger aus diesem Chaos hervorzugehen … aus dem Chaos, bei dessen Entstehung ich geholfen habe …«

Der Drache versuchte sich aufzurichten, schaffte es jedoch nur, sich aufzusetzen. »Du und ich, Rhonin … es gibt noch eine Möglichkeit …«

Der Zauberer runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Seine einzige Sorge galt Vereesa, Falstad und den Hügelzwergen, die um ihr Überleben kämpften.

»Du … du lehnst mich nicht direkt ab … gut. Ich danke dir dafür.«

»Sag mir einfach nur, was du willst.«

»Der Ork-Kommandant besitzt ein Artefakt … die Dämonenseele. Es hat Macht über alle Drachen … außer über Deathwing.«

Rhonin erinnerte sich, dass Nekros es ohne sichtbares Resultat bei dem schwarzen Leviathan angewendet hatte. »Wieso nicht über Deathwing?«

»Weil er es erschaffen hat«, antwortete eine ruhige weibliche Stimme.

Der Magier fuhr herum. Er hörte einen überraschten Seufzer des Drachen.

Eine wunderschöne, beinahe überirdisch wirkende Frau, die in einen smaragdgrünen Stoff gehüllt war, stand hinter dem Zauberer. Ihre blassen Lippen lächelten. Rhonin bemerkte erst jetzt, dass ihre Augen geschlossen waren, sie aber trotzdem genau zu wissen schien, wo sich ihre Gegenüber befanden.

»Ysera«, flüsterte der rote Drache in ehrerbietigem Tonfall.

Sie beachtete ihn nicht sofort, sondern beantwortete zunächst Rhonins Frage. »Deathwing hat die Dämonenseele erschaffen, aus gutem Grund, wie wir damals glaubten.« Sie ging auf den Zauberer zu. »Wir glaubten so fest daran, dass wir alles taten, was er verlangte und dem Artefakt einen Teil unserer Macht überließen.«

»Aber er gab nichts von seiner Macht hinein, nichts von seiner Macht!«, sagte eine männliche Stimme – wütend und nicht bei klarem Verstand. »Sag's ihm, Ysera. Sag ihm, wie er sich nach dem Sieg über die Dämonen gegen uns stellte und unsere eigene Kraft gegen uns einsetzte!«

Auf einem großen Felsen kauerte eine skelettierte, nicht wirklich menschliche Gestalt mit wirrem blauem Haar und silberner Haut. Sie trug eine Robe mit hohem Kragen, die aus den gleichen Farben bestand und sah aus wie ein irrer Hofnarr. Die Augen des Wesens leuchteten. Dolchartige Finger schabten über den Stein, auf dem es saß und rissen tiefe Furchen.

»Er wird erfahren, was er erfahren muss, Malygos. Nicht mehr und nicht weniger.« Sie lächelte leicht. Je länger Rhonin sie betrachtete, desto mehr erinnerte sie ihn an Vereesa, aber an Vereesa, so wie er sie im Traum gesehen hatte. »Ja, Deathwing vergaß diesen Teil zu erwähnen und gab vor, das gleiche Opfer erbracht zu haben wie wir. Erst als er beschloss, die Zukunft unseres Volkes zu sein, entdeckten wir die schreckliche Wahrheit.«

In diesem Moment begriff Rhonin, dass Ysera und Malygos von dem schwarzen Drachen als einem der ihren sprachen. Er wandte sich dem roten Drachen zu und fragte lautlos das Wesen, das er als Krasus gekannt hatte, ob seine Vermutungen stimmten.

»Ja …«, antwortete der Drache. »Sie sind das, was du glaubst. Es sind zwei der fünf großen Drachen, die in den Legenden als die Aspekte der Welt bezeichnet werden.«

Der rote Riese schien Stärke aus ihrer Ankunft zu ziehen. »Ysera … sie ist die Herrin der Träume, Malygos … die personifizierte Magie …«

»Wir verschwenden hier unsere Zeit«, murmelte eine dritte, ebenfalls männliche Stimme. »Wertvolle Zeit …«

»Und Nozdormu, der Herr der Zeit, ist auch hier …«, wunderte sich der rote Drache. »Ihr seid alle gekommen.«

Eine verhüllte Gestalt, die aus Sand zu bestehen schien, stand neben Ysera. Unter der Kapuze erschien ein Gesicht, das so vertrocknet wirkte, dass die Haut kaum die Knochen bedeckte. Juwelenaugen starrten den Drachen und den Zauberer mit wachsender Ungeduld an. »Ja, wir sind gekommen. Und wenn dieses Treffen noch länger dauert, dann werde ich auch wieder gehen. Ich muss soviel sammeln, soviel katalogisieren.«

»Soviel quatschen, soviel quatschen«, stichelte Malygos von seinem felsigen Sitz aus.

Nozdormu hob eine verwitterte und dennoch starke Hand und zeigte auf den Narr. Der streckte ihm seine dolchartigen Krallen entgegen. Für einen Moment sah es so aus, als bereiteten sich beide auf einen körperlichen oder magischen Kampf vor, doch die geisterhafte Frau trat zwischen sie.

»Deshalb steht Deathwing kurz vor seinem Triumph«, sagte sie.

Die beiden wichen zögernd zurück. Ysera sah alle mit immer noch geschlossenen Augen an.

»Deathwing hätte uns einst beinahe besiegt, doch dann schlossen wir uns wieder zusammen und sorgten dafür, dass er die Dämonenseele nie wieder benutzen konnte. Wir entrissen sie seiner Hand und schleuderten sie in die Tiefen der Erde …«

»Aber jemand fand sie für ihn«, unterbrach der rote Drache. Jetzt, wo die Hoffnung zurückgekehrt war, riss er sich so weit es ging zusammen. »Ich glaube, dass er die Orks dorthin geführt hat, weil er wusste, was sie tun würden, wenn ihnen das Artefakt in die Hände fiel. Er kann es vielleicht nicht mehr selbst einsetzen, aber er kann sicherlich andere dazu bringen, es zu seinem Vorteil zu benutzen – auch wenn diese anderen das vielleicht nicht begreifen. Ich glaube, dass Alexstraszas Gefangennahme in seine Pläne passte, denn sie war die einzige Macht, die er fürchtete. Außerdem half er damit der Horde Chaos und Zerstörung über die Welt zu bringen, ohne dass er auch nur eine Klaue bewegen musste. Nun, da die Horde ihn enttäuscht hat, passt es besser in seine Pläne, wenn sie fortgebracht wird.«

»Nicht sie«, korrigierte Ysera, »ihre Eier.«

»Ihre Eier?«, stieß der ehemalige Krasus hervor. »Nicht meine Königin?«

»Ja, die Eier. Du weißt doch, dass die letzte seiner Gefährtinnen in den ersten Tagen des Kriegs getötet wurde«, antwortete sie. »Sie starb durch seinen eigenen Leichtsinn … und nun will er die Nachkommen unserer Schwester als seine eigenen aufziehen.«

»Um ein neues Zeitalter der Drachen einzuleiten«, zischte Nozdormu. »Das Zeitalter von Deathwings Drachenbrut!«

Plötzlich bemerkte Rhonin, dass die vier, sogar Ysera mit ihren geschlossenen Augen, ihn anstarrten.

»Wir können die Dämonenseele nicht berühren, Mensch, und aus Misstrauen haben wir nie einem anderen Wesen erlaubt, sie für uns zu benutzen. Ich glaube, ich weiß, weshalb der arme Korialstrasz dich von deinen Freunden weggerissen und hierher gebracht hat. Es erscheint ihm vielleicht als die beste Lösung, aber nicht er wird Deathwing ablenken.«

»Es ist meine Pflicht«, rief der Rote. »Es ist meine Buße.«

»Das wäre reine Verschwendung. Du lässt dich von der Scheibe zu leicht beeinflussen. Außerdem wirst du für etwas anderes benötigt. Tyran, der jetzt für seine Königin und seinen Wächter kämpft, wird nicht überleben. Alexstrasza wird dich dann benötigen, mein lieber Korial.«

»Außerdem ist Deathwing unser Bruder«, stichelte Malygos. Seine Klauen gruben sich tiefer in den Fels. »Es gehört sich für uns, mit ihm zu spielen. Mit ihm zu spielen.«

»Und was wollt ihr von mir?«, fragte Rhonin gespannt und auch ein wenig nervös. Er wollte schließlich nichts mehr, als zu Vereesa zurückzukehren.

