12

»Lord Prestors Krönung scheint fast unausweichlich«, erstattete die schattenhafte Gestalt in der smaragdgrünen Kugel Krasus Bericht. »Er besitzt eine geradezu unglaubliche Überzeugungsgabe. Ihr habt Recht, er muss ein Zauberer sein.«

Von der Mitte seines Sanktuariums aus blickte Krasus in die Kugel. »Es wird einiges an Beweisen erfordern, um die Monarchen zu überzeugen. Ihr Misstrauen gegenüber den Kirin Tor wächst von Tag zu Tag … und auch dahinter kann nur dieser Möchtegernkönig stecken.«

Die ältere Sprecherin, ebenfalls Angehörige des Inneren Rats, nickte. »Wir haben begonnen, ihn zu überwachen. Die einzige Schwierigkeit ist, dass sich Prestor schwer lokalisieren lässt. Er scheint in der Lage zu sein, seinen Wohnsitz zu betreten und zu verlassen, wann immer er will, ohne dass wir es erfahren.«

Krasus täuschte leichte Verblüffung vor. »Wie ist das möglich?«

»Wir wissen es nicht. Schlimmer noch, sein Schloss wird von ziemlich hässlichen Zaubersprüchen geschützt. Wir hätten beinahe Drenden an eine dieser Überraschungen verloren.«

Dass Drenden, der bärtige Magier mit der Baritonstimme, beinahe einer von einer von Deathwings Fallen den Garaus gemacht bekommen hätte, bestürzte Krasus für einen Augenblick. Trotz Drendens polternder Art, achtete der Drache die Fähigkeiten des anderen Magiers. Drenden in einer Zeit wie dieser zu verlieren, konnte sich als folgenschwer erweisen.

»Wir müssen mit Bedacht fortfahren«, drängte er. »Ich werde bald wieder mit Euch sprechen.«

»Was plant Ihr, Krasus?«

»Einen Ausflug in die Vergangenheit des jungen Edelmannes.«

»Ihr glaubt, dort werdet Ihr etwas Interessantes finden?«

Der vermummte Zauberer zuckte mit den Schultern. »Wir können nur darauf hoffen.«

Er entließ ihr Bild und lehnte sich zurück, um nachzudenken. Krasus bedauerte, dass er die Ratsmitglieder in die Irre leiten musste, auch wenn es zu ihrem eigenen Besten war. Wenigstens würden ihre Einmischungen in Deathwings »weltliche« Angelegenheiten zur Folge haben, dass der Schwarze abgelenkt wurde. Das verschaffte Krasus etwas mehr Zeit. Er betete nur, dass sich niemand sonst so weit vorwagen würde, wie es Drenden getan hatte. Die Kirin Tor würden ihre ganze Stärke benötigen, falls sich die anderen Königreiche gegen sie wandten.

Sein eigener Ausflug zu Malygos hatte wenig zufriedenstellend geendet. Malygos hatte nur versprochen, über sein Anliegen nachzudenken. Krasus vermutete, dass der Große Drache glaubte, er könne sich um Deathwing kümmern, sobald ihm die rechte Zeit dafür gekommen schien. Der silberblaue Leviathan erkannte nicht, dass Zeit ein Luxus war, den sich keiner der Drachen im Moment leisten konnte. Wenn Deathwing nicht jetzt gestoppt werden konnte, würde es vielleicht nie gelingen.

Womit Krasus nur eine Wahl blieb, die ihm wenig behagte.

»Ich muss es tun …« Er musste die anderen Großen aufsuchen, die anderen Kräfte. Konnte er einen von ihnen überzeugen, mochte er auch von Malygos die versprochene Hilfe erhalten.

Dennoch, die Unterstützung der Träumenden zu erringen, war eine schwierige Sache. Krasus beste Erfolgsaussichten bestanden in einer Kontaktaufnahme mit dem Herren der Zeit – dessen Diener das Ansinnen des Zauberers jedoch bereits mehr als einmal abgewiesen hatten.

Aber was konnte er anderes tun, als es erneut zu versuchen?

Krasus erhob sich und eilte auf ein Regal zu, auf dem eine Menge Gegenstände seiner Profession in Phiolen und Flaschen angeordnet standen. Sein Blick huschte über Reihe um Reihe von Gläsern und glitt dabei über Substanzen und magische Artefakte, auf die andere Angehörige der Kirin Tor voller Neid geschaut und sich vermutlich mehr als nur neugierig gefragt hätten, wie er in den Besitz der betreffenden Dinge gekommen war. Wenn sie jemals erkannten, wie lange er bereits in den Künsten bewandert war …

Da! Eine kleine Flasche, die eine einzelne vertrocknete Pflanze enthielt, ließ ihn inne halten.

Die Ewigkeitsrose. Nur an einem einzigen Platz auf der ganzen Welt war sie zu finden. Krasus hatte sie persönlich gepflückt, um sie seiner Herrin, seiner Liebe, zu schenken. Krasus hatte sie geschützt, als die Orks den Hort stürmten und, zu seiner völligen Verblüffung, sie und die anderen in die Gefangenschaft verschleppten.

Die Ewigkeitsrose. Fünf Blütenblätter von auffällig unterschiedlicher Farbgebung, die ein goldenes Rund in der Mitte umgaben. Als Krasus den Deckel der Flasche anhob, wurde ihm ein schwacher Duft entgegengetragen, der ihn unvermittelt an seine Jugendtage erinnerte. Mit einigem Zögern griff er hinein, nahm die verwelkte Blüte in die Hand …

… und staunte, als in dem Moment, da seine schlanken Finger sie berührten, sie plötzlich zu ihrem legendären Glanz zurückfand.

