15

Vereesa schnappte nach Luft und stellte zu ihrer Verblüffung fest, dass dies überhaupt möglich war. Der Albtraum, lebendig begraben zu werden, verblich mit jedem gierigen Atemzug mehr. Nach und nach wurde sie ruhiger, und endlich öffnete sie ihre Augen – nur um festzustellen, dass sie einen Albtraum gegen den anderen eingetauscht hatte.

Drei Gestalten kauerten um ein winziges Feuer in der Mitte einer kleinen Höhle. Im Licht der Flammen sahen die grotesken Figuren noch fürchterlicher aus als ohnehin schon. Vereesa sah ihre Rippen durchscheinen; geflecktes, schuppiges Fleisch hing lose herab. Ihre Gesichter glichen Totenköpfen mit länglichem Kinn und schnabelartiger Nase. Am deutlichsten sah die Waldläuferin eng zusammenstehende, heimtückische Augen und scharfe Zähne.

Jeder der Drei trugen wenig mehr als einen lumpigen Lendenschurz. Neben ihnen ruhten ihre Wurfäxte, deren ausgezeichnete Treffsicherheit Vereesa ja hinlänglich kannte.

Obwohl sie versuchte, sehr still zu sein, musste doch irgendein Geräusch an die langen, spitzen Ohren gedrungen sein, denn einer ihrer Wärter blickte sofort in ihre Richtung. Eine Binde verdeckte die Reste seines linken Auges.

»Abendessen ist wach!«, zischte er.

»Eher Nachtisch«, erwiderte einer, der im Gegensatz zu den beiden anderen eine Vollglatze hatte, während ihre rasierten Schädel oben noch lange, struppige Stachelmähnen aufwiesen.

»Ganz klar Nachtisch«, grinste der Dritte, der einen zerschlissenen Schal trug, der einmal einem Angehörigen von Vereesas Rasse gehört haben musste. Er wirkte schlaksiger als die beiden anderen, und sprach, als ob er keinen Widerspruch duldete. Offenbar der Anführer.

Der Anführer eines sehr ausgehungert wirkenden Troll-Trios.

»Schlechte Ernte in letzter Zeit«, fuhr der Schalträger fort. »Aber nun Zeit für ein Fest, ja.«

Zu ihrer Rechten hörte Vereesa plötzlich etwas, das ein ganzer Schwall von Worten hätte sein können, wäre da nicht der Knebel gewesen, der ihn erstickte. Sie drehte den Kopf, soweit ihre sorgfältig geschnürten Fesseln dies erlaubten, und sah, dass auch Falstad noch am Leben war – wie lange noch, wusste sie nicht. Auch vor den Troll-Kriegen hatte sich schon hartnäckig das Gerücht gehalten, dass diese ekelerregenden Kreaturen alle Lebewesen außer der eigenen Gattung als Nahrung betrachteten. Selbst die Orks, mit denen sie verbündet waren, hielten stets ein wachsames Auge auf diese flinken, verschlagenen Teufel.

Glücklicherweise gab es seit den Troll-Kriegen und dem Kampf gegen die Horde kaum noch Angehörige ihrer verdorbenen Rasse. Vereesa hatte persönlich noch nie einen Troll gesehen, sie kannte sie nur von Bildern und aus Legenden. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn das so geblieben wäre.

»Geduld, Geduld«, murmelte der Schalträger mit einer gespielt mitleidigen Stimme. »Du kommst zuerst dran, Zwerg! Du zuerst!«

»Können wir das nicht jetzt gleich tun, Gree?«, bettelte der einäugige Troll. »Warum nicht gleich?«

»Weil ich es sage, Shnel!« Unerwartet traf Grees harte Faust Shnel am Kinn, und er fiel um.

Der dritte Troll sprang auf die Füße und feuerte seine Kameraden an, weiterzumachen. Gree jedoch starrte ihn kalt an, bis er den glatzköpfigen Schädel zwischen die Schultern zog. Indes kroch Shnel zurück zu seinem Platz vor dem winzigen Feuer und erweckte einen überaus unterwürfigen Eindruck.

