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»Also, wo ist er? Ich kann meine Zeit nicht mit dem Herumspazieren in diesen Hallen der Dekadenz verschwenden!«

Zum, wie es schien, tausendsten Mal zählte König Terenas lautlos bis zehn, bevor er auf Genn Greymanes letzten Ausbruch antwortete. »Lord Prestor wird in Kürze eintreffen, Genn. Ihr wisst, dass er uns in dieser Angelegenheit alle zusammenbringen will.«

»Ich weiß nichts dergleichen«, grollte der hünenhafte Mann in der schwarzgrauen Rüstung. Genn Greymane erinnerte den König an nichts Geringeres als einen Bären, der gelernt hatte, Kleidung zu tragen, wenn auch etwas derbe. Er schien akut gefährdet, aus seinem Rüstzeug hervorzuplatzen, und wenn der Herrscher von Gilneas einen weiteren Krug des guten Ales hinunterschüttete oder eine weitere der reichhaltigen Lordaeroner Pasteten zu sich nahm, die Terenas' Koch zubereitet hatte, würde sicherlich genau das auch passieren.

Trotz Greymanes bärenhaftem Erscheinungsbild und seiner arroganten, unverblümten Art, unterschätzte der König den Krieger aus dem Süden nicht. Greymanes politische Winkelzüge waren legendär, gerade auch der jüngste. Wie er es fertig gebracht hatte, Gilneas eine Stimme in einer Angelegenheit zu verleihen, die das entfernte Königreich nicht einmal betraf, beeindruckte Terenas nach wie vor.

»Ebenso könntet ihr versuchen, dem Wind vorzuschreiben, dass er nicht mehr heulen soll«, erklang eine kultiviertere Stimme vom entgegengesetzten Ende der großen Halle. »Ihr hättet damit sicher mehr Erfolg, als wenn ihr versuchen würdet, diese Kreatur auch nur für einen Augenblick zum Schweigen zu bringen!«

Sie alle hatten sich geeinigt, in der kaiserlichen Halle zusammenzukommen, einem Ort, an dem in vergangenen Zeiten die bedeutendsten Verträge von ganz Lordaeron ausgehandelt und unterzeichnet worden waren. Mit ihrer reichen Geschichte und dem altertümlichen und dennoch ehrwürdigen Zierrat verlieh die Halle jedweder hier stattfindenden Besprechung eine enorme Bedeutung … und mit Sicherheit war die Alterac-Frage von existenzieller Bedeutung für die Allianz.

»Wenn Euch der Ton meiner Stimme nicht zusagt, Lordadmiral«, schnarrte Greymane, »kann guter Stahl jederzeit dafür sorgen, dass Ihr Euch weder sie noch irgendetwas anderes jemals wieder anhören müsst.«

Lordadmiral Daelin Proudmoore erhob sich in einer fließenden, lange eingeübten Bewegung. Der hagere, wettergegerbte Seemann griff nach seinem Schwert, das für gewöhnlich an der Seite seiner grünen Flottenuniform herabhing, aber die Scheide klapperte nur leer. Ebenso die von Genn Greymane. Die eine Sache, auf die man sich widerstrebend bereits zu Beginn geeinigt hatte, war, dass keines der Staatsoberhäupter eine Waffe zu den Besprechungen mitbringen würde. Sie hatten sogar zugestimmt – selbst Genn Greymane – von ausgewählten Wachen der Ritter der Silbernen Hand durchsucht zu werden, der einzigen Verbindung, der sie alle trauten, ungeachtet ihres Treueids gegenüber Terenas.

Natürlich war es Prestors Verdienst, dass die unglaubliche Versammlung bis zu diesem Stadium gediehen war. Die Monarchen der großen Reiche fanden nur selten zusammen. Normalerweise verkehrten sie untereinander durch Boten und Diplomaten oder gelegentlichen Staatsbesuchen. Nur der erstaunliche Prestor hatte Terenas' unsichere Verbündete überreden können, ihren Stab und ihre Leibgarden vor der Tür zu belassen und die Dinge von Angesicht zu Angesicht zu klären.

Wenn der junge Adlige doch endlich auch selbst erschienen wäre …

»Mylords! Gentlemen!« Verzweifelt um Unterstützung ringend, blickte der König zu der ernsten Gestalt am Fenster, eine Gestalt in Leder und Pelz, die der milden Witterung dieser Region Hohn sprach. Ein wild wuchernder Bart und eine Hakennase waren alles, was Terenas vom schroffen Gesicht Thoras Trollbanes ausmachen konnte, aber er wusste, dass, auch wenn dieser ein großes Interesse an der Aussicht vorgaukelte, der Lord von Stromgarde sich jedes Wort und jeden Tonfall seiner Gegenspieler verinnerlicht hatte. Dass er nichts unternahm, um Terenas beizustehen, erinnerte diesen an die Kluft, die sich zwischen ihnen seit Beginn dieser verzwickten Geschichte aufgetan hatte.

Verdammt sei Lord Perenolde!, dachte der König von Lordaeron. Wenn er uns nur nicht zu all dem gezwungen hättet.