Ysera sah ihn an – und ihre Augen öffneten sich. Für einen kurzen Moment wurde der Mensch von Schwindel ergriffen. Die traumartigen Augen, die ihn anstarrten, erinnerten ihn an jeden, den er je gekannt, geliebt oder gehasst hatte. »Du, Sterblicher, musst dem Ork die Dämonenseele entreißen. Ohne sie kann er uns nicht das antun, was er unserer Schwester angetan hat. Wenn dir die Scheibe gehört, kannst du sie vielleicht befreien.«

»Aber das hilft uns nicht gegen Deathwing«, beharrte Korialstrasz. »Und wegen der verfluchten Scheibe ist er stärker als ihr alle zusammen.«

»Eine Tatsache, die uns bekannt ist«, fauchte Nozdormu. »Und auch du wusstest das, als du zu uns kamst. Jetzt hast du uns. Sei damit zufrieden.« Er sah seine Begleiter an. »Genug geredet. Lasst uns beginnen.«

Ysera, die ihre Augen wieder geschlossen hatte, wandte sich an den Drachen. »Es gibt etwas, das du tun musst, Korialstrasz, aber es ist riskant. Dieser Mensch kann nicht einfach inmitten der Orks auftauchen. Durch die Dämonenseele ist das zu riskant, und es bestünde die Gefahr, dass er sich unter einer Axt wiederfinden würde. Stattdessen musst du ihn dorthin tragen und beten, dass in den wenigen Sekunden, in denen du dem Ork nahe bist, dieser dich nicht mit der Scheibe unter seine Kontrolle bringt.« Sie ging zu dem gefallenen Drachen und berührte die Spitze seiner Schnauze. »Du gehörst nicht zu uns, auch wenn du ihr Begleiter bist, Korialstrasz. Trotzdem hast du der Macht der Scheibe widerstanden und bist geflohen.«

»Ich habe hart gearbeitet, um mich darauf vorzubereiten, Ysera. Ich dachte, meine Schutzzauber seien stark genug, doch letzten Endes habe ich versagt.«

»Wir können das für sich tun.« Plötzlich standen Malygos und Nozdormu neben ihr. Alle drei berührten mit ihrer linken Hand Korialstraszs Schnauze. »Die Dämonenseele hat uns so viel Macht genommen, dass ein wenig mehr Verlust nicht schaden wird.«

Strahlenkränze entstanden um die erhobenen Hände der drei und leuchteten in den Farben der Beteiligten. Die drei Kränze verbanden sich und erstreckten sich von den Aspekten bis zu der Schnauze des Drachen und darüber hinaus. Sekunden später war Korialstraszs gesamter Körper eingehüllt in eine magische Aureole.

Ysera und die anderen wichen zurück. Der rote Drache blinzelte und erhob sich. »Ich fühle mich wie neu geboren.«

»Du wirst diese Stärke brauchen«, bemerkte Ysera. Zu ihren beiden Begleitern sagte sie: »Wir müssen uns um unseren fehlgeleiteten Bruder kümmern.«

»Das wird auch Zeit!«, fauchte Nozdormu.

Ohne ein weiteres Wort an Rhonin oder den roten Drachen wandten sie sich ab und der weit entfernten Gestalt Deathwings zu. Während sie ihre Arme spreizten, die sich zu immer größer werdenden Flügeln ausbreiteten, gewannen ihre Körper insgesamt an Volumen. Die Gewänder fielen und wurden durch Schuppen ersetzt. Ihre eben noch menschlichen Gesichter wurden härter, länger und wurden ersetzt von den majestätischen Zügen der Drachen.

Die drei erhoben sich in die Lüfte, ein Anblick, so beeindruckend, dass der Zauberer ihn nur stumm auf sich wirken lassen konnte.

»Ich hoffe, dass ihre Macht ausreicht«, murmelte Korialstrasz. »Aber ich befürchte, das wird sie nicht.« Er sah zu der kleinen Gestalt neben sich. »Was meinst du, Rhonin? Wirst du tun, was sie verlangen?«

Schon allein um Vereesas willen hätte er sich dafür entschieden. »Das werde ich.«


Tyran hatte schnell die Kraft zum Kämpfen verloren, und sein Leben verlor er kurz darauf. Deathwing brüllte triumphierend, als er seine Krallen in die leblose Gestalt des anderen Drachen schlug. Blut floss immer noch aus tiefen Wunden, die er größtenteils in die Brust des Roten gerissen hatte, und Tyrans Klauen waren verätzt von der starken Säure, die durch die Adern des Schwarzen floss. Jeder, der Deathwing berührte, musste leiden.

Der dunkle Herrscher brüllte erneut und ließ die leblose Gestalt fallen. Eigentlich hatte er dem kranken Drachen einen Gefallen erwiesen, denn er hätte sicherlich stärker gelitten, wenn er langsam an seiner Krankheit verendet wäre. Zumindest hatte Deathwing ihm den Tod eines Kriegers geschenkt, auch wenn der Kampf nur kurz gewesen war.

Trotzdem brüllte er ein drittes Mal, um alle von seinem Triumph wissen zu lassen.

Von Westen her wurde brüllend geantwortet.

»Welcher Narr wagt es …?«, zischte er.

Nicht ein Narr, erkannte Deathwing gleich darauf, sondern drei. Und nicht irgendwelche drei.

»Ysera«, grüßte er sie kalt. »Und Nozdormu und sogar mein guter Freund Malygos.«

»Die Zeit ist gekommen, um deinen Wahnsinn zu beenden, Bruder«, sagte der schlanke grüne Drache ruhig.

»Ich bin in keinster Weise dein Bruder, Ysera. Begreif das endlich und erkenne, dass mich nichts von der Erschaffung eines neuen Zeitalter für unsere Art abhalten wird.«

»Du planst nur ein Zeitalter für deine eigene Herrschaft, nichts anderes.«

Der Schwarze neigte den Kopf. »Für mich gibt es da keinen Unterschied. Wie ist es mit dir, Nozdormu? Hast du endlich den Kopf aus dem Sand gezogen? Weißt du nicht mehr, wer hier die größte Macht besitzt? Selbst zu dritt werde ich euch besiegen.«

»Deine Zeit ist abgelaufen«, stieß der glitzernde braune Drache hervor. Seine Augen leuchteten. »Komm her und nimm deinen Platz in meiner Sammlung vergangener Dinge ein.«

Deathwing schnaufte herablassend. »Und du, Malygos? Hast du deinem alten Kameraden nichts zu sagen?«

Als Antwort öffnete der kalt wirkende, silberblaue Drache das Maul. Eine eisige Welle schlug Deathwing entgegen und hüllte ihn mit tödlicher Genauigkeit ein. Als das Eis den Leviathan berührte, zerplatzte es und wurde zu Tausenden krebsartiger Wesen, die sich auf die Schuppen und das Fleisch ihres Opfers stürzten.

Deathwing fauchte, und aus seinen roten Adern lief Säure. Malygos' Kreaturen starben hundertfach, bis nur noch wenige übrig blieben.

Mit zwei Krallen griff der schwarze Drache nach einem dieser Wesen und verschluckte es. Er grinste seine Gegner an und bleckte tückische Reißzähne. »Wenn ihr es so möchtet …«

Mit donnergleichem Brüllen stürmte er ihnen entgegen.


»Sie werden ihn nicht besiegen«, murmelte Korialstrasz, als sie sich der belagerten Ork-Karawane näherten. »Das schaffen nicht einmal sie.«

»Und warum versuchen sie es dann?«

»Weil sie wissen, dass die Zeit gekommen ist, sich gegen ihn zu stellen, egal, wie es ausgeht. Sie würden eher diese Welt verlassen, als zuzusehen, wie sie unter Deathwings Schreckensherrschaft ihr Antlitz wandelt.«

»Gibt es keine Möglichkeit, ihnen zu helfen?«

Das Schweigen des Drachen war Antwort genug.

Rhonin betrachtete die Orks vor sich und dachte an seine eigene Sterblichkeit. Selbst wenn es ihm gelang, Nekros das Artefakt zu entreißen, wie lange würde er es behalten können? Und würde es ihm überhaupt etwas nützen? Konnte er es verwenden?

»Kras … Korialstrasz, enthält die Scheibe die Macht der großen Drachen?«

»Nur nicht die von Deathwing, deshalb kann ihre Macht ihm nichts anhaben.«

»Aber er kann sie auch selbst nicht mehr wegen eines Zaubers der anderen Drachen einsetzen?«

»So scheint es«, wich der Drache aus.

»Weißt du, über welche Fähigkeiten die Scheibe verfügt?«

»Über viele, aber keine vermag direkten oder indirekten Einfluss auf den dunklen Herrscher auszuüben.«

Rhonin stutzte. »Aber wie ist das möglich?«

»Wie lange übst du dich bereits in der Kunst der Magie, mein Freund?«

Der Zauberer verzog das Gesicht. Von allen Künsten war die Magie die Widersprüchlichste. Sie wurde von ganz eigenen Gesetzen regiert, die sich im schlimmsten Fall sogar ändern konnten. »Ich verstehe.«

»Die großen Kräfte haben sich entschieden, Rhonin. Wenn es dir gelingen sollte, die Dämonenseele in deinen Besitz zu bringen, wirst du nicht nur meine Königin befreien, die ihnen zweifellos zu Hilfe kommen wird, sondern auch die Gelegenheit erhalten, die Überreste der Horde zu vernichten. Die Dämonenseele vermag das – wenn du sie richtig einsetzt.«

Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht gehabt, dabei lag es auf der Hand, dass ein solches Relikt eine wertvolle Waffe gegen die Orks darstellte. »Aber ich habe nicht genügend Zeit, ihre Handhabung zu erlernen.«

»Die Orks hatten keine Lehrer, die sie darin unterwiesen. Ich gehöre zwar nicht zu den fünf Aspekten, Rhonin, dennoch kann ich, denke ich, dich ausreichend in ihrem Gebrauch unterrichten.«

»Sollten wir beide überleben …«, flüsterte der Magier, nur für sich selbst.