»Ich bin Führer!« Gree schlug eine knochige, krallenbewehrte Hand gegen seine Brust. »Ja, Shnel?«

»Ja, Gree! Ja!«

»Ja, Vorsh?«

Das haarlose Monster beugte den Kopf wieder und wieder. »Ja, oh ja, Gree! Du bist Führer! Du bist Führer!«

Wie auch bei Elfen, Zwergen und Menschen gab es bei den Trollen verschiedene Arten. Einige wenige verwendeten eine gehobene Sprache wie die Elfen – sogar wenn sie gerade dabei waren, jemandem den Kopf abzuschlagen. Andere waren eher wie Wilde, vor allem die, die sich in den Höhlen und unterirdischen Reichen aufhielten. Doch Vereesa bezweifelte, dass es irgendeine niedrigere Form von Trollen gab als die drei simplen Kreaturen, die Falstad und sie gefangen hatten – und das war noch das mildeste Urteil, das sie über sie fällte.

Das Trio vertiefte sich wieder in ein geflüstertes Gespräch am Feuer.

Vereesa spähte zu dem Zwerg, der ihren Blick erwiderte. Sie hob eine Augenbraue, doch zur Antwort schüttelte er den Kopf. Nein, trotz seiner erstaunlichen Kraft konnte er die engen Fesseln nicht sprengen. Auch sie schüttelte den Kopf. Wie barbarisch die Trolle auch sein mochten, im Knüpfen waren sie wahre Meister.

Vereesa versuchte, sich nicht davon einschüchtern zu lassen, und blickte sich weiter in ihrer Umgebung um – so viel sie davon im Dunkeln erblicken konnte. Sie schienen sich in der Mitte eines roh gehauenen Tunnels zu befinden, den die Trolle vermutlich selbst gegraben hatten. Vereesa sah die langen, krallenbestückten Finger vor sich, die vorzüglich dafür geeignet waren, sich durch Erde und Gestein zu wühlen. Diese Trolle hatten sich gut an ihren Lebensraum angepasst.

Obwohl die Elfe das Ergebnis schon kannte, versuchte sie, ein lose baumelndes Ende der Fessel zu finden. So vorsichtig sie konnte, drehte sie sich um und scheuerte sich die Handgelenke wund, doch alle Anstrengung half nichts.

Ein schreckliches Lachen verriet ihr, dass die Trolle wohl ihren Versuch bemerkt hatten.

»Nachtisch ist lebhaft«, bemerkte Gree. »Wird Spaß machen.«

»Wo sind die anderen?«, beschwerte sich Shnel. »Sollten schon hier sein!«

Der Anführer nickte und fügte hinzu: »Hulg weiß, was passiert, wenn er nicht gehorcht! Vielleicht ist er …« Plötzlich ergriff er seine Wurfaxt. »Zwerge!«

Die Axt flog kreiselnd durch den Tunnel, ganz dicht an Vereesas Kopf vorbei. Einen Moment später ertönte ein gutturaler Schrei. Aus dem Tunnel brachen kurze, stämmige Gestalten hervor, die Schlachtrufe schrien und kurze Äxte und Schwerter schwangen.

Gree zog eine andere Axt hervor, die wohl dem Nahkampf diente. Shnel und Vorsh, Letzterer kauernd, ließen Wurfäxte fliegen. Die Elfe sah, wie ein gedrungener Angreifer unter Shnels Waffe fiel, doch Vorshs Axt ging weit daneben. Dann folgten die Trolle dem Beispiel ihres Anführers und griffen zu stärkeren, größeren Äxten, während ihre Angreifer sie umzingelten.

Vereesa zählte mehr als ein halbes Dutzend Zwerge, jeder in abgewetzte Pelze und rostige Rüstungen gehüllt. Ihre Helme waren rund, passten genau und wiesen keinerlei Hörner oder sonstige unnötigen Zierrat auf. Wie Falstad trugen die meisten Bärte, wenn ihre auch kürzer und besser getrimmt wirkten. Die Zwerge handhabten ihre Äxte und Schwerter mit geübter Präzision. Die Trolle wurden immer mehr zusammengedrängt. Es war Shnel, der zuerst fiel, das einäugige Monster sah den Krieger nicht, der auf seiner blinden Seite auftauchte. Vorsh bellte eine Warnung, doch sie kam zu spät. Shnel führte einen wilden Hieb nach seinem neuen Gegner, verfehlte ihn jedoch. Der Zwerg trieb sein Schwert in die Eingeweide des schlaksigen Trolls.