Obwohl Ritter des heiligen Ordens bereit standen, um einzuschreiten, falls einer der Monarchen tatsächlich handgreiflich werden sollte, war es weniger die physische Gewalt, die Terenas fürchtete, als vielmehr das Ende aller Hoffnung auf einen Fortbestand der Allianz zwischen den menschlichen Königreichen. Er hatte nicht einen Moment lang das Gefühl, dass die Bedrohung durch die Orks für immer gebannt sei. Die Menschen mussten in dieser gefahrvollen Zeit zusammenstehen. Er wünschte sich, Anduin Lothar, Lordregent der Flüchtlinge des verlorenen Reiches von Azeroth, wäre bei ihnen gewesen, doch dies war nicht möglich und ohne Lothar blieb nur noch …

»Mylords! Kommt, kommt! Dies ist sicher kein angemessenes Verhalten für uns.«

»Prestor!«, keuchte Terenas. »Seid gepriesen!«

Die anderen wandten sich um, als die hoch gewachsene, tadellose Gestalt die große Halle betrat. Der Eindruck, den der Mann auf die Ältesten macht, ist erstaunlich, dachte der König. Er spaziert herein, und jeder Streit endet. Grimmige Rivalen legen ihre Schwerter beiseite und sprechen vom Frieden!

Ja, er war eindeutig die richtige Wahl, um Perenolde zu ersetzen.

Terenas beobachtete, wie sein Freund durch den Raum schritt, jeden der Monarchen begrüßte und dabei alle so behandelte, als wären sie beste Freunde. Vielleicht waren sie dies tatsächlich, denn Prestor schien keinerlei Hochmut in sich zu tragen. Gleichgültig, ob er mit dem rauhen Thoras oder dem intriganten Greymane sprach, Prestor wusste stets, wie er mit ihnen umzugehen hatte. Die Einzigen, die ihn niemals vollständig hatten akzeptieren können, waren die Zauberer von Dalaran, doch andererseits: Es waren Zauberer.

»Vergebt meine Verspätung«, setzte der junge Aristokrat an. »Ich bin einfach losgeritten, habe die Landschaft genossen und dabei schlicht unterschätzt, wie viel Zeit es mich kosten würde, umzukehren.«

»Es ist schon gut«, erwiderte Thoras Trollbane freundlich.

Ein weiteres Beispiel für Prestors beinahe magische Wirkung. Denn wenngleich er ein Freund und Verbündeter war, dem jeder Respekt gebührte, sprach Thoras Trollbane sonst nie freundlich zu jemandem, ohne dass man ihm dabei die Anstrengung ansah. Er neigte zu kurzen, klaren Sätzen, um dann in Schweigen zu verfallen. Dieses Schweigen war nicht als Affront gedacht, wie Terenas nach und nach gelernt hatte. Es war vielmehr so, dass Thoras sich bei längeren Gesprächen schlicht unwohl fühlte. Als Mann, der im kalten, gebirgigen Stromgarde verwurzelt war, zog er Taten allemal Worten vor.

Weshalb der König von Lordaeron umso glücklicher war, dass Prestor endlich eingetroffen war.

Prestor suchte den Blick jedes Anwesenden für einen Moment, bevor er sagte: »Wie schön es ist, Euch alle wiederzusehen. Ich hoffe, dass wir diesmal alle Meinungsverschiedenheiten aus der Welt schaffen können, sodass wir in Zukunft als gute Freunde und Waffengefährten aufeinander treffen …«

Greymane nickte fast enthusiastisch. Proudmoore trug eine zufriedene Miene zur Schau, als wäre die Ankunft des Adligen die Antwort auf alle seine Gebete. Terenas sagte nichts und erlaubte seinem talentierten Freund, die Kontrolle über dieses Treffen zu übernehmen. Je mehr sich die anderen auf Prestor konzentrierten, desto einfacher würde es für den König sein, mit seinem Vorschlag Gehör zu finden.

Sie versammelten sich um den geschmackvoll dekorierten Elfenbeintisch, den Terenas' Großvater nach den erfolgreichen Grenzverhandlungen mit den Elfen von Quel'Thalas von seinen nördlichen Vasallen als Geschenk erhalten hatte. Wie immer legte der König beide Hände fest auf die Tischplatte, als könnte er so die Weisheit seiner Vorgänger daraus ziehen. Über den Tisch hinweg traf sich für einen Moment Prestors Blick mit dem seinen. Unter den starken, dunklen Augen entspannte sich der Monarch. Prestor würde jeden Disput zu handhaben wissen.

Und so begannen die Gespräche, zunächst mit formellen Eröffnungsreden, denen alsbald hitzigere und unverblümtere Worte folgten. Doch unter Prestors Moderation kam es niemals zu Ausschreitungen oder gar zur Androhung roher Gewalt. Zwar musste er mehr als einmal den einen oder anderen der Teilnehmer beiseite nehmen und ins Zwiegespräch mit ihm gehen, doch jedes Mal endeten diese vertraulichen Runden. Mit einem Lächeln auf Prestors falkenhaften Zügen und einem beachtlichen Fortschritt, was die Festigung der Allianz anging.

Als sich die Versammlung dem Ende näherte, suchte Terenas selbst solch einen kurzen, diskreten Austausch. Während Greymane, Thoras und Lordadmiral Proudmoore vom feinsten Brandy des Königs tranken, begaben sich Prestor und der Monarch zu einem der Fenster, von denen aus man die Stadt überblicken konnte. Terenas mochte diesen Ausblick, denn von hier aus konnte er sehen, wie es um das Wohl seines Volkes bestellt war. Selbst jetzt, während dieser bedeutungsvollen Zusammenkunft, gingen seine Untertanen ihrem Tagwerk nach und lebten ihr Leben, wie sie es gewohnt waren. Ihr Vertrauen in ihn stärkte seinen erschöpften Geist und er wusste, dass sie die Entscheidung verstehen würden, die er an diesem Tag zu treffen gedachte.