»Womit du natürlich Recht hast.« Offenbar besaßen Drachen ein hervorragendes Gehör. »Und dort ist der Ork, den wir suchen … Mach dich bereit!«

Rhonin traf seine Vorbereitungen. Korialstrasz wagte es wegen der Dämonenseele nicht, Nekros zu nahe zu kommen, was bedeutete, dass der Magier trotz des Talismans Magie einsetzen musste, um den Ork-Kommandanten endgültig zu erreichen. Er hatte schon häufig in Schlachten Zauber gewoben, war aber dennoch nicht auf einen solchen Einsatz vorbereitet. Der Drache hätte versuchen können, seine eigene Magie einzusetzen, aber in der Nähe des Relikts wären seine Chancen noch geringer als die des Zauberers gewesen.

»Gleich …«

Korialstrasz ging tiefer.

»Jetzt!«

Rhonin stieß den Befehl keuchend hervor und schwebte plötzlich in der Luft, unmittelbar über einem der Wagen.

Ein Ork-Fahrer sah überrascht auf, als er des Zauberers gewahr wurde.

Rhonin ließ sich auf ihn fallen.

Der Ork dämpfte seinen Aufprall und die Wucht raubte dem Krieger das Bewusstsein. Rhonin stieß ihn von sich und begann die Umgebung nach Nekros abzusuchen.

Der einbeinige Kommandant saß auf seinem Pferd und blickte auf Korialstrasz. Dabei hob er die glitzernde Dämonenseele

»Nekros!«, schrie Rhonin.

Der Ork sah zu ihm herüber, genau so, wie der Zauberer es beabsichtigt hatte. Der Drache gelangte unbehelligt aus Nekros' Reichweite.

»Mensch! Zauberer! Du bist doch tot …« Die breiten Augenbrauen zogen sich zusammen, und Nekros' Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Nun gut, dann wirst du es eben es bald sein!«

Er zeigte richtete das Artefakt auf Rhonin.

Der Zauberer erschuf einen magischen Schild und hoffte, dass das, was Nekros vorhatte, ihm entgegenzuschleudern, nicht so entsetzlich sein würde wie die Flammen des Golems. Die Großen Drachen hatten ihm, anders als Korialstrasz, keine Kraft geschenkt – aber er hatte sich auch nicht am Rande des totalen Zusammenbruchs befunden. Außerdem hatten sie ihre entbehrlichen Kräfte für Deathwing benötigt. Rhonins Hoffnungen stützten sich in diesem Moment also ausschließlich auf seine eigenen, schwer einschätzbaren Fähigkeiten.

Eine riesige Flammenhand versuchte nach dem Magier zu greifen und ihn zu umschließen. Rhonins Zauber hielt jedoch stand, und die Hand, die von seinem fast unsichtbaren Schild abprallte, verschlang stattdessen einen Ork-Krieger, der gerade einen Zwerg enthaupten wollte. Der Ork schrie kurz auf, bevor er brennend zusammenbrach.

»Deine Tricks werden dich nicht lange vor dem Tod bewahren!«, knurrte Nekros.

Der Boden unter dem Wagen begann zu erbeben und einzubrechen. Rhonin stieß sich von dem entstehenden Loch weg, während Wagen und Zugtiere hinabgerissen wurden. Während der Schildzauber erlosch, fand der Magier hilflos strampelnd gerade noch Halt am Rand des Kraters.

Nekros lenkte sein Pferd näher zu ihm heran. »Was auch immer an diesem Tag noch geschehen mag, zumindest bin ich dich los, Mensch!«

Rhonin stieß einen schwachen Spruch hervor. Ein einzelner Dreckklumpen landete im Gesicht des Orks und widerstand allen Versuchen ihn zu entfernen. Nekros fluchte und kämpfte darum, wieder sehen zu können.

Der Zauberer stemmte sich über den Rand, bekam Boden unter die Füße und warf sich gegen den Ork.

Der Sprung war jedoch etwas zu kurz bemessen, und so bekam er zwar den Arm zu fassen, dessen Hand die Dämonenseele hielt, nicht aber das Relikt selbst. Obwohl Nekros immer noch nicht wieder zu sehen vermochte, packte er Rhonin am Kragen und versuchte seine Pranke um die Kehle des Magiers zu legen.

»Ich bring dich um, verdammter Abschaum!«

Riesige Finger krümmten sich um Rhonins Hals. Gleichzeitig versuchte der Zauberer nach dem Talisman zu greifen und sich selbst zu befreien, erreichte jedoch beides nicht. Nekros presste das Leben gnadenlos aus ihm heraus; der überragenden Körperkraft eines Orks hatte der Mensch nichts entgegenzusetzen. Rhonin setzte zu einem Spruch an …

… als eine geflügelte Gestalt an Nekros vorbeischoss. Etwas stieß gegen den Rücken des Orks und schleuderte ihn samt dem Zauberer vom Pferd zu Boden.

Sie schlugen hart auf. Die tödliche Hand löst sich von Rhonins Kehle, als sie beide in unterschiedliche Richtungen rollten.

Jemand griff nach den Schultern des Magiers.

»Steht auf, Rhonin, bevor er sich erholt!«

»Vereesa?« Er blickte in ihr Gesicht und war ebenso überrascht wie erfreut, sie wiederzusehen.

»Wir beobachteten, wie der Drache Euch fallen ließ und wie Ihr Euch mittels Magie in Sicherheit brachtet. Falstad und ich kamen so schnell wir konnten, weil wir dachten, dass Ihr vielleicht Hilfe gebrauchen könntet …«

»Falstad?«

Rhonin schaute zum Himmel, wo der Greifenreiter und sein Tier ihre Kreise zogen. Falstad hatte keine Waffe, brüllte jedoch, als wollte er jeden Ork im Umkreis herausfordern.

»Beeilt Euch!«, rief die Waldläuferin. »Wir müssen weg von hier!«

»Nein!« Zögernd blieb er zurück. »Nicht bevor … Passt auf!«

Er stieß sie zur Seite. Eine große Kriegsaxt, die sie sonst in zwei Hälften gespalten hätte, schlug ins Leere. Der kraftstrotzende Ork, dessen Gesicht von rituellen Narben übersät war, hob die Axt erneut und konzentrierte sich ganz auf Vereesa, die vor ihm lag.

Rhonin vollführte eine Geste, und der Axtgriff wurde plötzlich lang und wand sich wie eine Schlange. Der Ork versuchte dennoch, seine Waffe weiter festzuhalten, aber nun wandte sie sich gegen ihn. Da ließ der Krieger sie doch fallen und rannte voller Panik davon.

Der Zauberer streckte eine Hand nach Vereesa aus …

… und stürzte zu Boden, als ihn eine Faust in den Rücken traf.

»Wo ist sie?«, schrie Nekros Skullcrusher. »Wo ist die Dämonenseele

Rhonin war noch zu benommen, um zu begreifen. War nicht noch immer Nekros im Besitz des Talismans …?

Ein schweres Gewicht drückte auf seinen Rücken. Er hörte, wie Nekros sagte: »Bleib, wo du bist, Elfe. Wenn ich noch etwas stärker zudrücke, wird dein Freund hier wie eine überreife Frucht zerplatzen!« Rhonin spürte kaltes Metall an seiner Wange. »Auch du, Magier, keine faulen Tricks! Gib mir die Scheibe zurück, und ich schenke dir vielleicht dein Leben!«

Nekros ließ ihm gerade genug Bewegungsfreiheit, dass Rhonin den Ork aus den Augenwinkeln betrachten konnte. Das Holzbein des Kommandanten drückte gegen die Wirbelsäule des Zauberers. Rhonin zweifelte nicht daran, dass sie unter stärkerem Druck brechen würde. »Ich … ich habe sie nicht.« Das Gewicht von Nekros' massigem Körper behinderte das Atmen und das Sprechen. »Ich weiß noch nicht … einmal, wo sie ist.«

»Ich habe keine Zeit für deine Lügen, Mensch!« Nekros drückte etwas fester zu. Ein Hauch von Verzweiflung schwang in seiner immer noch arroganten Stimme mit. »Ich brauche sie!«

»Nekros …!«, unterbrach ihn eine donnernde, hasserfüllte Stimme. »Du hast meine Kinder ermordet. Meine Kinder!«

Rhonin fühlte die Bewegung des Orks, als dieser sich drehte. Nekros stieß die Luft aus. »Nein!«

Ein Schatten fiel über Rhonin und seinen Gegner. Ein heißer, fast schon sengender Wind glitt über den Magier hinweg. Er hörte Nekros Skullcrusher schreien …

… und plötzlich verschwand das Gewicht des Orks aus seinem Rücken.

Rhonin warf sich augenblicklich herum, war sicher, dass der Feind seines Feindes nun auch ihn töten würde. Aber Vereesa kam ihm zu Hilfe und zog ihn an sich. Erst jetzt begriff der Magier, was diesen riesigen Schatten hervorgerufen hatte und warum die Stimme, die er gehört hatte, ihm so bekannt vorgekommen war.

