17

An irgendeiner Stelle auf dem Weg in sein Gefängnis war Rhonin wieder bewusstlos zusammengebrochen. Allerdings waren seine Bewacher darin nicht unschuldig gewesen. Sie hatten keine Gelegenheit ausgelassen, ihm die Arme zu verdrehen oder ihn zu schlagen. Die Schmerzen in seinem kleinen Finger waren im Vergleich zu dem, was ihm die Orks antaten, bis er ohnmächtig wurde, ins Bedeutungslose verblasst.

Aber jetzt wachte Rhonin auf – und fand sich einem neuen Albtraum gegenüber. Ein flammender Schädel mit schwarzen Augenhöhlen grinste ihn bösartig an.

Instinktiv versuchte der erschrockene Zauberer, sich von der monströsen Fratze abzuwenden, doch das brachte ihm nur noch mehr Schmerz ein und die Erkenntnis, dass seine Hand- und Fußgelenke mit Schellen gefesselt waren. Er hatte keine Chance, dem über ihm befindlichen dämonischen Horrorwesen zu entkommen.

Aber der Dämon rührte sich nicht. Langsam bezwang Rhonin seinen Schrecken und betrachtete die bewegungslose Kreatur genauer. Viel größer und breiter als ein Mensch, schien sie eine Rüstung aus brennenden Knochen zu tragen. Das zähnebleckende Grinsen hatte einfach den Grund, dass sein dämonischer Bewacher kein Fleisch besaß, das seinen Schädel bedeckt hätte. Er war von Feuer umgeben, und obwohl Rhonin keine Hitze fühlen konnte, die davon ausging, war er überzeugt, dass die Berührung dieser feurigen Knochenhände ausgesprochen schmerzvoll sein würde. Weil ihm nichts Besseres einfiel, sprach Rhonin die Kreatur an.

»Was …wer bist du?«

Keine Antwort. Vom Flackern der Flammen abgesehen, blieb die makabre Gestalt regungslos.

»Kannst du mich hören?«

Wieder nichts.

Mit nun deutlich weniger Angst, dafür umso größerer Neugier, lehnte sich der Zauberer soweit nach vorn, wie seine Fesseln es ihm erlaubten. Probeweise schob er ein Bein vor und zurück. Immer noch erfolgte keine Reaktion, nicht einmal ein Blick in seine Richtung.

So schrecklich diese Gestalt auch aussah, wirkte sie doch mehr wie eine Statue als ein Lebewesen. Trotz seines dämonischen Aussehens konnte es kein Dämon sein. Rhonin hatte Golems studiert, aber noch nie einen gesehen, jedenfalls keinen, der unentwegt brannte. Doch es konnte sich um nichts anderes handeln.

Er runzelte die Stirn, als er über die Fähigkeiten nachdachte, die dieses Ungetüm wohl sein eigen nennen mochte. Es gab nur einen Weg, mehr darüber zu erfahren: Flucht!

Er versuchte die Schmerzen zu ignorieren, als er seine unverletzten Finger vorsichtig bewegte, um einen Spruch zu weben, der ihn, so betete er, von dem monströsen Wächter befreien würde …

Da streckte der Golem mit verblüffender Schnelligkeit seine Hand aus und bekam Rhonins ohnehin schon lädierten Finger zu fassen.

Der Griff war eisern.

Ein sengendes Feuer umschloss den Menschen, doch es war ein inneres Feuer, eines, das seine Seele verbrannte. Rhonin schrie wieder und wieder. So lange und laut, bis er nicht mehr schreien konnte.

Kaum noch bei Bewusstsein, fiel sein Kopf zur Seite, und er betete, dass das Feuer entweder aufhören oder ihn vollends verschlingen möge.

Der Golem zog seine Hand zurück.

Die Flammen in Rhonins Inneren erstarben. Er schnappte nach Luft und schaffte es, den Kopf so weit zu heben, dass er den tödlichen Wächter ansehen konnte. Die groteske Physiognomie des Golems starrte ihn an, völlig unberührt von der Folter, die er seinem Opfer angetan hatte.

»Verdammt – verdammt sollst du sein …!«

Hinter dem Golem ertönte ein bekannt klingendes Glucksen, das dem Magier die Haare zu Berge stehen ließ.

»Böse, böse!«, schrillte die hohe Stimme. »Wenn du mit Feuer spielst, wirst du dich daran verbrennen!«

Rhonin neigte den Kopf zur Seite – zuerst sehr vorsichtig, dann, als er sah, dass sein monströser Wächter nicht reagierte, mit weniger Zurückhaltung. Nahe beim Eingang stand der drahtige Goblin, den Nekros Kryll genannt hatte; derselbe Goblin, von dem Rhonin wusste, dass er auch für Deathwing arbeitete.