»Ich weiß nicht, wie Ihr es zustande gebracht habt, mein Junge«, flüsterte er. »Ihr habt den anderen die Augen für die Wahrheit geöffnet, für das Notwendige. Sie sitzen tatsächlich in dieser Halle und verhalten sich nicht nur untereinander zivilisiert, sondern auch mir gegenüber! Dabei musste ich eigentlich befürchten, Genn und Thoras wollten mir an den Kragen gehen.«

»Ich tat einfach, was in meinen Möglichkeiten liegt, um sie zu beschwichtigen, Mylord, doch habt Dank für Eure freundlichen Worte.«

Terenas schüttelte den Kopf. »Freundliche Worte? Wohl kaum! Prestor, mein Freund, Ihr allein habt die Allianz davor bewahrt, in Stücke zu brechen. Was habt Ihr ihnen allen erzählt?«

Ein verschwörerischer Ausdruck huschte über die gut geschnittenen Züge des Mannes. Er beugte sich dem Monarchen entgegen, den Blick tief in den von Terenas gesenkt. »Ein bisschen dies, ein bisschen das. Dem Admiral das Versprechen der weiteren Unabhängigkeit der Meere gegeben, selbst wenn dies bedeuten sollte, eine Armee auszusenden, um die Kontrolle über Gilneas zu übernehmen. Für Greymane ein paar künftige Seekolonien nahe der Küste von Alterac. Und Thoras Trollbane glaubt, dass er die östliche Hälfte dieses Landes erhält … all dies, nachdem ich der rechtmäßige Herrscher geworden bin.«

Einen Augenblick starrte ihn der König nur sprachlos an, nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Er starrte in Prestors hypnotische Augen und wartete auf die Pointe dieses üblen Scherzes. Als sie jedoch nicht kam, platzte es schließlich mit leiser Stimme aus ihm heraus: »Habt Ihr den Verstand verloren, mein Junge? Selbst im Scherz über solche Dinge zu sprechen ist im höchsten Grade ungehörig und …«

»… und Ihr werdet Euch an nichts davon mehr erinnern, versteht Ihr?« Lord Prestor beugte sich vor und seine Augen hielten Terenas Blick unerbittlich fest. »Genauso wie niemand von denen dort sich an das erinnern wird, was ich ihnen versprach. Alles, an was du dich entsinnen kannst, meine aufgetakelte kleine Marionette, ist, dass ich dir einen politischen Vorteil garantiert habe, der zu seiner vollen Entfaltung meine Bestätigung als Herrscher von Alterac erfordert. Hast du das verstanden?«

Terenas konnte an nichts anderes mehr denken. Prestor musste der neue Monarch des zerrütteten Reiches werden. Dies war für die Sicherheit von Lordaeron und den Erhalt der Allianz unabdingbar.

»Ich sehe, dass dies der Fall ist. Gut. Jetzt wirst du zurückgehen und, sobald diese Konferenz sich dem Ende neigt, deinen mutigen Vorstoß wagen. Greymane ist bereits unterrichtet. Er wird am vehementesten widersprechen, doch in ein paar Tagen wird er zustimmen. Proudmoore wird sich deiner Führung anschließen, und nachdem er sich ein bisschen darüber beklagt hat, wird auch Thoras Trollbane meinen Aufstieg gutheißen.«

Etwas meldete sich in den Erinnerungen des Königs, ein Gedanke, den er zu artikulieren für nötig erachtete. »Kein … kein Herrscher kann gewählt werden, ohne … ohne das Einverständnis von Dalaran und den Kirin Tor …« Er rang darum, den Gedanken zu Ende zu führen. »Auch sie sind Mitglieder der Allianz …«

»Aber wer kann einem Zauberer trauen?«, erinnerte ihn Prestor. »Wer kann ihre Ziele ergründen? Deshalb hielt ich sie von Anfang an aus dieser Angelegenheit heraus. Zauberern ist nicht zu trauen … und irgendwann wird man sich um sie kümmern müssen.«

»Um sie kümmern … Ihr habt völlig Recht.«

Prestors Lächeln wurde breiter und enthüllte, so schien es, weit mehr Zähne, als es normal gewesen wäre. »Das habe ich immer.« Er legte seinen Arm kameradschaftlich um Terenas. »Jetzt ist es Zeit, dass wir zu den anderen zurückkehren. Du bist sehr zufrieden mit den Fortschritten. In wenigen Minuten wirst du deinen Vorschlag einbringen … und von da an wird alles seinen Gang nehmen.«

»Ja …«

Die schlanke Gestalt dirigierte den König zurück zu den anderen Monarchen, und noch während dies geschah, widmete sich Terenas bereits wieder den anstehenden Verhandlungen. Prestors furchtbare Enthüllungen lagen nun tief im Unterbewusstsein des Königs begraben, dort, wohin der schwarzgekleidete Adlige sie verbannt hatte.