Trotz der Schuppen, die an einigen Stellen nur noch lose hingen und den ungeschickt gefalteten Flügeln bot die Drachenkönigin Alexstrasza einen beeindruckenden Anblick. Sie erhob sich über alle anderen, hielt den Kopf hoch in den Himmel gereckt und brüllte ihren Triumph hinaus. Von Nekros fand Rhonin keine Spur mehr. Entweder hatte die Königin ihn komplett verschlungen oder seinen Körper weit fortgeschleudert.

Alexstrasza brüllte erneut und neigte ihren Kopf dem Zauberer und der Elfe entgegen. Vereesa wirkte entschlossen, ihn und sich selbst zu verteidigen, aber Rhonin forderte sie mit einer Geste auf, die Klinge zu senken.

»Mensch, Elfe – ich bin euch zu Dank verpflichtet, dass ihr mir die Gelegenheit gegeben habt, meine Kinder zu rächen. Jetzt gibt es allerdings andere, die meine Hilfe benötigen, wie gering sie auch ausfallen mag.«

Sie blickte zum Himmel, wo vier Titanen kämpften. Rhonin folgte ihrem Blick und sah einen Moment lang zu, wie Ysera, Nozdormu und Malygos scheinbar erfolglos gegen Deathwing angingen. Die Drei attackierten immer wieder, aber Deathwing schlug sie mit Leichtigkeit zurück.

»Drei gegen einen – und sie können trotzdem nichts ausrichten?«

Alexstrasza, die bereits ihre Schwingen zum Abflug spreizte, hielt kurz inne, um zu antworten. »Wegen der Dämonenseele haben wir nur noch halb soviel Macht. Nur Deathwings Macht ist vollständig. Ich wünschte, wir könnten sie gegen ihn einsetzen oder die Macht, die darin wohnt, zurückerlangen, aber diese Möglichkeiten gibt es nicht. Wir können nur kämpfen und das Beste hoffen.« Gebrüll aus dem Himmel erschütterte die Erde. »Ich muss jetzt gehen. Vergebt mir, dass ich euch allein lasse und noch einmal … danke!«

Mit diesen Worten erhob sich die Drachenkönigin in die Lüfte. Beinahe zufällig wischte ihr zuckender Schwanz zwei angreifende Orks hinweg, ohne deren Zwergengegner auch nur zu berühren.

»Wir müssen doch etwas tun können!« Rhonin sah sich nach der Dämonenseele um. Irgendwo musste sie sein.

»Denkt nicht darüber nach.« Vereesa wich der Axt eines Orks aus und durchbohrte ihn mit ihrer Klinge. »Wir müssen uns selbst retten.«

Trotz der um ihn herum tobenden Schlacht setzte Rhonin seine Suche fort. Plötzlich fiel sein Blick auf einen glänzenden Gegenstand, der halb vom Arm eines toten Ork bedeckt wurde. Der Zauberer lief hoffend und zweifelnd zugleich darauf zu.

Es war tatsächlich das Artefakt der Drachen. Rhonin betrachtete es mit unverhohlener Begeisterung. Es war so schlicht und verfügte dennoch über Kräfte, die weit über die von Zauberern hinausgingen – abgesehen vielleicht vom berüchtigten Medivh. Soviel Macht. Damit hätte Nekros Kriegshäuptling der Horde werden können. Und Rhonin konnte sich mit seiner Hilfe zum Herrn über Dalaran aufschwingen, zum Imperator über alle Königreiche von Lordaeron …

Was dachte er da? Rhonin schüttelte den Kopf und vertrieb die unguten Gedanken. Die Dämonenseele konnte mit ihrer Macht verführen, darauf musste er achten.

Falstad kam auf seinem Greifen zu ihnen herunter. Irgendwo hatte er die Streitaxt eines Orks gefunden, die er offenbar auch schon eingesetzt hatte.

»Zauberer! Worauf wartest du? Rom und seine Männer schlagen die Orks vielleicht in die Flucht, aber das ist kein Grand hier herumzustehen und irgendwelche Scheiben anzustarren.«

Rhonin ignorierte ihn, wie er auch Vereesa ignorierte. Irgendwie musste der Schlüssel zu Deathwings Untergang in der Dämonenseele liegen. Es gab doch keine andere Macht mehr, die dazu imstande gewesen wäre, wenn selbst vier riesige Drachen mit ihren vereinten Kräften nicht in der Lage waren, etwas auszurichten!

Dies mochte aber auch bedeuten, dass vielleicht gar nichts mehr Deathwing vom Erreichen seiner Ziele abhalten konnte …

Sie schleuderten ihm ihre gesamte Macht entgegen – oder was davon noch übrig war. Sie griffen Deathwing auf körperlicher und magischer Ebene an, aber er schien dies kaum zu bemerken. Ganz gleich, wie hart sie gegen ihn vorgingen, es wurde immer deutlicher, dass ihre Kraft durch die weit zurückliegende Erschaffung der Dämonenseele so geschwunden war, dass sie dem schwarzen Leviathan hilflos wie Kleinkinder gegenüberstanden.

Nozdormu schleuderte ihm den Sand der Zeit entgegen, der zumindest für einen Moment drohte, Deathwings Jugend auszulöschen. Deathwing spürte, wie die Schwäche durch seinen Körper strich, fühlte, wie seine Knochen spröder und seine Gedanken langsamer wurden. Doch bevor die Veränderungen endgültig wurden, explodierte brutale Kraft in dem Drachen des Chaos, verbrannte den Sand und löschte den anspruchsvollen Zauberspruch aus.

Malygos wagte einen direkteren Angriff. Die Wut des wahnsinnigen Drachen machte ihn der Macht Deathwings beinahe ebenbürtig, aber auch nur für einen Augenblick. Eisige Lichtspeere hagelten seinem verhassten Gegner von allen Seiten entgegen, waren gleichzeitig entsetzlich heiß und betäubend kalt und schlugen auf Deathwing ein. Doch die magischen Metallplatten, die in die Haut des schwarzen Drachen eingelassen waren, wehrten fast den gesamten tosenden Sturm ab, sodass Deathwing dem Rest mit Leichtigkeit widerstehen konnte.

Von allen stellte sich jedoch Ysera als seine listigste und gefährlichste Gegnerin heraus. Anfangs hielt sie sich zurück und schien sich damit zufrieden zu geben, ihre Mitstreiter gegen ihn anrennen zu lassen. Dann jedoch bemerkte Deathwing eine Gleichgültigkeit in sich selbst, eine Zufriedenheit, die zur Ablenkung führte. Beinahe zu spät bemerkte er, dass er in einen Tagtraum geglitten war. Er schüttelte den Kopf, um die Spinnweben, die sich über seinen Geist gelegt hatten, zu vertreiben. Im gleichen Moment versuchten alle drei Gegner ihn in die Zange zu nehmen.

Mit einigen Schlägen seiner gewaltigen Flügel gelangte er aus ihrer Reichweite und startete seinen Gegenangriff. Zwischen den Vorderklauen bildete sich eine riesige Kugel reiner, ursprünglicher Energie, die er ihnen entgegen schleuderte.

Die Kugel explodierte, als sie die Drei erreichte. Ysera und die anderen wurden zurückgeschleudert.

Deathwing schrie seinen Triumph hinaus. »Narren! Werft mir entgegen, was ihr habt, es wird nichts ändern. Ich bin die wahre Macht! Ihr seid nicht mehr als Schatten der Vergangenheit!«

»Unterschätze nie, was du von der Vergangenheit lernen kannst …«

Ein roter Schatten, von dem Deathwing geglaubt hatte, er würde ihn nie wieder in den Lüften erblicken, füllte sein Gesichtsfeld aus und überraschte ihn. »Alexstrasza … bist du gekommen, um deinen Gefährten zu rächen?«

»Um meinen Gefährten und meine Kinder zu rächen, Deathwing, denn ich weiß genau, dass allein du für alles verantwortlich bist.«

»Ich?« Der schwarze Leviathan grinste breit. »Aber ich kann die Dämonenseele dank dir und den deinen doch nicht einmal mehr berühren!«

»Aber etwas führte Orks an einen Ort, den nur Drachen kannten, und etwas erzählte ihnen von der Macht der Scheibe.«

»Spielt das eine Rolle? Deine Zeit ist abgelaufen, Alexstrasza, während meine gerade erst beginnt.«

Die rote Königin spreizte ihre Schwingen und zeigte die Krallen. Trotz der Entbehrungen ihrer Gefangenschaft wirkte sie in diesem Augenblick nicht im geringsten geschwächt. »Deine Zeit ist abgelaufen, Dunkler!«

»Dank der anderen habe ich die Leiden der Zeit, den Fluch der Albträume und die Nebel der Magier besiegt. Welche Waffen hast du zu bieten?«

Alexstrasza begegnete seinem düsteren Blick mit ruhiger Entschlossenheit. »Das Leben, die Hoffnung … und was sie mit sich bringen.«

Deathwing lauschte ihren Worten und lachte laut. »Dann bist du schon so gut wie tot!«

Die beiden Drachen stürzten sich aufeinander.