Gree war der wildeste Kämpfer. Er landete einen guten Hieb, der einen Zwerg zurücktaumeln ließ, und schlug einem anderen fast den Kopf ab. Als seine Axt jedoch mit der längeren, stabilen Axt eines Gegners kollidierte, zerbrach sie. In seiner Verzweiflung ergriff er die Waffe des Zwerges oben am Griff und versuchte, sie der Hand des kleineren Kämpfers zu entwinden. Die scharf geschliffene Klinge einer anderen Axt traf den Anführer der Trolle in den Rücken.

Fast fühlte die Elfe etwas wie Mitleid mit dem letzten ihrer Feinde. Vorsh, der wusste, dass er verloren war, sah so aus, als würde er gleich anfangen zu wimmern. Dennoch schlug er mit seiner Axt weiter auf den nächstbesten Zwerge ein und landete fast aus schierem Glück einen blutigen Treffer. Doch letztendlich konnte er der Flut seiner Feinde, die ihn in einem immer enger werdenden Kreis umzingelten, Äxte und Schwerter gezückt, nicht mehr standhalten. Am Ende glich Vorshs Tod eher einem Gemetzel.

Vereesa schaute weg. Sie sah nicht wieder nach vorne, bis eine ruhige Stimme mit leichtem Reibeisenklang bemerkte: »Kein Wunder, dass die Trolle so hart gekämpft haben! Gimmel! Siehst du das?«

»Aye, Rom! Sieht viel besser aus, als was ich hier drüben gefunden habe!«

Kräftige Hände zogen sie in eine sitzende Position. »Mal sehen, ob wir die Fesseln von Euch abkriegen, ohne Eure hübsche Figur zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen!«

Sie blickte hoch in das Gesicht eines gesund aussehenden Zwerges, der fast einen halben Kopf kleiner war als Falstad und viel plumper gebaut. Als er ihr die Fesseln löste, wurde der Elfe jedoch bewusst, dass der erste Eindruck täuschte; diese Zwerge hatten schon im Umgang mit den Trollen bewiesen, dass sie keinesfalls ungeschickt waren.

Aus der Nähe betrachtet sahen die Kleider der Zwerge noch zerlumpter aus, was wenig überraschte, wenn die Zwerge sich, wie Vereesa vermutete, damit durchschlugen, die Orks zu bestehlen. Es herrschte auch ein ausgeprägter Geruch vor, der verriet, dass Baden seit langem ein Luxus war.

»Das hätten wir!«

Die Fesseln fielen von ihr ab. Sofort riss sich Vereesa den Knebel vom Mund, um den sich der Zwerg nicht gekümmert hatte. Gleichzeitig brach rechts ein Schwall von Flüchen los; auch Falstad war wieder frei.

»Halt den Mund, oder ich stopf den Knebel wieder rein!«, knurrte Gimmel ihn an.

»Es braucht eine Menge Hügelzwerge, um einen Aerie zu besiegen!«

Ein Raunen unter den Zwergen warnte Vereesa, dass ihre Retter sie gleich wieder gefangen nehmen würden, wenn der Greifenreiter sein Mundwerk nicht im Zaum hielt. Sie kam auf die Beine, erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, dass der Tunnel hier nicht ganz ihrer Größe angepasst war, und sagte angespannt zu dem Zwerg: »Falstad! Sei höflich zu unseren Rettern! Immerhin haben sie uns vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt …«

»Aye, da habt Ihr recht«, antwortete Rom. »Die verdammten Trolle essen alles, was Fleisch ist, egal ob tot oder lebendig!«

»Sie erwähnten noch andere Trolle«, erinnerte sie sich plötzlich. »Vielleicht sollten wir lieber von hier verschwinden, bevor sie kommen.«