»Mundet Euch der Brandy, meine Freunde?«, wandte sich Terenas an die anderen. Nachdem sie genickt hatten, lächelte er und sagte: »Eine Kiste wird jeden von Euch auf seinem Rückweg begleiten, als Dank für Euren Besuch.«

»Eine wunderbare Geste der Freundschaft, was meint Ihr?«, drängte Prestor Terenas' Gegenüber.

Sie nickten, und Proudmoore prostete dem Monarchen von Lordaeron sogar zu.

Terenas faltete die Hände. »Und dank unserem jungen Ratsmitglied hier, glaube ich, dass wir uns alle in einer Verbundenheit trennen, die noch größer ist als jemals zuvor.«

»Noch haben wir keinen Vertrag geschlossen«, erinnerte ihn Genn Greymane. »Wir haben uns noch nicht einmal auf unser Handeln in der gegenwärtigen Lage geeinigt.«

Terenas blinzelte. Der perfekte Einstieg. Warum seinen grandiosen Vorschlag länger hinauszögern?

»Was das betrifft, meine Freunde«, sagte der König, nahm Lord Prestor am Arm und führte ihn zum Kopf der Tafel, »bin ich der Ansicht, dass ich eine Lösung gefunden habe, die uns allen zusagen müsste …«

König Terenas von Lordaeron lächelte seinem jungen Schützling kurz zu, der nicht die geringste Ahnung von der großen Ehre haben konnte, die er ihm zuteil werden sollte. Ja, er war der perfekte Mann für diese Rolle. Mit Prestor an der Spitze von Alterac, würde die Zukunft der Allianz gesichert sein.

Und dann konnten sie beginnen, sich um diese verräterischen Zauberer in Dalaran zu kümmern.


»Das ist nicht in Ordnung!«, brach es aus dem schwergewichtigen Magier hervor. »Sie hatten keinen Grund, uns außen vor zu belassen!«

»Nein, den hatten sie nicht«, gab die ältere Frau zurück. »Aber sie haben es getan.«

Die Magier, die bereits früher in der Halle der Luft zusammengekommen waren, hatten sich erneut dort eingefunden, diesmal jedoch nur zu fünft. Der eine, den Rhonin als Krasus kannte, hatte seinen Platz innerhalb des magischen Kreises nicht eingenommen, doch die Übrigen waren zu sehr über die Ereignisse in der äußeren Welt besorgt, um sein Erscheinen abzuwarten. Die Könige der Normalsterblichen hatten sich hinter verschlossenen Türen getroffen, um eine gewichtige Angelegenheit ohne den lenkenden Einfluss der Kirin Tor zu besprechen. Auch wenn die meisten, die dem Rat angehörten, König Terenas und die anderen Monarchen respektierten, verstörte es sie doch, dass der Herrscher von Lordaeron eine solch beispiellose Versammlung einberufen hatte. Bei vorausgegangenen Treffen war stets ein Angehöriger des Inneren Rates der Kirin Tor mit anwesend gewesen. Dies war nur rechtens, nahm doch Dalaran immer einen ersten Rang unter den Streitkräften der Allianz ein.

Die Zeiten schienen sich zu ändern.

»Das Alterac-Dilemma hätte schon vor langer Zeit gelöst werden können«, bemerkte der Elfenmagier. »Wir hätten auf den Anteil an den Entwicklungen bestehen sollen, der uns zusteht.«

»Und damit einen weiteren Zwischenfall provozieren sollen?«, dröhnte die Stimme des Bärtigen mit aller Schärfe. »Ist Euch entgangen, wie sehr sich die anderen Reiche in letzter Zeit von uns zurückgezogen haben? Es scheint fast so, als fürchteten sie uns, seit die Orks nach Grim Batol getrieben wurden!«

»Lächerlich! Die Normalsterblichen standen der Magie stets misstrauisch gegenüber, aber niemand stellt unsere Loyalität in der Sache in Zweifel!«

Die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Wann war dies je von Bedeutung für jene, die unsere Kräfte fürchten? Jetzt, da die Ork-Horde zerschlagen wurde, beginnt das Volk zu erkennen, dass wir nicht sind wie es – dass wir ihm überlegen sind in jeglicher Hinsicht …«

»Eine gefährliche Art zu denken, selbst für uns«, erklang die ruhige Stimme von Krasus. Der gesichtslose Zauberer stand urplötzlich an seinem vorbestimmten Platz.

»Ihr seid gerade noch rechtzeitig eingetroffen!« Der bärtige Zauberer wandte sich dem Neuankömmling zu. »Habt Ihr etwas herausfinden können?«

»Sehr wenig. Das Treffen war nicht abgeschirmt … doch alles, was wir in Erfahrung bringen konnten, waren oberflächliche Gedanken. Diese enthüllten uns nichts, was wir nicht ohnehin schon wussten. Ich musste schließlich auf andere Methoden zurückgreifen, um wenigstens einen gewissen Erfolg zu erzielen.«

Die jüngere Frau wagte es einzuwerfen: »Haben sie eine Entscheidung getroffen?«

Krasus zögerte, dann hob er seine behandschuhte Hand. »Seht selbst …«

Im Zentrum der Halle, unmittelbar über dem in den Boden eingelassenen Symbol, erschien eine hoch gewachsene, menschliche Gestalt. Sie wirkte vollkommen real, fast realer als die anwesenden Zauberer. Von majestätischer Haltung, gekleidet in ein elegantes dunkles Gewand und mit markanten, gut aussehenden Zügen, ließ sie die Sechs einen Moment verstummen.