»Glaubt sie wirklich, dass sie ihn besiegen kann?«, murmelte Rhonin. »Keiner von ihnen kann das. Ihnen fehlt, was das verfluchte Artefakt ihnen entzogen hat.«

»Wenn wir nichts unternehmen können, dann sollten wir diesen Ort verlassen, Rhonin.«

»Das kann ich nicht, Vereesa. Ich muss etwas für sie tun … für uns alle. Wer außer ihnen sollte Deathwing jemals aufhalten?«

Falstad betrachtete die Dämonenseele. »Kannst du mit diesem Ding nichts ausrichten?«

»Nein, man kann es nicht gegen Deathwing einsetzen.«

Der Zwerg rieb sein bärtiges Kinn. »Schade, dass man die Magie, die dieses Ding gestohlen hat, nicht zurückgeben kann. Dann wären sie wenigstens ebenbürtig.«

Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

Er versuchte nachzudenken. Aber mit seinem gebrochenen Finger, den hämmernden Kopfschmerzen und den Schrammen am ganzen Körper bereitete es ihm bereits Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Rhonin konzentrierte sich, dachte an das, was der Greifenreiter gerade gesagt hatte. »Aber wenn ich es recht bedenke, wäre es vielleicht doch möglich …«

Seine Gefährten blickten ihn verwirrt an. Rhonin sah sich kurz um und stellte sicher, dass ihnen im Moment keine Gefahr durch Orks drohte, dann griff er nach dem härtesten Stein, den er finden konnte.

»Was tut Ihr da?«, fragte Vereesa. Sie klang, als fürchte sie um seinen Verstand.

»Ich gebe ihnen ihre Macht zurück.« Er legte die Dämonenseele auf einen anderen Stein und hob den ersten hoch.

»Was zur Hölle willst …?« Weiter kam Falstad nicht.

Rhonin schlug den Stein mit aller Kraft gegen die Scheibe.

Der Stein zerbrach in zwei Hälften.

Die Dämonenseele glänzte unverändert, zeigte noch nicht einmal einen winzigen Kratzer als Folge des Angriffs.

»Verdammt! Ich hätte es wissen müssen.« Rhonin schaute den Zwerg an. »Kannst du mit deiner Axt genau zielen?«

Falstad wirkte beleidigt. »Das ist zwar eine minderwertige Ork-Anfertigung, aber trotzdem eine gebrauchstüchtige Waffe, und deshalb kann ich damit natürlich präzise zielen!«

»Dann schlag damit auf die Scheibe. Jetzt!«

Die Waldläuferin legte dem Zauberer besorgt die Hand auf die Schulter. »Rhonin, glaubt Ihr wirklich, dass das etwas nützen wird?«

»Ich kenne Sprüche, um ihnen die Magie zurückzugeben. Ich variiere einfach nur die Formeln, die mein Orden benutzt, um Magie von anderen Relikten abzuziehen, aber dafür muss das betreffende Artefakt zerbrochen werden. Die Kräfte, mit denen die Magie im Inneren gehalten wird, müssen unschädlich gemacht werden. Ich kann den Drachen geben, was sie brauchen, aber nur, wenn wir es schaffen, die Dämonenseele zu öffnen!«

»Darum geht es also.« Falstad hob die Streitaxt. »Tritt zurück, Zauberer. Willst du zwei saubere Hälften – oder viele kleine Splitter?«

»Zerstöre es einfach so gut du kannst.«

»Kein Problem …« Der Zwerg hob die Axt über den Kopf, atmete tief ein – und schlug dann so heftig zu, dass Rhonin die Anstrengung in der Armmuskulatur des Gefährten sehen konnte.

Die Axt traf.

Metallsplitter flogen nach allen Seiten.

»Bei den Arie! Die Klinge ist völlig ruiniert!«

Die große Scharte in der Axtklinge bewies endgültig, wie hart die Oberfläche der Dämonenseele war. Falstad warf die ramponierte Waffe angewidert von sich und verfluchte die schlechte Qualität der Ork-Schmieden.

Rhonin wusste jedoch, dass die Axt keine Schuld traf. »Das ist schlimmer, als ich dachte.«

»Wenn die Scheibe durch Magie geschützt wird«, sagte Vereesa, »kann sie dann nicht auch durch Magie vernichtet werden?«

»Der Zauber müsste sehr, sehr mächtig sein. Meine eigenen Fähigkeiten reichen dafür nicht aus – aber wenn ich einen anderen mächtigen Talisman hätte …« Er erinnerte sich an das Medaillon, das Krasus – oder richtiger: Korialstrasz – Vereesa gegeben hatte, aber dieses war zurückgeblieben, als der Zauberer und der rote Drache sich auf den Weg in die Schlacht gemacht hatten. Außerdem bezweifelte Rhonin, dass es ihm tatsächlich eine große Hilfe gewesen würde. Aussichtsreicher wäre es gewesen, wenn er etwas von Deathwing besessen hätte, aber sein eigenes Medaillon war im Berg verloren gegangen.

Doch hatte er nicht immer noch den Stein? Den Stein, der aus einer Schuppe des schwarzen Drachens entstanden war?

»Das könnte funktionieren!«, seufzte er und griff in seine Tasche.

»Was hast du da?«, fragte Falstad.

»Das.« Er zog den kleinen Stein heraus, was die anderen jedoch nicht sonderlich beeindruckte. »Deathwing erschuf ihn aus einer Schuppe seines eigenen Körpers, so wie er auch die Dämonenseele durch seine Magie entstehen ließ. Vielleicht erreichen wir damit etwas, was sich durch nichts sonst mehr erreichen ließe …«

Sie sahen ihm zu, wie er den Stein zur Scheibe brachte. Einen Moment war Rhonin unschlüssig, was die beste Vorgehensweise betraf, dann erinnerte er sich an die goldene Regel seiner Kunst: das Einfache war oft das Effektivste.

Der schwarze Stein glänzte in seiner Hand. Der Zauberer drehte ihn, bis er die schärfste Kante gefunden hatte. Er wusste sehr wohl, dass sein Plan vielleicht fehlschlagen würde, aber es gab nichts, was er sonst noch hätte versuchen können.

Vorsichtig strich er mit dem Stein über die Mitte des Talismans.

Deathwings Schuppe schnitt durch die harte goldene Oberfläche wie eine Klinge durch Butter.

»Passt auf.« Vereesa zog ihn gerade noch rechtzeitig zurück, als eine Lichtsäule aus dem Schnitt hervorschoss.

Rhonin spürte die gewaltige magische Kraft, die aus dem beschädigten Talisman entkam und wusste, dass er rasch handeln musste, bevor sie für jene verloren war, denen sie eigentlich gehörte.

Er murmelte einen Zauberspruch und veränderte ihn so, wie er es brauchte. Er konzentrierte sich so gut es ging, wollte nicht riskieren, an diesem kritischen Punkt noch zu scheitern. Es musste einfach gelingen.

Ein phantastischer, leuchtender Regenbogen spannte sich höher und höher dem Himmel entgegen. Rhonin wiederholte den Spruch und unterstrich noch einmal das Ergebnis, das er im Sinn hatte …

Das blendend helle Licht, das nun mehrere hundert Fuß hoch war, bog sich noch weiter und tastete nun in die Richtung der kämpfenden Drachen.

»Habt Ihr es geschafft?«, fragte die Waldläuferin atemlos.

Rhonin betrachtete die weit entfernten Körper von Alexstrasza, Deathwing und den anderen. »Ich glaube schon … Nun, zumindest hoffe ich es …«


»Habt ihr noch immer nicht genug? Wollt ihr weiter gegen etwas kämpfen, das ihr nicht besiegen könnt?« Deathwing sah seine Feinde geringschätzig an. Der letzte Rest von Respekt, den er sich noch für sie bewahrt gehabt hatte, war inzwischen auch noch vergangen. Diese Narren rannten immer noch mit dem Kopf gegen die sprichwörtliche Wand, obwohl sie längst wussten, dass sie auch gemeinsam nicht genügend Kraft aufbrachten, um ihn zu besiegen.

»Du hast zu viel Leid und zu viel Zerstörung angerichtet, Deathwing«, antwortete Alexstrasza. »Nicht nur uns hast du Schaden zugefügt, auch den sterblichen Wesen dieser Welt.«

»Was bedeuten sie mir – und was bedeuten sie dir? Das werde ich nie verstehen.«

Sie schüttelte den Kopf, und da war etwas wie Mitleid in ihrem Blick. Mitleid für …ihn? »Nein, das wirst du nicht.«

»Ich habe lange genug mit euch gespielt, mit euch allen. Ich hätte euch schon vor Jahren vernichten sollen.«

»Aber das konntest du nicht. Die Erschaffung der Dämonenseele hatte sogar dich für eine Weile geschwächt.«

Er schnaufte abfällig. »Aber jetzt verfüge ich wieder über meine volle Stärke. Meine Pläne für diese Welt schreiten rasch voran. Wenn ich euch alle getötet habe, werde ich mit deinen Eiern, Alexstrasza, meine perfekte Welt erschaffen!«

Anstelle einer Antwort griff die rote Königin wieder an. Deathwing lachte, weil er wusste, dass ihre Zaubersprüche ebenso wenig ausrichten würden wie zuvor. Seine eigene Macht und die magischen Platten auf seiner Haut sorgten dafür, dass ihn nichts verletzen konnte.

»Aaargh …!«

Ihr wütender magischer Angriff traf ihn mit einer Macht, die er nie erwartet hätte. Seine Eisenplatten hatten der schrecklichen Wucht nichts entgegenzusetzen. Deathwing reagierte mit einem Schildzauber, aber der Schaden war nicht mehr zu beheben. Sein Körper schmerzte, wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr.