Tatsächlich trug Kryll auch jetzt das Medaillon mit dem schwarzen Kristall bei sich. Fast fand der Zauberer die Arroganz Krylls bewundernswert. Nekros würde sich doch mit Sicherheit fragen, warum sein Diener Rhonins Amulett behalten hatte.

Kryll fing seinen Blick auf. »Meister Nekros hat dich nie damit gesehen, Mensch – und wir Goblins haben eine Vorliebe für hübsche Schmuckstücke!«

Es musste noch andere Gründe geben. »Er ist auch zu beschäftigt, um es zu bemerken, nicht wahr?«

»Schlau, Mensch, sehr schlau! Und wenn du es ihm sagen würdest, würde er nicht zuhören. Armer, armer Meister Nekros! Er hat viel zu tun! Drachen- und Eier-Umzüge machen ganz schön Arbeit, weißt du?«

Der Golem schien sich überhaupt nicht um Krylls Anwesenheit zu scheren, doch das überraschte Rhonin nicht. Er würde Kryll nur angreifen, wenn dieser versuchte, den Zauberer zu befreien.

»Also dienst du Deathwing …«

Der Goblin verzog unwillkürlich das Gesicht. »Seine Befehle habe ich befolgt … ja. Sehr, sehr lange …«

»Warum bist du gekommen? Ich habe doch meinen Zweck für deinen Herrn erfüllt, oder? Ich habe den Narren gut für ihn gespielt, nicht wahr?«

Das schien Kryll aus irgendeinem Grund zu erheitern. Mit einem breiten Grinsen antwortete er: »Es hätte keinen größeren Narren geben können, denn du hast nicht nur für den dunklen Herrscher den Narren gespielt, sondern auch für mich, Mensch!«

Rhonin fiel es schwer, ihm zu glauben. »Wie habe ich das angestellt? Auf welche Art sollte ich dir dienlich gewesen sein, Goblin?«

»Auf sehr ähnliche Weise, wie du auch dem Dunklen Herrscher gedient hast – der Goblins für so dumm hält, dass sie jedem Herren ohne eigene Absichten dienen!« Ein Hauch von Bitterkeit zog über Krylls Gesicht. »Aber ich habe genug gedient, das habe ich!«

Rhonin fürchte die Stirn. Konnte es sein, dass der verrückte kleine Kerl tatsächlich meinte, was der Zauberer glaubte, dass er meinte? »Du planst, sogar den Drachen zu verraten …? Wie?«

Der groteske Goblin hüpfte fast vor Freude. »Der arme, arme Meister Nekros ist in einem schlimmen Zustand! Drachen zu transportieren, Eier auch, und stinkende Orks durch die Gegend marschieren zu lassen … da bleibt wenig Zeit zum Nachdenken, ob's das denn überhaupt ist, was andere wirklich von ihm erwarten! Vielleicht hätte er in einer anderen Situation mehr überlegt, doch jetzt, da das Bündnis von Westen her einmarschiert, hat er die Lust daran verloren! Er muss nun handeln! Muss ein Ork sein, weißt du?«

»Das ergibt keinen Sinn …«

»Narr!« Neuerliches Gelächter seitens des Goblins. »Du hast mir dies gebracht!« Er hielt das Medaillon hoch und machte ein gespielt trauriges Gesicht. »Beim Fall zerbrochen – denkt Lord Deathwing!«

Der Gefangene sah zu, wie Kryll an dem Stein in der Mitte herumzukratzen begann. Nach einer kleinen Weile fiel das Juwel in die Hand des drahtigen Goblins. Er hielt es empor, sodass Rhonin es sehen konnte. »Und hiermit – kein Deathwing mehr …«

Rhonin konnte kaum glauben, was Kryll sagte.

»Kein Deathwing mehr? Du hoffst, den Stein gegen ihn gebrauchen zu können?«

»Oder ihn zu zwingen, Kryll zu dienen! Ja, vielleicht soll er mir dienen …« Purer Hass erschien auf Krylls Gesicht. »… und ich renne nicht mehr für dieses Reptil herum! Bin nicht mehr sein Hampelmann! Habe lange geplant und schwer geschuftet, das habe ich, und gewartet und gewartet, bis er endlich eine verwundbare Stelle zeigt, jawohl!«