Feuerrot. Smaragdgrün. Schneesilber. Tiefseeblau. Mitternachtsschwarz. Jedes Blütenblatt erstrahlte in einer Schönheit, wie sie nur Künstler erträumen konnten. Kein anderer Gegenstand konnte ihre natürliche Schönheit übertreffen, keine andere Blume hatte einen so wundervollen Duft.

Krasus hielt für einen Moment den Atem an, bevor er die wunderbare Blüte zerquetschte.

Er ließ die Teile in seine andere Hand fallen. Ein Kribbeln breitete sich bis zu den Fingern hin aus, aber der Drachenmagier beachtete es nicht. Er hielt die Überreste hoch über seinen Kopf und murmelte Worte der Macht – dann warf er das, was von der sagenumwobenen Rose übrig war, auf den Boden.

Doch als die zerdrückten Blüten den Stein berührten, verwandelten sie sich plötzlich in Sand, Sand, der sich über den ganzen Kammerboden ausbreitete, die Kammer selbst füllte, über sie hinwegspülte, alles bedeckte, alles zerfraß …

… und Krasus unvermittelt in der Mitte einer endlosen, wirbelnden Wüste stehen ließ.

Solch eine Wüste jedoch hatte noch kein Sterblicher – oder Krasus – je erblickt. So weit das Auge reichte, lagen Reste von Gemäuern, zerbrochene und geschliffene Statuen sowie verrostete Waffen verstreut, und sogar – der Magier stand wie erstarrt davor – die halbvergrabenen Knochen eines riesenhaften Untiers, das zu Lebzeiten selbst Drachen zu Zwergen hätte verblassen lassen. Es gab auch Bauten, und obgleich man zunächst annehmen mochte, sie und all die Relikte um sie herum wären allesamt Teil ein und derselben Hochzivilisation, enthüllte ein zweiter Blick, dass kein Gebäude wirklich zum anderen gehörte. Ein schwankender Turm, wie er von den Menschen in Lordaeron hätte errichtet sein können, überschattete ein gewölbtes Bauwerk, das eindeutig den Zwergen zuzuordnen war. Etwas weiter entfernt zeugte ein Bogentempel mit eingestürztem Dach von Azeroths verlorenem Königreich. In Krasus' Nähe stand eine eher düstere Heimstatt, die Unterkunft irgendeines Ork-Häuptlings.

Ein Schiff, groß genug für gut ein Dutzend Männer, stand auf einer Düne, die hintere Hälfte unter Sand begraben. Rüstungen aus der Regierungszeit des ersten Königs von Stromgard bedeckten eine andere, kleinere Düne. Die gebeugte Statue eines Elfen-Priesters schien für die Rüstungen und das Schiff letzte Gebete zu sprechen.

Ein eindrucksvolles, unheimliches Bild, das selbst Krasus inne halten ließ. Tatsächlich ähnelte die Szenerie um den Zauberer herum der makabren Antiquitätensammlung einer mächtigen Gottheit … was gar nicht so weit an der Wahrheit vorbeiging.

Keines der Artefakte gehörte in dieses Reich, genau genommen hatte kein Volk, keine Zivilisation hier jemals das Licht der Welt erblickt. All die Wunder, die sich vor dem Zauberer offenbarten, waren äußerst akribisch und über einen Zeitraum von zahllosen Jahrhunderten von überall auf der Welt hier zusammengetragen worden. Krasus traute kaum seinen Augen, denn allein das Ausmaß des Unterfangens brachte seine Vorstellungskraft ins Wanken. So viele unglaublich massiv, so viele unglaublich zerbrechlich Relikte räumlich zu versetzen …

Doch ungeachtet all dessen, ungeachtet der Sensation, die sich seinen Augen bot, erwachte leichte Ungeduld in Krasus, während er wartete. Und wartete. Und immer länger wartete, ohne das geringste Zeichen dafür, dass irgend jemand seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte.

Seine Geduld, bereits durch die Ereignisse der vergangenen Wochen strapaziert, gelangte schließlich an ihr Ende.

Er richtete seinen Blick auf die steinernen Züge einer mächtigen Statue, halb Mensch, halb Stier, deren linker Arm nach vorne stieß, als fordere sie den Besucher auf, wieder zu gehen, und rief aus: »Ich weiß, dass Ihr hier seid, Nozdormu! Ich weiß es! Ich muss mit Euch sprechen!«

In dem Augenblick, da der Drachenmagier verstummte, kam Wind auf, wirbelte Sand durch die Luft und nahm ihm die Sicht. Krasus hielt dem ausgewachsenen Sandsturm stand, der unvermittelt über ihn hinwegfegte. Der Wind heulte so laut, dass der Magier sich die Ohren zuhalten musste. Der Sturm schien entschlossen, ihn hochzuheben und fortzuschleudern, doch der Zauberer kämpfte dagegen an und setzte sowohl Magie, als auch seine Körperkraft ein, um an Ort und Stelle zu bleiben. Er würde nicht weichen, nicht bevor er gesprochen hatte!

Schließlich schien der Sandsturm zu erkennen, dass er ihn nicht abschrecken konnte. Er entfernte sich von ihm und richtete seine Wucht nun gegen eine nicht weit entfernte Düne. Ein Staubtrichter stieg auf, und ragte bald höher und höher in den Himmel.

Der Trichter nahm Gestalt an … die Gestalt eines Drachen. Groß wie Malygos, bewegte und streckte die sandige Schöpfung ihre graubraunen Schwingen. Der Sand fuhr fort, die Ausmaße des Drachens zu vergrößern, doch es war ein Sand, der scheinbar mit Goldstaub vermischt war, denn mehr und mehr glitzerte der Leviathan, der sich vor Krasus formte, im gleißenden Licht der Wüstensonne.