»Wer ist das?«, fragte dieselbe Frau.

Krasus überblickte die anderen Angehörigen seiner Zunft, bevor er antwortete: »Hoch lebe der neue Herrscher von Alterac, König Prestor der Erste

»Was?«

»Das ist unerhört!«

»Das können sie nicht ohne uns entscheiden – oder?«

»Wer ist dieser Prestor?«

Rhonins Gönner zuckte mit den Schultern. »Ein kleiner Adliger aus dem Norden, besitzlos, ohne Rückhalt. Es scheint allerdings, als habe er sich nicht nur bei Terenas eingeschmeichelt, sondern auch beim Rest, Genn Greymane eingeschlossen.«

»Aber ihn gleich zum König machen?«, schnappte der bärtige Zauberer.

»Oberflächlich betrachtet, nicht die schlechteste Wahl. Es macht Alterac einmal mehr zu einem unabhängigen Königreich. Die anderen Monarchen respektieren ihn, wie ich hörte. Es scheint, als habe er allein die Allianz vor dem Auseinanderbrechen bewahrt.«

»Also, was haltet Ihr von ihm?«, drängte die ältere Frau.

Krasus ging darauf ein. »Er scheint obendrein ein Mann ohne Vergangenheit zu sein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir von der Konferenz ausgeschlossen wurden. Das Seltsamste aber ist, er stellt eine Art Vakuum dar, was Magie anbelangt.«

Die anderen verfielen in Gemurmel ob dieser verstörenden Neuigkeiten. Dann erkundigte sich der Elfenzauberer, ebenso verwirrt wie der Rest: »Was meint Ihr mit Eurer letzten Bemerkung?«

»Ich meine, dass jedweder Versuch, mittels Magie mehr über ihn zu erfahren, zu nichts führt. Zu absolut nichts. Es ist, als sei Lord Prestor gar nicht existent … und doch ist er es. Was ich von ihm halte? Nun, ich denke, ich fürchte ihn.«

Aus dem Mund des ältesten der versammelten Zauberer, wogen diese Worte besonders schwer. Einige Zeit rasten die Wolken über ihren Köpfen dahin, die Stürme tobten, und der Tag wurde zur Nacht, doch die Herren der Kirin Tor standen nur schweigend da; ein jeder verarbeitete das Gehörte auf andere Weise.

Der jugendliche Magier brach als Erster die Stille. »Dann ist er ein Zauberer, nicht wahr?«

»Das erscheint am schlüssigsten«, erwiderte Krasus mit einem leichten Neigen des Kopfes, um seine Zustimmung zu unterstreichen.

»Ein mächtiger Zauberer«, murmelte der Elf.

»Ebenso schlüssig.«

»Wenn dem so ist«, fuhr der Elfenmagier fort, »um wen handelt es sich? Um einen von uns? Ist er ein Renegat? Mit Sicherheit wäre uns ein Zauberer seiner Fähigkeiten bekannt geworden!«

Die jüngere Frau beugte sich dem Abbild Prestors entgegen. »Sein Gesicht ist mir fremd.«

»Das ist kaum überraschend«, gab ihr älteres Gegenüber scharf zurück, »könnte doch schon jeder von uns tausend Masken überstreifen …«

Ein Blitz durchzuckte Krasus. Er schenkte ihm keine Beachtung. »Eine formelle Ernennung wird in zwei Wochen stattfinden. Einen Monat später wird Lord Prestor, so keiner der anderen Monarchen seine Meinung ändert, zum König gekrönt.«

»Wir sollten Protest einlegen.«

»Das ist ein Anfang. Dennoch, unsere vordringlichste Aufgabe, so denke ich, ist die Suche nach der Wahrheit über diesen Lord Prestor, die allumfassende Suche, um seine Vergangenheit zu enthüllen, seine wahren Absichten. Bis dahin können wir es nicht wagen, ihn öffentlich herauszufordern, denn er wird, abgesehen von uns, zweifelsohne den Rückhalt jedes einzelnen Mitglieds der Allianz haben.«

Die ältere Frau nickte. »Und selbst wir können uns nicht gegen die vereinte Macht der anderen Königreiche stellen, sollten sie unsere Einmischung als zu störend auffassen.«

»Genau so ist es.«

Mit einer knappen Handbewegung ließ Krasus die Darstellung Prestors verschwinden, doch die Erscheinung des jungen Adligen hatte sich bereits ins Bewusstsein eines jeden der Kinn Tor eingebrannt. Schweigend stimmten sie alle darin überein, dass sie vor einem Problem standen, das schwierig zu lösen sein würde.

»Ich muss Euch erneut verlassen«, sagte Krasus. »Ich schlage vor, Ihr alle folgt meinem Beispiel und denkt über diese schreckliche Angelegenheit gründlich nach. Geht jeder Spur nach und sei sie noch so vage und unwahrscheinlich, doch tut es rasch. Wenn der Thron von Alterac von diesem personifizierten Rätsel bestiegen wird, so nehme ich an, wird die Allianz nicht mehr lange bestehen, ganz gleich, wie einig sich ihre Fürsten gegenwärtig geben.« Er holte tief Luft. »Und ich fürchte, Dalaran wird ebenso fallen wie alles andere, wenn dies geschieht.«

»Wegen dieses einzelnen Mannes?«, stieß der bärtige Zauberer hervor.