Gegen seinen Willen fasziniert, fragte der Magier: »Aber wie?«

Kryll zog sich zum Eingang zurück. »Nekros wird es möglich machen – nicht dass er es weiß … und dies hier …« Er warf den Stein in die Luft und fing ihn wieder auf. »Dies ist ein Teil des Dunklen Herrschers, Mensch! Eine Schuppe, durch seine eigene Magie in Stein verwandelt! So muss es sein, damit das Medaillon funktionieren kann! Du weißt, was es heißt, etwas von einem Drachen zu besitzen?« Rhonins Gedanken rasten. »Was hatte er einst darüber gehört? Eine Schuppe oder eine Kralle eines der Großen Drachen zu besitzen, heißt Kontrolle über ihre Kraft erlangen! Doch das ist noch nie geschafft worden! Du musst selbst ein ungeheurer Magier sein, um das zu bewerkstelligen! Wo …«

Der Golem reagierte auf seine plötzliche Erregung. Die gespenstischen Kiefer öffneten sich und seine knochige Hand bewegte sich auf Rhonin zu. Der verharrte völlig still, er wagte nicht einmal zu atmen. Die flammende Gestalt geriet ins Stocken, zog die Hand jedoch nicht zurück. Rhonin hielt weiter den Atem an und betete, dass das Monster sich wieder entfernte.

Kryll lachte angesichts von Rhonins Zwangslage. »Aber natürlich bist du beschäftigt, Mensch! Wollte dich nicht stören! Wollte nur irgendwem von meinem Ruhm erzählen – jemandem, der bald genug tot sein wird, eh?« Der Goblin hüpfte davon. »Muss gehen! Nekros wird meine Hilfe brauchen, ja, das wird er!«

Rhonin konnte nicht länger den Atem anhalten. Er atmete aus, wobei er hoffte, dass er lange genug gezögert hatte.

Ein Irrtum, wie sich herausstellte.

Der Golem griff nach ihm – und alle Gedanken an den verräterischen kleinen Kryll erloschen, als die Feuer Rhonin erneut von innen heraus fraßen.


Die Dunkelheit kam viel zu langsam, und doch wiederum zu schnell für Vereesa. Wie Krasus sie angewiesen hatte, hatte sie niemandem erzählt, welche Bewandtnis es mit dem Medaillon hatte, und auf Roms Bitten hin hatte sie es tief unter den Falten ihres Gewands verborgen. Ihr Reiseumhang, der mittlerweile ziemlich abgenutzt war, bedeckte es zum größten Teil, doch falls jemand genau hinschaute, würde er zumindest die Kette erkennen können.

Kurz nach ihrer Rückkehr zur Truppe hatte Rom Gimmel beiseite gezogen, um mit ihm zu sprechen. Die Elfe hatte bemerkt, wie beide ihr immer wieder Blicke zuwarfen, während sie sich unterhielten. Offensichtlich wollte Rom, dass sein Stellvertreter über Krasus' Entscheidung Bescheid wusste, und dem Gesicht nach zu urteilen, das der andere Zwerg zog, war dieser ebenso wenig davon begeistert wie Rom.

Kaum war das letzte Abendlicht versiegt, machten sich die Zwerge daran, die Steine methodisch zu entfernen. Vereesa sah keinen Grund, warum dieser oder jener Stein vor dem nächsten bewegt werden musste, aber Roms Leute ließen sich nicht davon abbringen. Schließlich setzte sie sich hin und versuchte, nicht mehr daran zu denken, wie viel Zeit vor ihren Augen verschwendet wurde.

Als die letzten Steine beseitigt waren, vernahm sie die Stimme des Zauberers in ihrem Kopf. Sofort fiel ihr auf, wie erschöpft er klang.

Der Weg nach draußen … ist er frei, Vereesa Windrunner?

Sie drehte sich um und gab vor zu husten, um zu murmeln: »Sie sind gerade fertig geworden.«

Dann könnt Ihr losgehen. Wenn Ihr draußen seid, nehmt den Talisman aus seinem Versteck. Dies wird es mir möglich machen zu sehen, was vor Euch liegt. Ich werde nicht mehr sprechen, bis Ihr und der Aerie-Zwerg aus den Tunneln heraus seid.

Als sie sich wieder umdrehte, näherte sich ihr Falstad. »Seid Ihr bereit, meine Elfherrin? Die Hügelzwerge wollen uns, so scheint mir, schnellstens loswerden.«

Tatsächlich stand Rom am Ausgang, und seine undeutlich zu erkennende Gestalt winkte den beiden ungeduldig zu. Eine Aufforderung, hinaus zu klettern. Vereesa und Falstad eilten zu ihm und an ihm vorbei. Sie zogen sich zur erweiterten Öffnung hinauf, so gut es ihnen möglich war. Der Fuß der Waldläuferin rutschte einmal ab, doch sie konnte ihr Gleichgewicht halten. Die Zugluft über ihr spornte sie an. Sie mochte die Unterwelt nicht sonderlich und hoffte, dass die Umstände es nicht erfordern würden, so bald wieder dorthin zurück zu kehren.