Der Wind verebbte, dennoch verlor der drachenartige Gigant nicht ein einziges Sand- oder Goldkorn. Die Schwingen schlugen kräftig, und der Hals reckte sich empor. Augenlider öffneten sich und enthüllten funkelnde Edelsteine von der Farbe der Sonne.

»Korialstraszzzz …!«, spie der sandige Drache hervor. »Du wagssst es, meine Ruhe zu stören? Du wagssst es, meinen Frieden zu stören?«

»Ich wage es, weil ich es muss, oh großer Herr der Zeit!«

»Titel werden meinen Zorn nicht besssänftigen … Es wäre das Beste, wenn du gehst …« Die Edelsteine loderten hell auf. »… wenn du jetzt gehst!«

»Nein! Nicht, bevor ich zu Euch über eine Gefahr sprechen konnte, die alle Drachen betrifft! Alle Lebewesen!«

Nozdormu schnaubte. Eine Wolke aus Sand hüllte Krasus ein, doch seine Magie schützte ihn. Man konnte nie sicher sein, welcher Zauber im Reich von Nozdormu jedem noch so kleinen Sandkorn innewohnte. Ein wenig Sand mochte bereits ausreichen, um die Geschichte eines Drachen namens Korialstrasz umzugestalten. Krasus würde einfach aufhören zu existieren, und nicht einmal seine geliebte Herrin würde sich mehr an ihn erinnern.

»Drachen, sagst du? Wasss geht dich das an? Ich sehe nur einen Drachen hier und das issst sicherlich nicht der sterbliche Zauberer Krasusss – nicht mehr! Fort mit dir! Ich will zu meiner Sammlung zurückkehren! Du hast bereits zu viel meiner kossstbaren Zeit verschwendet!« Eine Schwinge strich behutsam über die Statue des Stiermannes. »Ssso viel zu sammeln, ssso viel zu ordnen …«

Es machte Krasus plötzlich wütend, dass sein Gegenüber, einer der Größten der fünf Kräfte, durch den die Zeit selbst strömte, dass dieser Drache sich nicht darum scherte, was in Gegenwart oder Zukunft geschah. Nur seine wertvolle Sammlung aus der Vergangenheit der Welt bedeutete dem Leviathan etwas.

Er sandte seine Diener aus, um zusammenzutragen, was immer sie finden konnten – nur, damit ihr Herr sich mit dem umgeben konnte, was einst gewesen war – und um das zu ignorieren, was war oder sein würde.

Nur, damit er auf seine ganz eigene Weise das Ende ihrer Art übergehen konnte, genau wie es auch Malygos tat.

»Nozdormu!«, schrie Krasus und forderte damit erneut die Aufmerksamkeit des glitzernden Sanddrachens ein. »Deathwing lebt!«

Zu seinem Entsetzen nahm Nozdormu diese schreckliche Nachricht ohne besondere Regung auf. Der goldbraune Gigant schnaubte erneut und schickte der kleineren Gestalt eine zweite Sandwolke entgegen. »Ja …und?«

Betroffen platzte es aus Krasus heraus: »Ihr … wisst es bereits?«

»Eine Frage, die nicht einmal eine Antwort wert issst. Nun, wenn es nichts anderes gibt, womit du mich belästigen willst, issst die Zeit für deine Abreise gekommen.« Der Drache hob den Kopf, und seine Juwelenaugen loderten auf.

»Wartet!« Auch noch den letzten Hauch von Würde aufgebend, schwenkte der Zauberer seine Arme hin und her. Zu seiner Erleichterung hielt Nozdormu inne, brach den Zauber ab, den er hatte anwenden wollen, um sich des lästigen Wurms zu entledigen. »Wenn Ihr wisst, dass der Dunkle lebt, wisst Ihr auch, was er beabsichtigt! Wie könnt Ihr das übergehen?«

»Weil, wie alle Dinge, Deathwing mit der Zeit vergehen wird … selbst er wird schließlich einmal ein Teil … meiner Sammlung …«

»Aber wenn Ihr Euch zusammenschließt …«

»Du hattessst deine Zeit zu sprechen.« Der glitzernde Sanddrachen erhob sich höher; Wüstensand wurde aufgewirbelt, der ihn an Größe und Gestalt noch zunehmen ließ. Von den Winden losgerissen, vereinten sich einige der kleineren Objekte aus Nozdormus bizarrer Sammlung mit dem Sand und wurden vorübergehend selbst ein Teil des Drachens. »Nun lass mich allein …«

Die Winde umpeitschten Krasus – nur Krasus. So sehr er es auch versuchte, gelang es dem Drachenzauberer diesmal nicht, aufrecht stehen zu bleiben. Er stolperte nach hinten, wurde wieder und wieder von den grimmigen Windböen attackiert.

»Ich kam her um unser aller Willen!« gelang es ihm zu schreien.

»Du hättessst meine Ruhe nicht ssstören sollen. Du hättesst überhaupt nicht kommen sollen …« Die funkelnden Edelsteine flammten neuerlich auf. »Das wäre wirklich das Bessste für uns alle gewesen …«

Eine Säule aus Sand schoss aus dem Boden und umfing den hilflosen Zauberer. Krasus konnte nichts mehr sehen, und das Atmen wurde unmöglich. Er versuchte, einen Zauber zu wirken, um sich zu schützen, doch gegen die Macht einer der Kräfte, gegen den Herren der Zeit, erwiesen sich selbst seine beträchtlichen Fähigkeiten als nichtig.

Nach Luft ringend, gab Krasus schließlich auf. Sein Bewusstsein schwand, er sank zu Boden …

… und sah voller Schrecken, wie die Blüten der Ewigkeitsrose, ohne das geringste zu bewirken, auf den Steinboden seines Sanktuariums fielen.