»Wegen ihm, ja.«

Und während die anderen über seine Worte nachdachten, verschwand Krasus …

… um in seinem Sanktuarium zu erscheinen, noch immer aufgewühlt von dem Sachverhalt, den er entdeckt hatte. Schuldgefühle plagten ihn, denn Krasus war nicht ganz aufrichtig zu seinen Gesprächspartnern gewesen. Er wusste weit mehr über diesen mysteriösen Lord Prestor, oder ahnte es zumindest, als er die anderen hatte wissen lassen. Er wünschte, er hätte ihnen alles erzählen können, doch sie hätten vermutlich nur seine geistige Gesundheit in Frage gestellt, und selbst wenn sie ihm geglaubt hätten, so wäre auf diese Weise zu viel über ihn selbst und seine Methoden enthüllt worden.

Zu diesem undankbaren Zeitpunkt konnte er sich dies nicht leisten.

Mögen sie handeln, wie ich es von ihnen erhoffe.

Allein in seinem dunklen Sanktuarium, wagte Krasus schließlich, seine Robe zurückzuschlagen. Ein einzelnes, schwaches Licht ohne erkennbare Quelle war die einzige Beleuchtung der Kammer, und in seinem sanften Schein stand ein stattlicher, ergrauender Mann mit knochigen Zügen, die ans Leichenhafte grenzten. Schwarze, glitzernde Augen zeugten von einem Alter und einer Müdigkeit, die über das hinausgingen, was sich auf seinem Gesicht niedergeschlagen hatte.

Drei lange Narben zogen sich Seite an Seite die rechte Wange hinab; Narben, die trotz ihres Alters noch immer unterschwelligen Schmerz verursachten.

Der Zauberer hob seine Linke; sie war behandschuht. Oberhalb der Handfläche erschien plötzlich eine bläuliche Kugel. Krasus fuhr mit seiner Rechten über die Kugel, und sofort begannen sich Bilder darin zu formen. Er lehnte sich zurück, um diese Szenen zu studieren. Hinter ihm brachte sich ein hochlehniger Steinsitz in Position.

Einmal mehr observierte Krasus den Palast von König Terenas. Das königliche Bauwerk hatte den Monarchen des Reiches über viele Generationen als Heim gedient. Doppeltürme, die sich über mehrere Stockwerke erhoben, flankierten das Hauptgebäude, einen grauen, prachtvollen Bau, der allein schon einer kleinen Festung glich. Die Banner von Lordaeron flatterten gut sichtbar nicht nur auf den Türmen, sondern auch über dem mächtigen Eingangstor. Soldaten im Gewande der königlichen Garde hielten Wache außerhalb des Tores, im Inneren waren einige Mitglieder der Ritter der Silbernen Hand postiert. Unter normalen Umständen wären die Paladine nicht Teil der Palastverteidigung gewesen, aber solange die Besucher von königlichem Geblüt noch einige kleinere Angelegenheiten zu besprechen hatten, wurden diese vertrauenswürdigen Krieger eindeutig gebraucht.

Erneut fuhr der Zauberer mit seiner freien Hand über die Kugel. Links von der Palastansicht tauchte ein Bild des Innenbereichs auf. Mit einem gezielten Blick verbesserte der Zauberer die Sicht auf den Saal.

Terenas und sein junger Schützling. Obwohl die Zusammenkunft beendet war und die anderen Herrscher unmittelbar vor er Abreise standen, harrte Lord Prestor also weiterhin beim König aus. Krasus verspürte eine starke Verlockung, den Geist schwarzgekleideten Aristokraten zu durchforschen, doch er besann sich eines Besseren. Sollten die anderen dieses vermutlich unmögliche Unterfangen in Angriff nehmen. Jemand wie Prestor erwartete zweifellos einen derartigen Übergriff und würde prompt darauf reagieren. Noch wollte Krasus seine Rolle in diesem Spiel nicht leichtfertig enthüllen.

Wenn er es auch nicht wagte, in die Gedanken des Mannes vorzudringen, so konnte er doch wenigstens seine Vergangenheit genauer unter die Lupe nehmen … und wo ließ es sich besser beginnen als auf jenem Schloss, in dem der Flüchtling unter dem Schütze des Königs residierte? Krasus vollführte über der Kugel eine Geste, und ein neues Bild erschien. Es zeigte jenes andere Gebäude so, als blicke man aus weiter Ferne darauf. Der Zauberer betrachtete es für einen Augenblick, ohne etwas von Belang zu erspähen, und schickte dann seine magische Sonde näher.

Als sich die Sonde der hohen Mauer näherte, die das Gebäude umgab, versperrte ihm ein Zauber, weit schwächer als er es erwartet hätte, den Zugang. Krasus umging dem Spruch mit Leichtigkeit, ohne ihn dabei auszulösen. Nun lag das Äußere des Schlosses unmittelbar vor ihm, ein düsterer Ort, trotz seiner eleganten Fassade. Prestor bevorzugte ganz offensichtlich ein ordentliches Haus, aber nicht unbedingt ein heimeliges. Was den Magier kaum überraschte.