Falstad, der zuerst oben anlangte, streckte eine Hand aus, um ihr zu helfen. Ohne große Mühe zog er sie zu sich hoch.

Sofort begannen die Zwerge, das Loch wieder zu füllen. Es wurde schnell kleiner, noch während Vereesa sich an ihre neue Umgebung gewöhnte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Falstad. »Hinaufklettern?«

Er zeigte zum Fuß des Berges, der auch jetzt, in der Dunkelheit, augenscheinlich eine senkrechte Steilwand besaß, die sich mehrere Hundert Fuß in die Höhe reckte. So sehr sie sich auch bemühte, konnte die Elfe keinen Zugang entdecken. Das verwunderte sie. So wie Rom sich ausgedrückt hatte, hätten sie den Eingang sofort erkennen müssen.

Sie drehte sich um, wollte nach ihm rufen, musste aber feststellen, dass fast nichts mehr von dem Spalt übrig war. Vereesa kniete sich nieder und presste ein Ohr an den Spalt, konnte aber nichts hören.

»Vergesst sie, meine Elfendame. Sie haben sich wieder versteckt.« Falstads Ton drückte Verachtung für seine Vettern aus den Hügeln aus.

Die Elfe nickte. Sie erinnerte sich wieder an Krasus' Anordnungen, öffnete ihren Umhang, nahm das Medaillon hervor und platzierte es zwischen ihren Brüsten. Vereesa hoffte, dass der Zauberer im Dunkeln sehen konnte, sonst würde er ihnen jetzt keine große Hilfe sein.

»Was ist das?«

»Hilfe … hoffe ich jedenfalls.« Krasus hatte ihr zwar aufgetragen, es für sich zu behalten, doch sicher erwartete er nicht, dass sie auch Falstad im Ungewissen ließ. Der Zwerg hätte sonst denken können, sie sei plötzlich verrückt geworden, wenn sie anfing mit sich selbst zu reden.

Ich kann alles ziemlich klar erkennen, ließ sich der Zauberer vernehmen, und sie zuckte zusammen. Danke.

»Was ist los? Warum zuckt Ihr so?«

»Falstad, weißt du, dass die Kirin Tor Rhonin auf eine Mission entsendet haben?«

»Aye, ihr weiß über diese Narretei Bescheid. Warum?«

»Dieses Medaillon hier stammt von dem Zauberer, der Rhonin auserwählt und auf seine wahre Mission geschickt hat – welche wohl auch erforderte, dass er diesen Berg betritt.«

»Aus welchem Grund?« Er klang nicht sonderlich überrascht.

»Das ist mir bisher noch nicht erklärt worden. Dieses Medaillon hier macht es dem Zauberer möglich, mit mir zu sprechen.«

»Aber ich kann nichts hören.«

»So funktioniert es leider.«

»Typisch Zauberkram«, bemerkte der Zwerg im selben Tonfall, wie er über seine Vettern gesprochen hatte.

Ihr solltet Euch auf den Weg machen, schlug Krasus vor. Vergeudet keine Zeit.

»Ist etwas mit Euch? Ihr seid schon wieder zusammengezuckt!«

»Wie ich sagte, du kannst ihn nicht hören, ich schon. Er will, dass wir aufbrechen. Er sagt, er kann uns führen.«

»Er kann sehen?«

»Durch den Kristall.«

Falstad trat vor das Medaillon und stieß mit dem Finger gegen den Stein. »Ich schwöre bei den Aerie, wenn du ein falsches Spiel treibst, wird mein Geist dich auf ewig jagen, Zauberer! Ich schwöre es!«

Sag dem Zwerg, unsere Interessen ähneln sich sehr.

Vereesa wiederholte diese Aussage für Falstad, der sie widerwillig akzeptierte. Die Elfe hatte ihre eigenen Vorbehalte, doch sie behielt sie für sich. Krasus hatte gesagt, ihre Interessen seien »ähnlich«. Das musste nicht bedeuten, dass sie identisch waren.