Der Zauber hätte wirken sollen! Krasus hätte ins Reich von Nozdormu, dem Herren der Jahrhunderte, gebrachte werden sollen. So wie Malygos die Magie selbst verkörperte, so stellte Nozdormu Zeit und Zeitlosigkeit dar. Als einer der Größten der fünf Kräfte hätte er einen machtvollen Verbündeten abgegeben, vor allem wenn sich Malygos plötzlich entscheiden sollte, erneut in den Wahnsinn abzudriften. Ohne Nozdormu schwanden Krasus' Aussichten auf Erfolg erheblich …

Niederkniend sammelte der Magier die Blütenblätter ein und wiederholte den Zauber. Seine Bemühungen wurden Krasus nur mit furchtbaren Kopfschmerzen vergolten. Wie konnte das bloß sein? Er hatte alles richtig gemacht! Der Zauber hätte wirken müssen … es sei denn, Nozdormu hatte irgendwie Wind von der Absicht des Magiers bekommen, bei ihm vorstellig werden zu wollen, und hätte einen Gegenzauber ausgesprochen, um Krasus davon abzuhalten, sein sandiges Reich zu betreten.

Krasus fluchte. Ohne die Möglichkeit, Nozdormu zu besuchen, gab es keine Hoffnung mehr, auch wenn sie ohnehin von Anfang an sehr gering gewesen sein mochte, den mächtigen Drachen für seine Pläne zu gewinnen. Damit blieb nur die Träumende übrig … die Flüchtigste aller Kräfte und die Einzige, die er in seinem ganzen langen Leben noch niemals gesprochen hatte.

Krasus wusste nicht einmal, wie er sie erreichen konnte, denn es hatte mehr als einmal geheißen, dass Ysera nicht ganz von dieser Welt sei – dass für sie die Träume die Wirklichkeit darstellten.

Die Träume stellten die Wirklichkeit dar?

Ein verzweifelter Plan reifte in dem Zauberer, einer, der ihn, wäre er ihm von seinen Ratsfreunden vorgeschlagen worden, seine üblichen Umgangsformen hätte vergessen und laut auflachen lassen. Wie schlichtweg lächerlich! Wie schlichtweg hoffnungslos!

Doch letztlich war es ebenso wie mit Nozdormu: Welche Wahl blieb ihm schon?

Krasus wandte sich wieder seinen Tränken, Artefakten und Pülverchen zu und suchte nach einer schwarzen Phiole. Er fand sie rasch, obgleich er sie länger als ein Jahrhundert nicht angefasst hatte. Das letzte Mal, als er sie zur Anwendung brachte, hatte er sie gebraucht, um zu besiegen, was als unbesiegbar galt. Jetzt hingegen war er nur darauf aus, sich eine ihrer bösartigsten Eigenschaften zunutze zu machen, und er hoffte, dass er sich dabei nicht verschätzte.

Drei Tropfen auf der Spitze eines einzelnen Bolzens hatten Manta, den Giganten aus der Tiefe, vernichtet. Drei Tropfen hatten eine Kreatur niedergestreckt, die von der zehnfachen Größe und Stärke eines Drachen war. Wie Deathwing hatte man auch von Manta geglaubt, er sei von nichts und niemanden aufzuhalten.

Und jetzt beabsichtigte Krasus ein wenig von dem Gift selbst einzunehmen.

»Der tiefste Schlaf, die tiefsten Träume …«, murmelte er zu sich selbst, während er die Phiole herunternahm. »Das ist der Ort, an dem sie sein wird, das ist der Ort, an dem sie sein muss

Von einem anderen Regal nahm er eine Tasse und eine kleine Flasche reinen Wassers. Der Drachenmagier füllte die Tasse mit einem einzelnen Schluck und öffnete dann die Phiole. Mit größter Vorsicht näherte er das offene Fläschchen der Tasse.

Drei Tropfen, um den Manta in Sekunden umzubringen. Wie viele Tropfen würden Krasus zu der Tückischsten seiner Reisen verhelfen?

Schlaf und Tod … sie waren sich so ähnlich, ähnlicher als die meisten es begriffen. Gewiss würde er Ysera dort finden.

Der winzigste Tropfen, den er abzumessen vermochte, fiel lautlos ins Wasser hinein. Krasus verschloss die Phiole wieder, dann nahm er die Tasse.

»Eine Bank«, murmelte er. »Am besten auf einer Bank …«

Sogleich entstand eine in seinem Rücken, eine gut gepolsterte Bank, auf der sich der König von Lordaeron mit Freuden zur Ruhe gelegt hätte. Auch Krasus beabsichtigte, gut auf ihr zu schlafen … vielleicht für immer.

Er setzte sich nieder und hob die Tasse an die Lippen. Doch bevor er sich überwinden konnte, den vielleicht letzten Schluck seines Lebens zu nehmen, brachte er einen Trinkspruch aus.

»Auf Euch, meine Alexstrasza, für ewig nur auf Euch!«


»In Ordnung, irgendjemand war hier«, murmelte Vereesa und betrachtete den Boden. »Einer von ihnen war ein Mensch … bei dem anderen bin ich mir nicht sicher.«

»Bitte erklärt mir mal, woran Ihr den Unterschied erkennt«, drängte Falstad schielend. Er konnte eine Spur nicht von der anderen unterscheiden. Genau genommen konnte er nicht einmal die Hälfte von dem erkennen, was die Elfe sah.