Eine rasche Überprüfung brachte einen weiteren Verteidigungsspruch zum Vorschein, diesmal etwas ausgeklügelter, doch nach wie vor nichts, was Krasus nicht hätte umgehen können. Mit einer geschickten Handbewegung glitt die knochige Gestalt einmal mehr an Prestors Machwerk vorbei. Nur noch ein Moment, und Krasus befand sich im Innern, wo er endlich …

Die Kugel wurde schwarz.

Die Schwärze breitete sich über ihre Grenzen hinaus aus.

Die Schwärze griff nach dem Zauberer.

Krasus stemmte sich von seinem Sitz. Tentakel aus purer Finsternis umschlangen die Stelle, wo er eben noch gesessen hatte und strömten darüber hinweg, wie sie es auch mit dem Magier getan hätten. Als Krasus auf die Beine kam, sah er, wie sich die Tentakel zurückzogen – von dem Sitz war keine Spur zurückgeblieben.

Weitere Tentakel quollen aus dem Ding hervor, das einmal seine magische Kugel gewesen war. Der Magier stolperte rückwärts – einer der wenigen Momente seines Lebens, in denen er vorübergehend zu überrascht war, um zu handeln. Dann jedoch sammelte sich Krasus und begann Worte zu murmeln, die seit mehreren Lebensaltern keine lebende Seele mehr vernommen hatte; Worte, die er selbst nie ausgesprochen, nur mit Faszination erlernt hatte.

Eine Wolke materialisierte vor ihm, eine Wolke, die sich wie ein Gespinst verdichtete. Sofort schwebte sie auf die suchenden Tentakel zu und traf sie in der Luft.

Die ersten Tentakel, die die nachgiebige Wolke berührten, verschrumpelten und wurden zu Asche, die verwehte, noch bevor sie den Boden erreichte. Krasus atmete erleichtert aus – nur um gleich darauf voller Grauen zu beobachten, wie das zweite Bündel Tentakel seinen Gegenzauber umfing.

»Das kann nicht sein …«, murmelte er mit weit aufgerissenen Augen. »Das kann nicht sein!«

Wie es die ersten Tentakel schon mit dem Steinsitz gemacht hatten, zogen die schwarzen Extremitäten nun auch die Wolke in sich hinein, absorbierten, nein, verschlangen sie.

Krasus hatte begriffen, womit er es zu tun hatte. Nur der Unstillbare Hunger, ein verbotener Spruch, war in der Lage, solches zu tun. Der Magier hatte seinen Einsatz bis zu diesem Moment nie persönlich erlebt, aber jeder, der die Künste ähnlich lange wie er studierte, hätte die Gegenwart dieses bösartigen Zaubers erkannt. Dennoch hatte sich irgendetwas verändert, denn der Gegenzauber, den er ausgewählt hatte, hätte der Richtige sein müssen, um genau dieser Bedrohung ein Ende zu setzen, und für einen Augenblick hatte es ja auch den Anschein gehabt …

… doch dann hatte sich eine unheimliche Veränderung vollzogen, eine Verschiebung in der Essenz des dunklen Zaubers. Nun näherte sich ihm das zweite Bündel Tentakel, und Krasus wusste zunächst nicht, wie er es davon abhalten sollte, ihn zum nächsten Gang seines Mahls zu degradieren.

Er zog in Betracht, aus der Kammer zu fliehen, aber er wusste, dass die Monstrosität ihn weiter verfolgen würde, ganz gleich, wo auf der Welt sich Krasus vor ihr zu verbergen suchte. Das war ein Teil der Besonderheit des Unstillbaren Hungers: Seine gnadenlose Jagd erschöpfte und zermürbte das Opfer, bis es sich schließlich in sein Schicksal ergab.

Nein, Krasus musste den Zauber hier und jetzt stoppen.

Eine einzige Formel blieb noch, die vielleicht funktionieren mochte. Sie würde ihn auslaugen, für Tage völlig handlungsunfähig machen, aber sie besaß die Kraft, Krasus vor dieser grauenhaften Bedrohung zu retten.

Aber ebenso gut konnte sie ihn umbringen – genau wie Lord Prestors Falle.

Er warf sich zur Seite, als einer der Tentakel vorschnellte. Es blieb keine Zeit mehr, die Gefahren gegeneinander aufzuwiegen. Krasus hatte nur noch Sekunden, um den Zauber zu wirken. Bereits jetzt versuchte der Hunger, ihm den Weg zu verstellen, ihn vollständig einzukreisen.

Die Worte, die der alte Magier wisperte, hätten für Normalsterbliche wie die Sprache von Lordaeron geklungen, nur rückwärts gesprochen und mit der Betonung auf den falschen Silben. Krasus sprach jedes Wort mit besonderer Vorsicht aus, denn er wusste, dass auch nur der geringste aus seiner Notlage resultierende Flüchtigkeitsfehler seine sofortige Vernichtung bedeutet hätte. Er stieß seine linke Hand der zugreifenden Finsternis entgegen und versuchte, das genaue Zentrum des sich ausbreitenden Schreckens zu fokussieren.

Die Schatten bewegten sich schneller, als er es für möglich gehalten hätte. Als ihm die letzten Worte über die Lippen rannen, packte ihn der Hunger. Ein einzelner, dünner Tentakel wand sich um zwei Finger seiner ausgestreckten Hand. Zuerst empfand Krasus keinen Schmerz, doch die Finger verschwanden einfach vor seinen Augen und hinterließen offene, blutende Wunden.