Trotz dieser Gedanken wiederholte sie Krasus' Anweisungen minutiös, denn sie erwartete, dass er sie wenigstens ins Innere des Berges führen würde. Zuerst wirkten seine Richtungsangaben seltsam, denn sie zwangen sie dazu, den Berg in einer, wie es schien, viel zu zeitraubende Weise zu umrunden. Doch schließlich gelangten sie auf einen bequemeren Weg, der sie bald zu einem hohen, aber schmalen Höhleneingang führte, von dem Vereesa annahm, dass dies endlich der Weg ins Innere war. Falls nicht, würde sie mit ihrem dubiosen Führer ein Wörtchen wechseln müssen.

Eine alte Zwergenmine, sagte Krasus. Die Orks denken, sie würde nirgendwo hinführen.

Vereesa betrachtete sie, so gut es in der Dunkelheit möglich war. »Warum haben Rom und seine Leute sie nicht benutzt, wenn sie nach draußen führt?«

Weil sie geduldig gewartet haben.

Sie wollte fragen, worauf sie denn gewartet hatten, doch plötzlich ergriff Falstad ihren Arm.

»Hört Ihr das?«, wisperte der Greifenreiter. »Da kommt jemand!«

Sie verbargen sich gerade noch rechtzeitig hinter einem Vorsprung. Eine furchterregende Gestalt schritt zielstrebig auf die Höhle zu und zischte dabei.

Vereesa sah den Kopf des Drachen hin und her rücken, während er sich umblickte; die roten Augen glühten schwach im Dunkel.

»Und hier ist noch ein viel besserer Grund, warum sie diesen Weg nie benutzt haben«, murmelte Falstad, »Ich wusste, es war zu schön, um wahr sein zu können!«

Der Drachenkopf beruhigte sich etwas. Das Untier bewegte sich in ihre Richtung.

Ihr müsst still sein. Die Ohren eines Drachen sind sehr scharf.

Diese überflüssige Information gab die Elfe nicht weiter. Sie griff nach ihrem Schwert, als das Ungetüm ein paar weitere Schritte auf sie zu machte. Es war nicht annähernd so groß wie Deathwing, aber groß genug, um Falstad und sie mit Leichtigkeit zu vernichten.

Dann sah Vereesa die Flügel, die sich hinter seinem Kopf spannten. Dank ihrer nachtsichtigen Augen konnte sie erkennen, dass sie unterentwickelt waren. Kein Wunder, dass dieser Drachen den Wachhund für die Orks markierte. Aber, davon abgesehen, wo war sein Reiter? Die Orks ließen einen Drachen niemals alleine, auch wenn er nicht fliegen konnte.

Ein bellendes Kommando beantwortete ihre Frage. Von weit hinter dem Drachen tauchte eine schwebende Fackel auf, die, wie Vereesa beim Näherkommen sah, von der Faust eines bulligen Orks umklammert wurde. In der anderen Hand hielt er ein Schwert, fast so lang wie die Elfe. Die Wache brüllte dem Drachen etwas zu, der wütend fauchte. Der Ork wiederholte seinen Befehl.

Langsam wandte sich das Ungeheuer wieder vom Versteck der beiden ab. Vereesa hielt den Atem an. Sie hoffte inständig, dass der Krieger und sein »Hündchen« bald wieder abzogen.

In diesem Moment strahlte der Edelstein auf dem Medaillon so hell auf, dass die ganze Umgebung um den Vorsprung herum beleuchtet wurde.

»Macht das aus!«, zischte Falstad.

Die Waldläuferin versuchte es, doch es war bereits zu spät. Nicht nur der Drache drehte sich ihnen jäh wieder zu, dieses Mal reagierte auch der Ork entsprechend. Fackel und Schwert ausstreckend, kam er auf ihr Versteck zu. Der rote Gigant schlich hinter ihm her und wartete auf Befehle.

Nimm das Medaillon von deinem Hals, befahl Krasus. Mach dich bereit, es gegen den Drachen zu schleudern.

»Aber …«

Tu es.

Vereesa gehorchte. Sie nahm den Talisman in ihre Hand. Falstad warf seiner Begleiterin einen Blick zu, sagte aber nichts.

Der Ork kam näher. Schon er alleine stellte eine beträchtliche Herausforderung dar, doch mit dem Drachen an seiner Seite, war es für die Waldläuferin und ihren Gefährten fast aussichtslos.

Sag dem Zwerg, er soll sich zeigen.

»Er will, dass du da raus gehst, Falstad«, flüsterte sie, obwohl sie nicht wusste, ob es ratsam war, diesen Unsinn an den Zwerg weiterzugeben.

»Wünscht er, dass ich ins Maul des Drachen klettere, oder soll ich mich einfach nur vor dem Ungeheuer hinlegen und es an mir knabbern lassen – je nachdem, wonach es ihm mehr gelüstet?«

Wir haben wenig Zeit.