Rom hob die Hand. Seine zerfurchten Züge erinnerten Vereesa an einen zähen alten Hund. »Kein Grund zur Sorge. Über jene anderen sind wir auf diese drei hier gestoßen.« Er dachte einen Moment nach. »Aber vielleicht habt ihr trotzdem Recht. Es war nicht die einzige Bande von Trollen in dieser Gegend. Die Orks halten sie fast wie Bluthunde! Jeder außer den Orks, der diese ruinierten Lande betritt, ist Freiwild – und sie vergreifen sich auch schon mal an ihren eigenen Verbündeten, wenn sie glauben, dass es keiner merkt!«

Durch Vereesas Kopf schwirrten Bilder des Schicksals, das sie erwartet hätte. »Ekelhaft! Ich danke Euch von ganzem Herzen für Euer rechtzeitiges Einschreiten!«

»Hätte ich gewusst, dass Ihr es seid, die wir retten, hätte ich diesen traurigen Haufen schneller hierher getrieben!«

Gimmel, dessen Augen viel zu oft an der Elfe hafteten, trat zu seinem Anführer. »Joj ist tot. Er steckt immer noch halb in der Wand. Narn geht es schlecht, er muss behandelt werden. Die anderen Verletzten können gehen.«

»Dann lasst uns aufbrechen! Du auch, Schmetterling!« Letztere Bemerkung bezog sich auf Falstad, der auf diese offensichtlich herbe Beleidigung der Aerie-Zwerge hin ziemlich zornig wurde. Vereesas sanfte Berührung an der Schulter beruhigte ihn ein wenig, doch ihr Freund blickte immer noch finster, als sie sich in Bewegung setzten.

Die Elfe sah, dass die Hügelzwerge nicht nur alle nützlich scheinenden Dinge der Trolle an sich nahmen, sondern auch die ihres toten Kameraden. Sie machten jedoch keine Anstalten, seine Leiche abzutransportieren, und als Rom ihren Blick bemerkte, zuckte er leicht beschämt die Schultern.

»Durch den Krieg sind wir gezwungen, manche Regeln zu ändern, Elfendame. Joj würde das verstehen. Wir werden seine Habe an seine nächsten Verwandten weitergeben und auch einen Extraanteil an der Beute … nicht dass da viel gewesen wäre, wie ich leider sagen muss.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass sich in Khaz Modan überhaupt noch Zwerge aufhalten. Es wurde behauptet, dass alle Zwerge das Land verließen, als sich abzeichnete, dass sie es nicht mehr gegen die Horde würden halten können.«

Der Ausdruck auf Roms Hundegesicht wurde bitter. »Aye, alle, die weggehen konnten, taten das auch! Aber das war nicht allen möglich, wisst Ihr? Die Horde kam über uns wie eine Pest und schnitt vielen von uns den Weg ab! Wir waren gezwungen, immer weiter unter die Erde zu gehen, tiefer als wir es je getan hatten! Viele sind damals gestorben, und seither noch viele mehr!«

Ihr Blick schweifte über seine zerlumpte Bande. »Wie viele seid ihr?«

»Mein Clan? Siebenundvierzig, doch einst waren wir Hunderte! Wir haben mit drei anderen gesprochen, zwei davon größer als wir selbst. Insgesamt sind es nur noch wenig mehr als dreihundert, ein Bruchteil dessen, was wir einmal darstellten!«

»Dreihundert und ein paar ist immer noch eine beachtliche Anzahl«, brummte Falstad. »Aye, mit so vielen wäre ich nach Grim Batol gegangen und hätte mir mein Land zurückgeholt!«

»Ja, wenn wir am Himmel herumflattern würden wie taumelnde Käfer, könnten wir sie vielleicht genügend verwirren, um das möglich zu machen – doch auf der Erde oder unter ihr sind wir immer noch im Nachteil. Es braucht nur einen Drachen, um einen ganzen Wald niederzubrennen und die Erde darunter auch!«

Die alte Feindschaft zwischen den Aerie und den Hügel-Zwergen drohte erneut auszubrechen. Schnell versuchte Vereesa, den Bruch zwischen den beiden zu kitten. »Genug davon! Sind nicht die Orks und ihresgleichen unsere Feinde? Wenn ihr miteinander hadert, spielt dies nicht ausschließlich ihnen in die Hände?«

Falstad murmelte eine Entschuldigung, Rom schloss sich ihm an. Doch die Elfe ließ die Sache noch nicht auf sich beruhen.