»Schaut her. Ein Stiefelabdruck.« Sie deutete auf einen kurvenförmigen Abdruck im Dreck. »Das sind Stiefel nach Menschenart, eng sitzend und unbequem.«

»Wenn Ihr es sagt. Und der andere … den anderen könnt Ihr nicht zuordnen?«

Die Waldläuferin richtete sich auf. »Nun, es sind eindeutig keine Hinweise auf einen Drachen zu entdecken, aber es gibt Spuren hier, die gar nichts mir Bekanntem entsprechen.«

Sie wusste, dass Falstad auch hier nicht sah, was ihrem geschärften Blick ins Auge sprang. Der Zwerg tat jedoch sein Bestes, um die eigenartigen, streifenförmigen Abdrücke in der Erde zu inspizieren. »Ihr meint diese hier, meine Elfendame?«

Die Spuren schienen auf die Stellen, wo der Mensch – wahrscheinlich Rhonin – zu unterschiedlichen Zeiten gestanden hatte, zuzuführen. In Vereesas Augen sah es so aus, als hätte etwas über dem Boden Schwebendes etwas anderes hinter sich her geschleift.

»Das hier bringt uns keinen Schritt weiter, genau wie die Stelle, zu der uns dieser kleine grüne Unhold zuerst geführt hat!« Falstad packte Kryll am Kragen. Dem Goblin waren beide Hände auf den Rücken gebunden worden, und um seine Hüfte schlang sich ein Seil. Ein Seil, dessen anderes Ende am Hals des Greifen befestigt war. Und trotzdem waren weder Vereesa noch der Zwerg überzeugt, dass ihr unerwünschter Gefährte nicht versuchen würde zu entkommen. Besonders Falstad behielt Kryll sorgfältig im Auge. »Nun? Was jetzt? Ich habe den Eindruck, du führst uns im Kreise! Ich bezweifle, dass du den Zauberer überhaupt gesehen hast!«

»Hab ich, hab ich, doch, hab ich!« Kryll schenkte ihnen ein breites Lächeln, möglicherweise in der Hoffnung, seine Häscher milde zu stimmen, doch das zähnefletschende Grinsen eines Goblins vermochte außerhalb seines Volkes kaum jemanden zu beeindrucken. »Hab ihn beschrieben, oder? Ihr wisst, dass ich ihn sah, nicht wahr?«

Vereesa bemerkte, dass der Greif etwas hinter einem Gebüsch witterte. Mit Hilfe ihres Schwertes schob sie das Laubwerk beiseite und brachte das fragliche Objekt zum Vorschein.

An der Spitze ihres Schwertes hing ein leerer Weinschlauch. Die Elfe hielt ihn sich unter die Nase. Ein wundervolles Bouquet stieg daraus hervor. Die Elfe schloss kurz ihre Augen.

Falstad verstand ihren Ausdruck falsch. »So übel? Dann muss es Zwergenbier sein!«

»Im Gegenteil, mir ist noch nie solch ein wundervolles Aroma begegnet, nicht einmal am Tisch meines Herren daheim in Quel'Thalas. Was immer für ein Wein diesen Schlauch füllte, er übertraf selbst die besten Tropfen in seinen Kellern noch um einiges!«

»Und das sollte meinem müden Geist was sagen …?«

Vereesa ließ den Schlauch fallen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber irgendwie erscheint es mir, als bedeute dies, dass Rhonin hier gewesen sein muss, selbst wenn nur für kurze Zeit.«

Ihr Gefährte warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Meine Elfendame, ist es möglich, dass Ihr Euch schlicht wünscht, dies wäre die Wahrheit?«

»Könnt ihr mir beantworten, wer sonst in dieser Gegend gewesen sein könnte, um einen Wein, der sogar Königen gerecht würde, zu trinken?«

»Aye! Der Dunkle – nachdem er Eurem Zauberer das Mark aus den Knochen gesaugt hat!«

Seine Worte jagten ihr einen kalten Schauer über den Rücken, doch sie blieb standhaft in ihrem Glauben. »Nein. Sollte Deathwing Rhonin bis hierher gebracht haben, dann hatte er dafür einen anderen Grund als den, ihn zu verspeisen!«

»Mag wohl sein.« Weiterhin den Goblin festhaltend, blickte Falstad hinauf in den dunkler werdenden Himmel. »Wenn wir vorhaben, vor Einbruch der Nacht noch wesentlich weiter zu kommen, sollten wir uns besser auf den Weg machen.«

Vereesa hielt die Spitze ihrer Klinge gegen Krylls Kehle. »Wir müssen uns erst um den hier kümmern.«

»Was gibt es da zu kümmern? Entweder nehmen wir ihn mit oder wir erweisen der Welt einen Gefallen und sorgen dafür, dass sie sich künftig um einen Goblin weniger zu sorgen hat!«

»Nein. Ich versprach, ihn freizulassen.«

Der Zwerg runzelte die kantige Stirn. »Ich glaube nicht, dass das eine weise Entscheidung ist.«

»Trotzdem habe ich ein Versprechen gegeben.« Sie fasste ihn scharf ins Auge und baute darauf, dass Falstad – wenn er Elfen auch nur halb so gut verstand, wie dies aus eigenem Interesse sollte – die Sinnlosigkeit einer Fortsetzung dieses Streits einsehen würde.

Tatsächlich nickte der Greifenreiter – wenn auch mit einigem Widerstreben. »Aye, es sei wie Ihr sagt. Ihr habt ein Versprechen gegeben, und ich werde nicht derjenige sein, der Euch umzustimmen versucht.« Halb in seinen Bart gemurmelt, fügte er hinzu. »Nicht, solange ich auch nur ein einziges Leben besitze …«

Zufrieden durchtrennte Vereesa mit einem gekonnten Schnitt die Fesseln um Krylls Handgelenke, dann nahm sie das Seil von seiner Hüfte. Der Goblin hüpfte hemmungslos hin und her, schien überglücklich über seine Freilassung zu sein.