»Was … was hast du mir angetan?«

Im ersten Moment wirkte auch Alexstrasza überrascht, doch dann legte sich ein wissendes und triumphierendes Lächeln auf ihr Gesicht. »Das ist der Anfang von all den Dingen, die ich dir in Träumen bereits zugefügt habe.«

Sie sah größer und stärker aus. Auch die anderen hatten sich in dieser Weise verändert. Ein seltsames Gefühl erwachte in dem schwarzen Drachen und brachte ihn dazu, an seinem perfekten Plan zu zweifeln.

»Fühlst du es? Fühlst du es?«, plapperte Malygos. »Ich bin wieder ich. Welch ruhmreicher Moment!«

»Und es wird auch langsam Zeit«, gab Nozdormu zurück. Seine Juwelenaugen leuchteten stärker als zuvor. »Ja, es wird Zeit.«

Ysera öffnete ihre Augen, die so anziehend wirkten, dass Deathwing rasch zur Seite blicken musste. »Das Ende des Albtraums ist gekommen«, flüsterte sie. »Unser Traum ist Wirklichkeit geworden.«

Alexstrasza nickte. »Wir haben zurückbekommen, was man uns einst stahl Es gibt die Dämonenseele nicht mehr!«

»Unmöglich!«, schrie Deathwing. »Das sind Lügen!«

»Nein«, korrigierte die rote Königin. »Es gibt nur eine Lüge hier, nämlich die, dass du unbesiegbar bist.«

»Ja«, stimmte Nozdormu zu. »Ich freue mich darauf, diese lächerliche Behauptung zu widerlegen.«

Deathwing wurde von allen vier Elementarkräften gleichzeitig angegriffen. Er kämpfte nicht mehr gegen die Schatten seiner Rivalen – ein jeder von ihnen war ihm jetzt ebenbürtig, und alle zusammen waren sie ihm weit überlegen.

Malygos lenkte Wolken zu ihm, die seinen Rachen und seine Nase verstopften und ihm den Atem raubten. Nozdormu beschleunigte die Zeit für Deathwing, reduzierte die Stärke seines Gegners, indem er ihn Wochen, Monate und Jahre ohne Ruhe durchleiden ließ. Nach diesen Angriffen konnte dieser sich kaum noch verteidigen und so fiel es Ysera leicht, in seinen Geist einzudringen und die Gedanken auf seine schlimmsten Albträume zu lenken.

Erst dann erhob sich seine schlimmste Gegnerin, Alexstrasza, vor ihm. Der Blick, den sie Deathwing zuwarf, zeigte immer noch Mitleid. »Das Leben ist mein Aspekt, dunkler Herrscher, und ich kenne wie jede Mutter die Schmerzen und die Wunder, die es mit sich bringt. In den letzten Jahren musste ich zusehen, wie meine Kinder als Kriegswerkzeuge aufwuchsen und umgebracht wurden, sobald sie nutzlos oder unabhängig wurden. Ich habe in der Marter gelebt, dass viele starben, denen ich nicht helfen konnte.«

»Deine Worte bedeuten mir nichts!«, schrie Deathwing, während er vergeblich versuchte die Angriffe der anderen abzuwehren. »Nichts!«

»Nein, wahrscheinlich stimmt das … Und deshalb wirst du nun am eigenen Leibe erleben, was ich erlitten habe.«

Sie ließ es ihn spüren.

Gegen jeden anderen Angriff, sogar gegen Yseras Albträume, kannte Deathwing eine geeignete Methode der Verteidigung, aber gegen Alexstraszas Waffe war er hilflos. Sie griff ihn mit Schmerz an, aber es war ihr Schmerz. Sie griff ihn nicht mit einer Qual an, die er kannte, sondern mit dem Leid einer liebenden Mutter, die mit jedem Kind, das man ihr wegnahm und das man in etwas Schreckliches verwandelte, immer stärker litt.

Mit jedem Kind, das starb …

»Du wirst alles erleiden, was ich erlitten habe, dunkler Herrscher. Wir werden sehen, ob es dir dabei besser ergeht als mir.«

Aber Deathwing hatte keine Erfahrung mit solchem Leid. Es riss an ihm in einer Weise, wie es keine Kralle und kein Zahn vermochte. Es bohrte sich in sein tiefstes Inneres.

Der Schrecklichste aller Drachen schrie so entsetzt, wie nie ein Drache zuvor geschrien hatte.

Das rettete ihm vielleicht das Leben, denn die anderen waren so überrascht, dass sie ihre eigenen Zauber unterbrachen. Deathwing konnte sich endlich losreißen, drehte sich um und floh, so schnell er nur konnte. Sein ganzer Körper zitterte, und er brüllte immer noch, als er zwischen den Wolken verschwand.

»Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen!«, rief Nozdormu.

»Wir müssen ihm folgen, folgen!«, stimmte Malygos zu.

»Einverstanden«, fügte die Herrin der Träume ruhig hinzu. Ysera sah Alexstrasza an, die überrascht von ihrer eigenen Macht, neben ihr schwebte. »Schwester?«

»Ja«, antwortete die rote Königin nickend. »Beeilt euch. Ich stoße gleich zu euch.«

»Ich verstehe.«

Die anderen drei Aspekte wandten sich ab und nahmen Geschwindigkeit auf, während sie dem Flüchtenden nacheilten.

Alexstrasza sah ihnen hinterher und hätte sich ihnen beinahe selbst angeschlossen. Trotz ihrer wiederhergestellten Kräfte wusste sie nicht, ob die Kräfte Deathwings Zerstörungswut endgültig ersticken konnten, aber er musste wenigstens gefangen werden. Doch es gab noch andere Angelegenheiten, denen sie sich zuerst widmen musste.

Die Drachenkönigin ließ ihren Blick über die Erde und den Himmel gleiten, bis sie den entdeckte, den sie gesucht hatte.

»Korialstrasz«, flüsterte sie. »Du warst also doch keiner von Yseras Träumen …«


Auf sich allein gestellt, hätten die Zwerge vielleicht ein anderes Schicksal erlitten. Sicherlich hätten sie eine Weile durchgehalten, aber die Orks waren nicht nur zahlenmäßig überlegen, sondern auch in einem besseren Zustand. Die Jahre des unterirdischen Lebens hatte Roms Männer in mancher Weise abgehärtet, in anderer jedoch geschwächt.

Deshalb war es gut, dass sie Verstärkung von einem Kriegszauberer, einer erfahrenen Elfen-Waldläuferin und einem ihrer wahnsinnigen Cousins auf einem Greifen mit messerscharfen Krallen und tückischem Schnabel bekommen hatten. Denn nach der Zerstörung der Dämonenseele hatte sich dieses Helfer-Trio zu den Hügelzwergen gesellt und die Wende in der Schlacht herbeigeführt.

Natürlich hatte auch der rote Drache das Seine beigetragen, indem er immer wieder über die Orks hergefallen war, wenn diese versuchten, Ordnung in ihre Reihen zu bringen.

Die Überreste von Grim Batols Ork-Streitkräften ergaben sich schließlich. Geschlagen knieten sie vor ihren Gegnern nieder und erwarteten den Tod. Rom, der den Arm in einer Schlinge trug, hätte ihnen das sicherlich gewährt, denn viele aus seinem Volk – unter anderem auch Gimmel – waren gefallen. Allerdings fügte sich der Anführer der Zwerge den Wünschen eines anderen – und wer ignorierte schon die Bitte eines Drachen?

»Sie werden nach Westen gebracht zu den Schiffen der Allianz, die sie in die vorbereiteten Enklaven bringen wird. Für heute ist genug gestorben worden, und im Norden Khaz Modans wird gewiss noch weiter gekämpft.« Korialstrasz sah sehr müde aus. »Ich habe in den zurückliegenden Stunden mehr als genug Blut gesehen.«

Als Rom versprach, sich an die Bitte des Leviathans zu halten, wandte dieser seine Aufmerksamkeit Rhonin zu.

»Ich werde niemandem die Wahrheit über Euch verraten, Krasus«, flüsterte der junge Zauberer, ohne danach gefragt worden zu sein. »Ich glaube, ich verstehe, warum Ihr so gehandelt habt.«

»Aber ich selbst werde mir meine Fehler nie vergeben. Ich hoffe nur, dass meine Königin Verständnis dafür aufbringt.« Dem Reptil gelang ein fast menschlich wirkendes Schulterzucken. »Was meinen Platz bei den Kirin Tor angeht, wird es darüber wohl unterschiedliche Meinungen geben. Zum einen weiß ich selbst nicht, ob ich bleiben möchte, zum anderen wird die Wahrheit über die Ereignisse zumindest teilweise ans Licht kommen. Sie werden erkennen, dass ich dich nicht nur auf eine Aufklärungsmission geschickt habe.«

»Und was geschieht jetzt?«

»Vieles, viel zu vieles. Die Horde hält noch immer Dun Algaz, aber das wird bald vorbei sein. Danach werden wir die Welt wieder aufbauen und hoffen, dass sie diese Chance nutzt.« Er machte eine Pause. »Darüber hinaus gibt es einige politische Konstellationen, die sich nach den heutigen Geschehnissen ändern müssen.« Korialstrasz betrachtete die kleinen Wesen vor sich mit spürbarem Unbehagen. »Und ich muss dir gestehen, dass mein Volk wohl mehr Schuld an den herrschenden Verhältnissen trägt als alle anderen.«

Rhonin wäre gerne weiter auf dieses Thema eingegangen, aber er erkannte, dass Korialstrasz keine weiteren Fragen beantworten würde. Seit der Zauberer erfahren hatte, dass sich Korialstrasz und Deathwing als Menschen getarnt hatten, zweifelte er nicht mehr daran, dass das uralte Volk sich nicht nur in die Geschicke der Menschen, sondern auch in die der Elfen und anderer Völker eingemischt hatte.