Er spie gerade die letzte Silbe aus, als der Schmerz unvermittelt durch seinen Körper brandete.

Eine Sonne explodierte inmitten seines kleinen Sanktuariums.

Die Tentakel schmolzen dahin wie Eis auf offener Glut. Ein Licht, so gleißend, dass es Krasus selbst durch die fest verschlossenen Augen hindurch blendete, erfüllte jeden Winkel und jeden Spalt. Der Zauberer keuchte und fiel zu Boden, wobei er seine verstümmelte Hand fest umklammert hielt.

Ein fauchendes Geräusch drang an seine Ohren und brachte seinen ohnehin erhöhten Puls zum Rasen. Hitze, unglaubliche Hitze, verbrannte seine Haut. Krasus ertappte sich selbst beim Stoßgebet, mit dem er um ein schnelles Ende flehte.

Das Fauchen wurde zu einem Brüllen, das mehr und mehr an Gewalt gewann, fast als breche ein Vulkan inmitten der Kammer aus. Krasus versuchte etwas zu erkennen, aber das Licht war noch immer zu überwältigend. Er zog sich in Embryostellung zusammen und erwartete das Unvermeidliche.

Doch dann … verlosch das Licht einfach und stürzte die Kammer in schweigende Finsternis.

Der Zaubermeister war zunächst unfähig, sich zu bewegen. Wäre der Hunger in diesem Moment über ihn gekommen, so hätte dieser ihn ohne mühelos besiegt. Für einige Minuten lag er einfach nur da und versuchte, wieder zu Sinnen zu kommen und, als ihm dies gelungen war, dem Blutstrom aus seiner furchtbaren Wunde Einhalt zu gebieten.

Krasus bewegte seine gesunde Hand über die Versehrte und schloss die blutenden Stümpfe. Er würde nicht imstande sein, den erlittenen Schaden zu beheben. Nichts, was von schwarzer Magie berührt worden war, konnte je wieder geheilt werden.

Schließlich wagte er es, seine Augen zu öffnen. Selbst der unbeleuchtete Raum kam ihm anfangs viel zu hell vor, doch das war eine Täuschung, und nach und nach passten sich seine Augen den wahren Verhältnissen an. Krasus erkannte ein paar schattenhafte Umrisse – Möbelstücke, nahm er an –, sonst nichts.

»Licht«, murmelte der völlig entkräftete Zauberer.

Eine kleine, smaragdgrüne Kugel tauchte nahe der Decke auf und verbreitete schwachen Schimmer in der Kammer. Krasus begutachtete seine Umgebung. Tatsächlich handelte es sich bei den Umrissen, die er wahrgenommen hatte, um die verbliebenen Reste der Einrichtung. Nur der Sitz war vollständig verschwunden, und auch was den Hunger betraf, so war er offenbar restlos ausgelöscht worden. Der Preis war hoch gewesen, aber Krasus hatte gesiegt.

Oder vielleicht auch nicht.

Die Katastrophe hatte sich innerhalb nur weniger Sekunden abgespielt, und geblieben war ihm nichts, nicht das Geringste, wofür sich das Opfer, das er erbracht hatte, gelohnt hätte. Sein Versuch, Lord Prestors Schloss auszuspähen, hatte in einer Niederlage geendet.

Und doch … und doch …

Krasus zog sich auf die Beine und erschuf einen neuen Sitz, dem alten gleich wie ein Zwilling. Keuchend fiel er hinein. Nach einem kurzen Blick auf seine zerstörte Hand, der ihn davon überzeugte, dass die Blutung tatsächlich gestoppt war, rief der Zauberer einen blauen Kristall herbei, um noch einmal einen Blick auf die Behausung des »Nobelmannes« werfen zu können. Ein furchtbarer Gedanke war ihm soeben gekommen, einer, den er nach allem, was geschehen war, nun mit einem kurzen, risikolosen Blick bestätigen zu können glaubte.

Da! Die Spuren der Magie waren unverkennbar. Krasus folgte ihnen, begutachtete ihre Verstrickungen. Er musste vorsichtig sein, um nicht das Böse, dem er gerade entronnen war, erneut zu wecken.

Dann bekam er seinen gesuchten Beweis. Die Kunstfertigkeit, mit welcher der Unstillbare Hunger gewirkt worden war, und die Komplexität, durch die sich seine Essenz verändert hatte, um Krasus' erste Gegenwehr zu vereiteln – deutete beides auf ein Wissen und ein Geschick hin, das sogar das der Kirin Tor übertraf, der fähigsten Magier, die Menschen und sogar Elfen aufzubieten hatten.

Doch es gab noch eine andere Rasse, deren Umgang mit der Magie begann, noch bevor sich die Elfen damit befassten.

»Ich weiß jetzt, wer du bist …!«, keuchte Krasus und beschwor ein Bild von Prestors stolzer Gestalt herauf. »Ich weiß jetzt, wer du bist, trotz der Maske, die du gewählt hast.« Er hustete und rang nach Atem. Die Tortur hatte Krasus ausgelaugt, doch die Erkenntnis, mit wessen Macht er auf vielfältige Weise konfrontiert worden war, traf ihn schwerer als jeder Zauber es vermocht hätte. »Ich habe dich erkannt …Deathwing!«

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