»Habt Dank, meine wohlwollende Herrin, habt Dank!«

Die Waldläuferin richtete erneut die Spitze ihres Schwertes auf die Kehle des Geschöpfs. »Bevor du jedoch verschwindest, noch ein paar letzte Fragen. Kennst du den Weg nach Grim Batol?«

Falstad nahm diese Frage nicht besonders gut auf. Mit zusammengezogenen Brauen murmelte er: »Was soll das werden?«

Sie überhörte die Frage geflissentlich. »Nun?«

Im Augenblick ihrer Fragestellung waren Krylls Augen groß geworden. Der Goblin wurde kreidebleich – oder zumindest nahm seine Haut einen helleren Grünton an. »Niemand geht nach Grim Batol, wohlwollende Herrin! Da sind Orks und auch Drachen! Drachen fressen Goblins!«

»Beantworte meine Frage.«

Er schluckte, dann rückte sein überdimensionaler Kopf auf und ab. »Ja, Herrin, ich kenne den Weg … Glaubt Ihr, der Zauberer ist dort?«

»Das kann nicht Euer Ernst sein, Vereesa!«, knurrte Falstad, so aufgebracht, dass er sie zum ersten Mal bei ihrem Namen nannte. »Wenn Rhonin in Grim Batol ist, dann ist er für uns verloren!«

»Vielleicht … vielleicht nicht. Falstad, ich denke, dass er die ganze Zeit genau dort hin wollte, und nicht allein, um die Orks auszuspionieren. Ich denke, er hat andere Gründe … auch wenn ich nicht zu sagen vermag, wie sie mit Deathwing zusammenhängen.«

»Vielleicht hat er vor, die Drachenkönigin im Alleingang zu befreien!«, gab der Greifenreiter mit höhnischem Schnauben zurück. »Er ist immerhin ein Magier, und wie jeder weiß, sind die alle verrückt

Eine vollkommen törichte Bemerkung – doch sie ließ Vereesa für einen Moment inne halten. »Nein … das kann nicht sein.«

Kryll schien unterdessen damit beschäftigt, über etwas ernsthaft nachzudenken, etwas, dass ihm nicht zu gefallen schien.

Mit unwillig verzogenem Gesicht murmelte er schließlich: »Die Herrin will nach Grim Batol gehen?«

Die Waldläuferin spielte mit dem Gedanken. Es ging weit über ihren Eid hinaus, aber sie musste einfach weitermachen. »Ja. Ja, ich denke, das will ich.«

»Jetzt passt mal gut auf, meine …«

»Ihr müsst nicht mitkommen, wenn Ihr nicht wollt, Falstad. Ich danke Euch für Eure Hilfe bis hierher, aber ich kann jetzt auch alleine weitermachen.«

Der Zwerg schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich soll Euch alleine mit diesem fragwürdigen kleinen Burschen inmitten der Ork-Lande zurücklassen? Niemals, meine Elfendame! Falstad wird keine schöne Maid, wie gut sie das Kriegshandwerk auch verstehen mag, allein lassen. Wir gehen zusammen!«

In Wahrheit war sie ihm für seine Treue mehr als dankbar. »Dennoch mögt Ihr zu jedem Zeitpunkt immer noch umkehren, wenn es Euch danach verlangt – denkt bitte daran.«

»Das werde ich nur, wenn Ihr dann auch mit mir kommt.«

Sie blickte erneut Kryll an. »Nun? Kannst du mir den Weg beschreiben?«

»Kann ihn Euch nicht beschreiben, Herrin.« Das Gesicht der spindeldürren Kreatur nahm einen zunehmend missmutigen Ausdruck an. »Am besten … am besten ich zeige ihn Euch stattdessen …«

Das überraschte sie. »Ich habe dir die Freiheit geschenkt, Kryll!«

»Wofür Euch dieser arme Kerl endlos dankbar ist, Herrin … aber nur ein einziger Weg nach Grim Batol bietet Sicherheit, und ohne mich …«, er wagte einen ansatzweise selbstzufriedenen Blick, »… werden weder Elf noch Zwerg ihn finden.«

»Wir haben mein Reittier, du kleiner Nager! Wir fliegen einfach über …«

»In einem Land voll Drachen?« Der Goblin kicherte mit einem Hauch von Irrsinn. »Am besten fliegt Ihr gleich in ihr Maul, und vorbei ist es … Nein, um Grim Batol zu betreten – wenn es das ist, was die Herrin wirklich wünscht – müsst Ihr mir folgen.«

Falstad wollte davon nichts hören und erhob umgehend Einspruch, doch Vereesa sah keine andere Möglichkeit als die zu tun, was der Goblin vorgeschlagen hatte. Kryll hatte sie bis jetzt nicht hintergangen, und obwohl sie ihm natürlich nicht vollständig vertraute, war sie sich sicher, dass sie es bemerken würde, wenn er sie zu täuschen versuchte. Abgesehen davon wollte der Goblin offenkundig nichts mit Grim Batol zu tun haben, denn weshalb sonst hätte er sich dort herumgetrieben, wo sie ihn gefunden hatten? Alle anderen seiner Art, die den Orks dienten, hielten sich innerhalb der Bergfeste auf und streunten nicht durch die gefährliche Wildnis von Khaz Modan.