»Du hast dich sehr gut verhalten, Rhonin«, sagte der Drache. »Du warst schon immer ein ausgezeichneter Schüler.«

Die Unterhaltung fand ihr abruptes Ende, als ein riesiger Schatten über die Gruppe hinwegglitt. Für einen Augenblick befürchtete der Magier, Deathwing sei seinen Verfolgern entkommen und wolle sich nun an denen rächen, die seinen Niedergang verschuldet hatten.

Aber der Drache, der über ihnen schwebte, war nicht schwarz, sondern rot wie Korialstrasz.

»Der Dunkle flieht! Seine Bösartigkeit wurde vielleicht nicht ausgelöscht, aber doch erst einmal eingegrenzt!«

Korialstrasz schaute auf. In seiner Stimme lag Sehnsucht. »Meine Königin …«

»Ich hatte geglaubt, du seiest tot«, sagte Alexstrasza zu ihrem Begleiter. »Ich trauerte eine lange Zeit um dich.«

Seine Schuldgefühle waren offensichtlich. »Ich musste mich verstecken, meine Königin, damit ich weiterhin versuchen konnte, dich zu befreien. Ich entschuldige mich nicht nur für den Schmerz, den ich damit bei dir auslöste, sondern auch für die Hinterlist, die ich bewies, als ich diese Sterblichen manipulierte. Ich weiß, dass du ihr Volk magst …«

Sie nickte. »Wenn sie dir vergeben, werde ich es auch.« Ihr Schwanz fiel nach unten und verband sich für einen Moment mit dem seinen. »Die anderen verfolgen den dunklen Herrscher noch immer, aber bevor ich ihnen bei der Jagd helfe, müssen wir meine Brut sichern und unser Heim neu aufbauen. Das halte ich für äußerst wichtig.«

»Ich bin dein Diener«, sagte er und neigte seinen massigen Kopf. »Jetzt und in alle Ewigkeit, meine geliebte Königin!«

Die Drachenkönigin sah den Zauberer und seine Freunde an. »Für eure Opfer können wir euch zumindest einen Flug nach Hause anbieten, vorausgesetzt, ihr könnt euch noch ein wenig gedulden.«

Auch wenn Falstads Greif sie unter Mühen bis nach Hause hätte bringen können, stimmte Rhonin doch dankbar zu. Er mochte die beiden Drachen, trotz Korialstraszs einstiger Hinterlist. In seiner Lage hätte der Zauberer vielleicht nicht anders gehandelt.

»Die Hügelzwerge werden euch Essen und Unterkunft geben. Wir werden morgen zu euch zurückkehren, sobald die Eier gefunden und sicher verstaut sind.« Ein bitteres Lächeln legte sich auf die Züge der Königin. »Zum Glück sind die Eier sehr widerstandsfähig, sonst hätte Deathwing mir selbst in seiner Niederlage noch großes Leid zugefügt.«

»Denk nicht mehr daran«, sagte der Drache. »Komm. Je schneller wir fertig sind, desto besser.«

»Ja …« Alexstrasza neigte den Kopf vor den Dreien. »Mensch Rhonin, Elfe und Zwerg, ich danke euch allen für eure Hilfe. Ihr sollt wissen, dass mein Volk, so lange ich Königin bin, sich nie mehr gegen eure Völker stellen wird!«

Und mit diesen Worten erhoben sich beide Drachen in die Luft und schlugen die Richtung ein, die Deathwing mit den ersten Eiern genommen hatte. Die Eier, die auf den Wagen zurückgeblieben waren, wurden von den Hügelzwergen beschützt, die die Bergfestung und ganz Grim Batol endlich wieder ihr eigen nennen durften.

»Sie sind ein wunderbarer Anblick«, sagte Falstad, als die Drachen verschwanden. Er wandte sich an seine Begleiter. »Meine Elfendame, Ihr werdet immer einen Platz in meinen Träumen haben!« Er ergriff die Hand der verwirrten Elfe, schüttelte sie und sagte zu Rhonin: »Zauberer, ich hatte nie viel mit deiner Art zu tun, aber ich sage hier und jetzt, dass zumindest einer von ihnen das Herz eines Kriegers besitzt. Ich habe daheim eine große Geschichte zu erzählen: Die Eroberung von Grim Batol. Wundere dich nicht, wenn eines Tages Zwerge diese Geschichte in Tavernen zum Besten geben …«

»Verlässt du uns?«, fragte Rhonin völlig überrascht. Sie hatten die Schlacht gerade erst gewonnen, und er selbst versuchte immer noch, überhaupt wieder zu Atem zu kommen.

»Du solltest wenigstens noch bis morgen warten«, bekräftigte auch Vereesa.

Der Zwerg hob die Schultern, als wolle er andeuten, dass er gern geblieben wäre, wenn er denn eine Wahl gehabt hätte. »Es tut mir Leid, aber diese Nachrichten müssen so rasch wie möglich die Aerie erreichen. So schnell die Drachen auch sein mögen, ich werde vor ihnen in Lordaeron sein. Es ist meine Pflicht, und ich möchte ein paar Leuten zeigen, dass ich noch am Leben bin.«

Rhonin ergriff dankbar Falstads kräftige Hand und war froh, sie nicht mit seiner verletzten Hand schütteln zu müssen, denn der Zwerg hatte einen eisernen Griff. »Danke für alles.«

»Nein, Mensch, ich danke dir. Ich bezweifle, dass es einen Reiter gibt, der ein glorreicheres Lied als ich singen kann. Das wird die Frauen aufhorchen lassen, glaub mir das ruhig!«

Vereesa reagierte überraschend für eine sonst so reservierte Elfe. Sie beugte sich vor und küsste den Zwerg leicht auf die Wange. Falstad errötete unter seinem dichten Bart.

»Gebt auf Euch acht«, sagte sie zu dem Reiter.

»Das werde ich.« Er sprang gekonnt in den Sattel seines Greifen. Ein letztes Winken, dann berührte Falstad die Seiten des Tiers leicht mit seinen Fersen. »Vielleicht sehen wir uns wieder, sobald der Krieg wirklich vorbei ist …«

Der Greif erhob sich in den Himmel und kreiste einmal über ihnen, sodass Falstad sich ein letztes Mal verabschieden konnte. Dann wandte sich das Tier nach Westen, und der kleinwüchsige Krieger verschwand mit ihm in der Ferne.

Rhonin winkte der kleiner werdenden Gestalt nach und erinnerte sich mit einigen Schuldgefühlen der Vorurteile, die er gegen den Zwerg gehegt hatte. Falstad hatte sie endgültig widerlegt.

Zärtliche Finger nahmen seine verletzte Hand und hoben sie hoch.

»Darum hätte sich schon längst jemand kümmern müssen«, mahnte ihn Vereesa. »Ich habe geschworen für deine Sicherheit zu sorgen, und das hier würde kein gutes Licht auf mich werfen …«

Sie duzte ihn zum ersten Mal.

»Endete dein Schwur denn nicht«, ging er darauf ein, »als wir die Küste von Khaz Modan erreichten?«

»Vielleicht, aber es scheint so, als müsste dich jemand zu jeder Stunde eines Tages vor dir selbst schützen. Was wirst du dir wohl als nächstes zufügen?« Auch die Elfe erlaubte sich ein leichtes Lächeln.

Rhonin ließ zu, dass sie sich um seinen gebrochenen Finger kümmerte und fragte sich, wie er den Kontakt zu Vereesa halten sollte, nachdem die Drachen sie nach Lordaeron zurückgebracht hatten. Sicherlich war es für ihre Auftraggeber besser, wenn sie ihnen die Ereignisse gemeinsam schilderten, sodass sie nachprüfbar waren. Er würde es Vereesa vorschlagen, um zu sehen, wie sie darauf reagierte.

Seltsam, machte er sich bewusst, wie schnell ich die Sehnsucht nach dem Tod, die ich anfangs gespürt habe, abgelegt und begonnen habe, das Leben wieder zu genießen – und das obwohl ich beinahe zerquetscht, aufgespießt, geköpft oder verschlungen wurde.

Er würde die Ereignisse auf seiner vorherigen Mission stets bedauern, fühlte sich aber nicht mehr von ihnen verfolgt.

»So«, sagte Vereesa. »Lass es so, bis ich dir Besseres zu bieten habe. Dann sollte es bald verheilt sein.«

Sie hatte etwas Stoff von ihrem Umhang abgerissen und aus dem Holz einer zerbrochenen Streitaxt eine Schiene angefertigt. Rhonin betrachtete ihre gelungene Arbeit.