Sie wiederholte die Worte des Zauberers. Falstad blinzelte, holte tief Luft und nickte dann. Den Sturmhammer umfasst, schlüpfte er an Vereesa vorbei und verließ den Schutz der Felsen.

Der Drache brüllte. Der Ork grunzte, sein mit Stosszähnen bewaffneter Mund verzog sich zu einem erwartungsvollen Grinsen.

»Zwerg!«, grollte er. »Gut! Mir wurde schon langweilig hier draußen! Wirst mir schön die Zeit vertreiben, bevor ich dich an Zarasz hier verfüttere. Er hat ziemlichen Appetit!«

»Du und die Deinen werden mir schön die Zeit vertreiben, Schweinegesicht! Mir ist ein wenig kühl geworden! Deinen tumben Schädel einzuschlagen, wird meine Knochen wieder erwärmen!«

Ork und Bestie kamen näher.

Wirf den Talisman gegen den Drachen. Pass auf, dass er auf seinem Maul landet!

Der Befehl klang so absurd, dass Vereesa daran zweifelte, recht gehört zu haben. Dann fiel ihr ein, dass Krasus vielleicht durch das Medaillon einen Zauberspruch weben konnte, der die wilde Bestie außer Gefecht setzen würde.

Wirf es jetzt, bevor dein Freund sein Leben verliert!

Falstad! Die Waldläuferin sprang hoch – und überraschte beide Wächter mit ihrem Erscheinen.

Sie warf dem Ork einen schnellen Blick zu – und schleuderte dann den Talisman mit großer Zielgenauigkeit gegen das Maul des Drachen.

Dieser streckte sich – ebenfalls mit großer Zielgenauigkeit – vor und fing das Medaillon mit den Zähnen auf.

Vereesa fluchte. So hatte sich Krasus das gewiss nicht vorgestellt.

Wie auch immer, im folgenden geschah etwas überaus Erstaunliches. Etwas, das alle drei Krieger innehalten ließ. Anstatt das Medaillon zu verschlingen oder wegzuwerfen, stand das Untier nur da, den Kopf leicht zur Seite geneigt. In seinem Maul leuchtete eine rote Aura auf, doch sie schien den Leviathan nicht zu stören.

Zu jedermanns Verblüffung setzte sich der riesige Drache nieder.

Der Ork war sichtlich verärgert und schrie einen Befehl.

Der Drache schien ihn jedoch nicht zu hören, es sah vielmehr so aus, als lausche er einer weit entfernten Stimme.

»Dein Hund hat ein Spielzeug gefunden«, spottete Falstad.

»Sieht ganz danach aus, als müsstest du zur Abwechslung auch mal selbst die Kastanien aus dem Feuer holen!«

Als Antwort stieß der Krieger seine Fackel nach vorn und hätte fast Falstads Bart in Brand gesetzt. Fluchend schwang Falstad seinen Sturmhammer gegen den ausgestreckten Arm des Orks, doch der wütende Hieb ging fehl. Dies wiederum ermöglichte es dem Wächter, mit dem Schwert zu kontern.

Vereesa stand unentschlossen da. Sie wollte Falstad helfen, wusste aber nicht, ob der Drache nicht jeden Moment aus seiner unerklärlichen Schläfrigkeit erwachen und seinem Ork-Herrn beistehen würde. Wenn das passieren sollte, musste jemand da sein, um sich der Bestie entgegen zu stellen.

Der Zwerg und sein Gegner tauschten Hiebe aus, wobei Schwert und Fackel sich als fast gleichwertig im Kampf gegen den Hammer erwiesen. Der Ork versuchte, Falstad zurück zu drängen. Er schien zu hoffen, dass der Zwerg auf dem unebenen Grund ins Straucheln geraten würde.

Die Elfe sah ein weiteres Mal zu dem Drachen hin. Immer noch hatte dieser den Kopf geneigt. Die Augen waren geöffnet, doch sie starrten in weite Ferne.

Vereesa drehte sich von ihm weg und stürmte los, um Falstad zu helfen. Wenn der Drache angriff, mochte er eben angreifen. Sie konnte ihren Gefährten nicht im Stich lassen.

Der Ork spürte, dass sie kam, denn als ihr Schwert nach ihm stieß, schwang er die Fackel herum. Vereesa schnappte nach Luft, als die Flammen beinahe ihr Gesicht berührten.

Doch durch ihr Eingreifen musste der Ork jetzt an zwei Fronten kämpfen, und sein Versuch, sie zu verbrennen, hatte seine Deckung auf der anderen Seite völlig entblößt.