Und wenn er sie doch zu Rhonin führen konnte …

Nachdem sie sich selbst von der Richtigkeit ihrer Wahl überzeugt hatte, wandte sich Vereesa dem Zwerg zu. »Ich werde mit ihm gehen, Falstad. Es ist die beste – wahrscheinlich auch die einzige – Möglichkeit, die mir zur Verfügung steht.«

Falstads breite Schultern sanken ein, und er seufzte. »Was ich jetzt sage, widerspricht jeder Vernunft, aber, aye, ich werde Euch begleiten – und sei es auch nur, um ein Auge auf den da zu halten, sodass ich ihm seinen verräterischen Kopf abschlagen kann, sollte ich Recht behalten!«

»Kryll, müssen wir die ganze Strecke zu Fuß zurücklegen?«

Die missgestaltete kleine Person überlegte für einen Augenblick und erwiderte dann: »Nein. Können eine Weile mit dem Greifen reisen.« Er schenkte ihr ein Lächeln voller Zähne. »Muss nur aufpassen, wann Biest landen sollte!«

Ungeachtet seiner offensichtlichen Bedenken begab sich Falstad zu dem Greifen. »Sag uns nur, wo wir hin müssen, du kleiner Nager. Je schneller wir dort sind, desto schneller kannst du dich trollen …«

Das Gewicht des Goblins erhöhte die Last des kräftigen Tieres kaum, und bald darauf war der Greif unterwegs. Falstad saß natürlich vorne, um sein Reittier besser lenken zu können. Kryll hockte hinter ihm, und Vereesa bildete den Abschluss. Die Elfe hatte ihr Schwert zurück in die Scheide geschoben und einen Dolch gezückt, nur für den Fall, dass ihr nicht sonderlich vertrauenswürdiger Begleiter irgend etwas versuchen würde.

Doch auch wenn die Richtungsangaben des Goblins nicht immer die eindeutigsten waren, fand Vereesa kein Anzeichen für ein falsches Spiel. Er lotste sie dicht über den Boden und zeigte ihnen Wege abseits von Gebieten, die keinerlei Deckung boten. Die Berge von Grim Batol kamen näher. Vereesas Anspannung wuchs, je näher sie dem Ziel kamen, allerdings hatten sie noch immer kein Anzeichen von Rhonin oder dem schwarzen Drachen entdeckt. Sicherlich hätten die Orks so nahe bei ihrer Bergfeste einen Leviathan von solch gewaltigen Ausmaßen gesichtet.

Und als reichte es aus, an Drachen zu denken, um sie heraufzuschwören, deutet Falstad plötzlich Richtung Osten, wo sich eine mächtige Gestalt in den Himmel schwang.

»Groß!«, rief er. »Groß und rot wie frisches Blut! Ein Späher von Grim Batol!«

Kryll handelte sofort. »Hier rein!« Der Goblin deutete auf eine Schlucht. »Viele Plätze zum Verstecken, selbst für einen Greifen!«

In Ermangelung einer besseren Idee gehorchte der Zwerg und lenkte sein Reittier abwärts. Die Drachengestalt wurde größer und größer, doch Vereesa erkannte, dass das rote Ungeheuer sich mehr in nördliche Richtung bewegte, möglicherweise geradewegs zur nördlichen Grenze von Khaz Modan, wo die letzten Streitkräfte der Horde verzweifelt versuchten, die Allianz aufzuhalten. Das ließ sie über die Lage dort grübeln. Hatten die Menschen endlich mit ihrem Vormarsch begonnen? Befand sich vielleicht auch die Allianz gerade in diesem Moment schon auf halbem Weg nach Grim Batol?

Selbst wenn dem so war, würden daraus für die Waldläuferin und den Zwerg kaum Vorteile erwachsen. Die näher kommende Allianz konnte ihnen höchstens insofern dienlich sein, als dass sie die Aufmerksamkeit der Orks auf sich zog.

Der Greif landete in der Schlucht und tauchte mit dem ihm eigenen Gespür in die Schatten ein. Er war kein Feigling, wusste aber, wann der rechte Zeitpunkt war, einem Kampf aus dem Weg zu gehen.

Vereesa und die anderen sprangen ab, um sich eigene Verstecke zu suchen. Kryll presste sich gegen eine der Felswände, und sein Gesichtsausdruck zeugte von blankem Entsetzen. In der Waldläuferin erwachte tatsächlich Mitleid mit ihm.

Sie warteten einige Minuten, doch der Drache flog nicht über sie hinweg. Nach einer, wie es schien, viel zu langen Zeitspanne entschied sich die ungeduldige Waldläuferin, selbst nachzusehen, ob das Untier seine Richtung geändert hatte. Sie suchte nach festem Halt und begann nach oben zu klettern.

Der Himmel war in Dämmerschein getaucht, und die Elfe entdeckte nichts, nicht einmal einen verschwommenen Flecken. Vereesa vermutete, dass sie die Schlucht längst wieder hätten verlassen können, wenn sie schon etwas früher einen Blick riskiert hätten.

»Nichts zu erkennen?«, wisperte Falstad, der neben ihr erschien. Für einen Zwerg erwies er sich als erstaunlich geschickt im Erklettern von Steilwänden.

»Die Luft ist rein, zumindest soweit ich es überblicken kann.«

»Gut! Im Gegensatz zu meinen Hügelverwandten kann ich mich nämlich für Löcher im Boden nur schwer erwärmen!« Er machte sich wieder auf den Weg nach unten. »Alles in Ordnung, Kryll! Die Gefahr ist vorbei! Du kannst wieder hervorgekrochen kommen …«

Als seine Stimme abbrach, wurde Vereesa aufmerksam. »Was ist?«

»Diese verfluchte Ausgeburt eines Froschs ist verschwunden!« Falstad rutschte das letzte Stück, das ihn vom Boden trennte, hinunter. »Hat sich aufgelöst wie ein Spuk!«

Die Waldläuferin sprang vorsichtig nach unten und unterstützte Falstad bei seiner Suche in der unmittelbaren Umgebung. Es gab keine Spur von Kryll, obwohl sie eigentlich hätten imstande sein müssen, den flüchtenden Goblin nach jeder Richtung hin auszumachen. Selbst der Greif wirkte verwirrt, als wäre es auch ihm rätselhaft, wie sich die spindeldürre Kreatur unbemerkt davongemacht haben sollte.