Er ließ unerwähnt, dass er nach einer Ruhepause in der Lage gewesen wäre, die Hand selbst zu heilen. Schließlich hatte sie ihm so gerne helfen wollen …

»Danke.«

Er hoffte, dass sich die Drachen Zeit lassen würden. Nun, da die Orks besiegt waren, hatte es Rhonin nicht sonderlich eilig, nach Hause zurückzukehren.


Als die Nachricht über den Fall von Grim Batol und den Verlust der Drachen für die schrumpfende Horde die Allianz erreichte, feierte das Volk auf den Straßen. Jetzt musste der Krieg doch endlich vorbei sein und der Friede vor der Tür stehen …

Alle großen Königreiche bestanden darauf, die Worte des Zauberers und der Elfe aus deren eigenen Mündern zu hören und sie befragten die beiden langwierig zu alledem. Eine Nachricht, die sie von einem der Greifenreiter aus den Aeries erreichte, dem gefeierten Helden Falstad, bestätigte deren Geschichte.

Während Rhonin und Vereesa ihre Reise durch die Königreiche fortsetzten und sich dabei näher kamen, legte derjenige, der sich einst als der Zauberer Krasus getarnt hatte, in der Halle der Lüfte seinen eigenen Bericht vor. Anfangs wurde er von den anderen feindlich aufgenommen, vor allem von denen, die wussten, dass er sie alle belogen hatte. Allerdings konnte niemand das Resultat anfechten, und Zauberer waren sehr pragmatisch, wenn es um Ergebnisse ging.

Drenden schüttelte seinen in den Schatten liegenden Kopf und sah den gesichtslosen Magier an. »Ihr hättet beinahe alles vernichtet, was wir aufgebaut haben!«, rief er. Der Sturm, der plötzlich durch die Kammer fegte, unterstrich seine Worte. »Alles!«

»Jetzt verstehe ich das. Wenn Ihr es wünscht, werde ich meinen Rücktritt aus dem Rat erklären und selbst das Exil akzeptieren.«

»Einige hielten mehr als nur das Exil für angebracht«, kommentierte Modera. »Viel mehr …«

»Aber wir haben darüber beraten und entschieden, dass der Erfolg des jungen Rhonin Dalaran nur Gutes eingebracht hat, sogar von unseren Verbündeten, die sich kurz über die mangelnde Information, diese unmögliche Mission betreffend, beschwerten. Besonders die Elfen sind zufrieden, weil eine der ihren beteiligt war.« Drenden hob die Schultern. »Es gibt wohl keinen Grund, noch weiter über dieses Thema zu sprechen. Krasus, Ihr seid hiermit offiziell verwarnt, doch persönlich gratuliere ich Euch!«

»Drenden!«, fauchte Modera.

»Wir sind hier unter uns. Ich kann sagen, was mir gefällt.« Er knetete seine Finger. »Nun, wenn sonst niemand einen Beitrag leisten möchte, würde ich gerne über einen gewissen Lord Prestor sprechen, dem angeblich gewählten Monarchen von Alterac, der wie vom Erdboden verschwunden zu sein scheint.«

»Das Schloss steht leer, die Diener sind geflohen«, fügte Modera hinzu, der sich immer noch über das Verhalten seines Kollegen in Bezug auf Krasus ärgerte.

Ein dicklicher anderer Zauberer erhob die Stimme: »Die Zauber, die das Gebäude umgaben, sind ebenfalls vergangen.

Und es gibt Anzeichen dafür, dass Goblins für den geflohenen Magier gearbeitet haben.«


Der gesamte Rat sah Korialstrasz an.

Er spreizte die Hände ab, als wäre er so überrascht wie die anderen. »Lord Prestor« hatte sich anscheinend auf dem Weg ganz nach oben befunden. Warum hatte er, wollten die anderen wissen, all dies aufgegeben? »Es ist mir ebenso ein Rätsel wie euch. Aber vielleicht hat er einfach nur eingesehen, dass er unserer vereinten Kraft auf Dauer nicht widerstehen könnte. Davon muss man fast ausgehen, denn nichts anderes würde erklären, wie er so viel aufgeben konnte …«

Diese Aussage gefiel den anderen Zauberern. Wie die meisten Wesen, die Korialstrasz kannte, waren sie anfällig für Schmeicheleien.

»Sein Einfluss weicht bereits«, fuhr er fort. »Wie Ihr alle sicherlich wisst, hat Genn Greymane bereits Protest gegen Prestors Thronfolge eingelegt, und Lordadmiral Proudmoore unterstützt ihn darin. König Terenas hat sogar bekannt gegeben, dass Nachforschungen über die Herkunft des angeblichen Adligen viele Ungereimtheiten ergeben hätten. Die Gerüchte über Prestors bevorstehende Eheschließung sind verstummt.«

»Ihr habt diese Nachforschungen über seine Herkunft angestellt«, kommentierte Modera.

»Ich habe Seiner Majestät vielleicht einige Informationen zugespielt … ja.«

Drenden nickte zufrieden. »Rhonins Mission hat unseren Wert in Terenas' Augen und denen der anderen erhöht, und wir werden dies zu nutzen wissen. In weniger als zwei Wochen wird Lord Prestor nirgends in der gesamten Allianz mehr willkommen sein.«

Korialstrasz hob warnend eine Hand. »Wir sollten subtiler vorgehen. Wir haben genügend Zeit. Schon bald werden sie vergessen haben, dass es ihn je gegeben hat.«

»Vielleicht habt Ihr Recht.« Der bärtige Magier sah die anderen an, die zustimmend nickten. »Einstimmig angenommen und beschlossen! Sehr schön.« Er hob die Hand, um die Versammlung aufzulösen. »Wenn das dann soweit alles …«

»Eigentlich nicht«, unterbrach ihn der Drachenmagier. Die Wolke eines vergehenden Sturms trieb durch ihn hindurch.

»Worum geht es noch?«

»Obwohl Ihr mir mein fragwürdiges Handeln vergeben habt, muss ich mich doch für geraume Zeit aus den Aktivitäten des Rats zurückziehen.«

Sie waren überrascht. Er hatte noch nie eine Ratssitzung verpasst, geschweige denn sich aus dem Rat zurückgezogen.

»Wie lange?«, fragte Modera.

»Ich weiß es nicht. Sie und ich waren so lange getrennt, dass es Zeit braucht, bis wir uns wiedergefunden haben.«

Trotz des Schattenzaubers glaubte Korialstrasz Drenden blinzeln zu sehen. »Ihr habt eine …Frau?«

»Ja. Vergebt mir, wenn ich nie über sie sprach. Wie ich bereits sagte, wir waren lange Zeit getrennt.« Er lächelte, obwohl sie das nicht sehen konnten. »Aber jetzt ist sie zu mir zurückgekehrt.«

Die andern tauschten Blicke aus. Schließlich antwortete Drenden: »Dann wollen wir Euch natürlich nicht im Wege stehen. Ihr habt das Recht, dies zu tun …«

Er verneigte sich und hoffte, eines Tages zurückkehren zu können, denn dies hier war zu einem Teil seines Jahrhunderte währenden Lebens geworden. Allerdings verblasste es neben der Aussicht, mit Alexstrasza Zusammensein zu dürfen. »Ich danke Euch und hoffe natürlich auch weiterhin auf dem Laufenden über alle wichtigen Angelegenheiten zu bleiben.«

Er hob seine Hand zum Abschied, während sein Zauberspruch ihn von der Halle der Lüfte wegführte. Korialstraszs letzte Worte entsprachen mehr der Wahrheit, als es die anderen Zauberer vielleicht ahnten. Als einer der Kirin Tor, selbst wenn er dem Rat fern sein würde, plante er tatsächlich, die politischen Manöver genau zu verfolgen. Trotz »Lord Prestors« Verschwinden gab es noch immer gefährliche Zwistigkeiten zwischen den Königreichen, wobei Alterac, wie stets, einen besonderen Platz einnahm. Seine Pflichten gegenüber Dalaran verlangten, dass Korialstrasz den Überblick bewahrte.

Was seine Königin und sein uraltes Volk anging – er und andere, die waren wie er, würden weiterhin beobachten, beobachten und Einfluss nehmen, falls es nötig war. Alexstrasza glaubte an diese jungen Völker, sogar noch stärker nach dem, was Rhonin und die anderen geschafft hatten, und gerade deshalb wollte Korialstrasz alles tun, um diesen Glauben zu untermauern. Das schuldete er ihr und denen, die ihm bei seiner Mission geholfen hatten.

Seit seiner verzweifelten Flucht hatte niemand mehr Deathwing zu Gesicht bekommen. Die anderen hielten ununterbrochen Wache, deshalb war es unwahrscheinlich, dass er in nächster Zeit für Probleme sorgen würde. Vielleicht war seine Zerstörungswut sogar völlig gebannt worden. Und eigentlich hatten die anderen erst wegen ihm ihr Interesse am Leben und an der Zukunft wiedergefunden.

Die Zeit der Drachen war in der Tat vorbei, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht weiterhin Einfluss auf die Geschicke der Welt nahmen – auch wenn das niemand je bemerken würde.

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