Falstad benötigte keine besondere Aufforderung, um diesen Vorteil für sich zu nutzen. Der Hammer krachte herab.

Ein gutturaler Schrei des Orks übertönte fast das Geräusch der zerbrechenden Knochen. Das Schwert entfiel der zitternden Hand. Der Hammer hatte ihm den Ellbogen zerschmettert, und sein ganzer Arm war nun nutzlos.

Von Wut und Schmerz getrieben, schlug der verkrüppelte Wächter Falstad die Fackel gegen die Brust. Der Zwerg stolperte rückwärts und versuchte, die Flammen an Bart und Kleidung zu löschen. Sein Gegner setzte nach, doch die Elfe schnitt ihm den Weg ab.

»Kleiner Elf!«, knurrte der Ork. »Du wirst auch brennen!«

Sein langer Arm und die Fackel besaßen eine weit größere Reichweite, als Vereesa sie aufbringen konnte. Sie duckte sich zweimal, als er die Fackel schwang, und begriff, dass sie es schnell zu Ende bringen musste, wenn sie verhindern wollte, dass der Ork sie auch noch erwischte.

Bei seiner nächsten Attacke zielte sie nicht auf ihn, sondern auf seine Fackel. Dies setzte voraus, dass sie die Flammen gefährlich nahe kommen lassen musste. Die wilde Fratze des Orks verzerrte sich erwartungsvoll, als er nach ihr stieß.

Die Spitze ihres Schwertes grub sich in das Holz und entriss es der Hand des überraschten Wächters. Durch diesen unerwarteten Erfolg fiel Vereesa, vom eigenen Schwung getragen, nach vorn, die Fackel noch immer auf ihr Schwert gespießt.

Das Feuer traf den Ork mitten im Gesicht. Er brüllte vor Schmerz und schlug die Fackel zur Seite. Doch der angerichtete Schaden war nicht wieder gutzumachen. Seine Augen, die Nase und der ganze obere Teil seines Gesichts waren von den Flammen verschmort worden. Er konnte nichts mehr sehen.

Vereesa rammte das Schwert in den blinden Ork, und seine Schreie verstummten, Sie fühlte sich nicht gut dabei, doch sie hatte ihn außer Gefecht setzen müssen.

»Bei den Aerie!«, japste Falstad. »Ich dachte, ich schaffe es nie mehr, die Flammen an mir zu löschen!«

Immer noch nach Luft ringend, brachte Vereesa hervor: »Geht … geht es … dir gut …?«

»Ich weine über den Verlust meines Bartes, den ich in vielen Jahren mühevoller Pflege heranzüchtete … aber ich werde drüber hinwegkommen. Was ist mit unserem zu groß geratenen Hündchen da drüben?«

Der Drache hatte sich mittlerweile auf allen vieren niedergelassen, als wollte er sich zum Schlaf betten. Das Medaillon steckte noch immer in seinem Mund, doch noch während sie ihn ansahen, ließ er es vorsichtig auf den Boden gleiten – dann starrte er die beiden an, als erwarte er, dass einer von ihnen es aufhebe.

»Will er, dass wir tun, was ich glaube, meine Elfherrin?«

»Ich fürchte schon … und ich ahne auch, wer ihm das vorgeschlagen hat.« Vorsichtig näherte sie sich dem Riesen, der sie erwartete.

»Ihr werdet es doch nicht ernsthaft aufheben wollen?«

»Ich habe keine Wahl.«

Als die Waldläuferin näher kam, beäugte der Drache sie von oben herab. Drachen sahen angeblich sehr gut im Dunkeln, und ihr Geruchssinn war noch stärker ausgeprägt. Auf diese geringe Entfernung war sie ihm völlig ausgeliefert.

Mit einem Zipfel ihres Umhangs hob sie das Medaillon vorsichtig auf. Nach der langen Zeit, die es im Maul des Drachen gesteckt hatte, triefte es vor Speichel. Mit einigem Ekel wischte die Elfe es, so gut es eben ging, am Boden ab.

Das Juwel leuchtete unvermutet auf.

Der Weg ist frei, hörte sie Krasus' monotone Stimme. Ihr beeilt euch besser, bevor andere kommen.

»Was hast du mit diesem Monster gemacht?«, flüsterte sie.

Ich sprach mit ihm. Er begreift jetzt. Beeil dich. Es werden andere kommen.

Der Drache begriff? Vereesa wollte den Zauberer noch mehr fragen, doch mittlerweile wusste sie, dass er ihr keine zufriedenstellende Antwort geben würde. Nun, immerhin hatte er das schier Unmögliche vollbracht, und dafür musste sie ihm dankbar sein.