»Wie konnte er so einfach verschwinden?«

»Ich wünschte, ich wüsste es, meine Elfendame! Ein sauberes Kunststückchen!«

»Kann Euer Greif ihn sich schnappen?«

»Warum lassen wir ihn nicht einfach ziehen? Wir sind ohne ihn besser dran!«

»Weil ich …«

Der Boden unter ihren Füßen gab plötzlich nach und brach ein. Die Stiefel der Elfe sanken binnen Sekunden ein. In dem Glauben, dass sie in Schlamm getreten war, versuchte sie, sich zu befreien. Dabei sank Vereesa jedoch nur noch tiefer ein, und zwar mit Besorgnis erregender Geschwindigkeit. Es fühlte sich beinahe so an, als wurde sie hinab gezogen.

»Was im Namen des Adlerhorsts …?« Auch Falstad war eingesunken, doch im Fall des Zwergs bedeutete dies, dass er unvermittelt bis zu den Knien im Erdreich steckte. Wie die Waldläuferin versuchte auch er, sich herauszuwinden, scheiterte aber ebenso kläglich.

Vereesa griff nach dem nächstbesten Felsen und versuchte, sich daran festzuhalten. Einen Augenblick schien es ihr zu gelinge; sie konnte ihre Sinkgeschwindigkeit verlangsamen. Doch dann schien etwas Kräftiges nach ihren Fußgelenken zu fassen und sie mit solcher Gewalt nach unten zu ziehen, dass die Waldläuferin den vorübergehenden Halt aufgeben musste.

Über ihren Köpfen hörten sie ein furchtsames Kreischen. Im Gegensatz zu Vereesa und dem Zwerg war es dem Greifen gelungen, noch rechtzeitig aufzusteigen, bevor auch er vom Sog erfasst wurde. Das Tier flatterte über Falstads Kopf und versuchte, wie es schien, seinen Herren zu packen. Als es jedoch tiefer sank, schossen ihm jedoch plötzlich Säulen aus Dreck entgegen und versuchten, wie Vereesa mit Grauen erkannte, nach dem Reittier zu greifen. Nur mit knapper Not vermochte das geflügelte Tier entkommen, wurde aber gezwungen, hoch in die Lüfte zu steigen, wo es den beiden um ihr Leben kämpfenden Kriegern keine Hilfe mehr leisten konnte.

Daraufhin hatte Vereesa nicht mehr die geringste Idee, wie sie dem drohenden Verhängnis noch entkommen sollten. Die Erde reichte ihr bereits bis zur Hüfte, und der Gedanke, lebendig begraben zu werden, machte selbst die Elfe nervös – im Gegensatz zu Falstad schien ihre eigene Lage jedoch erst halb so dramatisch zu sein. Der kleinere Wuchs des Zwergen bedeutete für ihn, dass er bereits Schwierigkeiten hatte, seinen Kopf über dem Erdreich zu halten. So sehr es der Greifenreiter auch versuchte, nicht einmal seine unglaubliche Stärke konnte ihm in dieser Situation helfen. Er grub verzweifelt in der nachgiebigen Erde und warf Hände voller Dreck zur Seite, aber all dies half nicht im geringsten.

Verzweifelt streckte die Waldläuferin ihre Hand aus. »Falstad! Meine Hand! Versucht sie zu ergreifen!«

Er versuchte es. Sie versuchten es beide. Doch die Entfernung zwischen ihnen war zu groß geworden. Mit wachsendem Grauen sah Vereesa zu, wie ihr kämpfender Gefährte unaufhaltsam in die Erde gezogen wurde.

»Mein …«, war alles, was er noch sagen konnte, dann war er verschwunden.

Mittlerweile bis zur Brust versunken, erstarrte sie für einen Augenblick und blickte auf den kleinen Erdhügel, der alles darstellte, was von dem Zwerg übrig geblieben war. Die Stelle zitterte nicht einmal. Kein letztes Hervorbrechen einer Hand, kein wildes Strampeln in der Tiefe.

»Falstad …«, murmelte sie.

Ein erneuter Zug an ihren Fußgelenken zerrte sie tiefer. Genau wie der Zwerg griff Vereesa nach der sie umgebenden Erde, grub tiefe Furchen mit ihren Fingern, ohne einen erkennbaren Erfolg zu erzielen. Ihre Schultern versanken. Sie reckte den Kopf so weit sie konnte. Von dem Greif war nichts zu sehen, doch eine andere Gestalt, allzu bekannt, lugte aus einer schmalen Spalte, die der Elfe entgangen war. Selbst im schwindenden Licht konnte sie Krylls zähnefletschendes Grinsen sehen.

»Vergebt mir, meine Herrin, aber der Dunkle besteht darauf, dass sich niemand einmischt, und daher übertrug er mir die Aufgabe, für Euren Tod zu sorgen! Ein niederes Stück Arbeit und eines, das einem klugen Kopf wie mir unwürdig ist, aber mein Meister hat bedauerlicherweise ziemlich große Zähne und äußerst scharfe Klauen. Ich konnte es ihm unmöglich abschlagen, nicht wahr?« Sein Grinsen wuchs in die Breite. »Ich hoffe, Ihr versteht das …«

»Sei verdammt …!«

Der Boden verschlang sie. Erde füllte den Mund der Elfe und kroch selbst, wie es schien, in ihre nach Luft ringenden Lungen. Sie verlor das Bewusstsein.

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