Sie hängte sich die Kette wieder um den Hals und ließ den Talisman wieder frei baumeln. An Falstad gewandt, sagte sie einfach: »Wir müssen weiter.«

Der Zwerg schüttelte beim Anblick des Drachen den Kopf und folgte ihr.

Krasus hielt Wort. Er führte sie durch die verlassene Mine und zu guter Letzt in einen Gang, von dem Vereesa nie gedacht hätte, dass er in die Bergfestung führen könnte. Er zwang die beiden, einen engen und ziemlich riskanten Seitenweg zu erklimmen, doch schließlich betraten sie den oberen Teil einer recht geräumigen Höhle.

Eine Höhle voller umhereilender Orks.

Von dem Vorsprung aus, auf dem sie kauerten, konnten sie die Furcht einflößenden Krieger dabei beobachten, wie sie Güter verpackten und Wagen beluden. Auf einer Seite der Höhle kontrollierte ein Drachenbändiger einen jungen Leviathan, während ein anderer kurz davor zu stehen schien, aufzubrechen.

»Es sieht so aus, als planten sie, wegzugehen!«

Das kam Vereesa auch so vor. Sie lehnte sich nach vorn, um besser sehen zu können.

Es hat funktioniert.

Krasus hatte gesprochen, aufgrund seiner Tonlage wusste Vereesa jedoch sofort, dass diese Worte nur für ihn selbst bestimmt gewesen waren. Möglicherweise hatte er nicht einmal gemerkt, dass sie ihn hören konnte. Hatte er etwas damit zu tun, dass die Orks Grim Batol verließen? Obwohl sie gesehen hatte, wie der Zauberer sich den Drachen gefügig gemacht hatte, bezweifelte die Elfe, dass sein Einfluss so weit ging.

Der eine Drachen, der flugbereit war, bewegte sich nun zum Hauptausgang der Höhle. Sein Reiter gurtete sich fest. Im Gegensatz zu einem Kampfeinsatz, war der Drache schwer mit Lasten beladen.

Vereesa lehnte sich zurück und dachte nach. Obwohl die Tatsache, dass die Orks Grim Batol verließen, für die Allianz sehr bedeutsam sein mochte, blieben viele Fragen offen. Sie sorgte sich um Rhonin. Welchen Nutzen würde er für die Orks noch haben, wenn sie hier weggingen? Sicherlich würden sie sich nicht die Mühe machen, einen feindlichen Zauberer mitzuschleppen.

Und hatten sie wirklich vor, alle Drachen umzusiedeln?

Sie hatte auf Krasus' nächste Anweisung gewartet, doch der Zauberer blieb auffallend stumm. Vereesa blickte umher, um zu entscheiden, welcher Weg sie am schnellsten dahin führen würde, wo Rhonin gefangen gehalten wurde … vorausgesetzt, er war noch nicht umgebracht worden.

Falstad legte eine Hand auf ihre Schulter. »Da unten! Seht Ihr ihn?«

Sie folgte seinem Blick – und sah den Goblin. Er eilte einen anderen Vorsprung entlang auf einen Ausgang zu ihrer Linken zu.

»Es ist Kryll! Es kann kein anderer sein!«

Die Elfe war sich dessen ebenfalls sicher. »Er kennt sich hier anscheinend recht gut aus.«

»Aye! Darum hat er uns zu ihren Verbündeten, den Trollen, geführt!«

Aber warum hatte der Goblin sie nicht von Orks gefangen nehmen lassen? Warum hatte er sie den mörderischen Trollen in die Hände gespielt? Die Orks hätten sie doch gewiss verhören wollen.

Genug gegrübelt. Sie hatte eine Idee. »Krasus! Kannst du uns zeigen, wie wir da hinunter kommen, wo der Goblin hinläuft?«

Keine Stimme erklang in ihrem Kopf.

»Krasus?«

»Was ist?«

»Der Zauberer scheint nicht antworten zu wollen – oder zu können.«

Falstad schnaubte. »Dann sind wir also auf uns allein gestellt?«

»Für den Augenblick scheint es so.« Sie richtete sich auf. »Der Vorsprung dort drüben. Er sollte uns dahin führen, wohin wir wollen. Die Orks werden die Tunnels recht geradlinig angelegt haben.«

»Also gehen wir ohne den Zauberer weiter. Gut. Das gefällt mir besser.«

Vereesa nickte grimmig. »Ja, wir gehen ohne den Zauberer weiter – aber nicht ohne unseren kleinen ‚Freund‘ Kryll!«

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