»Das reicht mir nicht. Seht einander an und schwört, dass ihr ausschließlich für unser Wohl kämpfen werdet! Schwört, dass Ihr niemals vergesst, dass es die Orks sind, die eure Brüder erschlugen, und die Orks, die töteten, was ihr liebtet.«

Sie wusste nichts Genaues über die Vergangenheit der beiden Zwerge, doch es war klar, dass jeder, der in diesem Krieg kämpfte, jemanden oder etwas, das ihm teuer gewesen war, verloren hatte. Rom hatte ohne Zweifel viele Familienmitglieder verloren, und Falstad, der zu einer verwegenen Aerie-Bande gehörte, hatte sicher nichts Minderes erlitten.

Der Greifenreiter streckte seine Hand zuerst zur Versöhnung aus, was ihn in Vereesas Ansehen steigen ließ. »Aye, das ist recht. Ich gebe dir meine Hand.«

»Wenn du das tust, so tue ich es auch.«

Als die beiden sich die Hände gaben, erhob sich ein kurzes Raunen unter den anderen Hügelzwergen. Unter anderen als den gegebenen Umständen wäre dieser schnelle Kompromiss höchst verdächtig erschienen.

Die Gruppe zog weiter. Diesmal stellte Rom die Fragen. »Nun, da die Gefahr durch die Trolle gebannt ist, Elfendame, solltet ihr uns sagen, was Euch in unser verwundetes Land führt. Ist es, wie wir hoffen, dass der Krieg sich gegen die hiesigen Orks wendet, dass Khaz Modan bald wieder frei sein wird?«

»Der Krieg wendet sich gegen die hier ansässige Horde, das ist wahr.« Ihre Worte riefen bei den Zwergen leise Beifallskundgebungen hervor. »Der Hauptteil der Horde wurde vor ein paar Monaten zerschlagen, und Doomhammer ist verschwunden.«

Rom blieb stehen. »Wie können die Orks dann noch die Herrschaft über Grim Batol halten?«

»Da fragst du noch?«, mischte sich Falstad ein. »Zum einen halten die Orks noch den Norden, bei Dun Algaz – ihre dortige Niederlage ist zwar abzusehen, aber sie werden nicht kampflos untergehen.«

»Und das andere, Cousin?«

»Hast du noch nicht gemerkt, dass sie Drachen haben?«, fragte Falstad, ohne den Spott ganz zu verbergen.

Gimmel schnaubte. Rom starrte seinen Stellvertreter kurz an, nickte dann aber resigniert. »Aye, die Drachen. Noch ein Feind, den wir auf der Erde nicht besiegen können. Einmal haben wir eine junge Brut gefangen und kurzen Prozess mit ihr gemacht – und ein oder zwei gute Krieger dabei verloren, wie ich leider sagen muss –, aber meistens bleiben sie da oben und wir müssen uns hier unten vor ihnen verstecken.«

»Doch die Trolle habt ihr bekämpft, und sicherlich auch die Orks«, sagte Vereesa.

»Die gelegentliche Patrouille, aye. Auch den Trollen haben wir einigen Schaden zugefügt – aber all das bedeutet nichts, solange unsere Heimat noch unter der Axt der Orks liegt!« Er starrte ihr in die Augen. »Nun frage ich noch einmal. Sagt mir, wer Ihr seid, und was Ihr hier tut! Wenn Khaz Modan noch immer in Ork-Hand ist, dann grenzt es an Selbstmord, wenn Ihr nach Grim Batol kommt!«

»Mein Name ist Vereesa Windrunner, Waldläuferin, und dies ist Falstad von den Aerie. Wir sind hier, weil ich einen Zauberer suche, einen Menschen, hochgewachsen und jung. Er hat Haar von der Farbe des Feuers, und das letzte Mal, als ich ihn sah, reiste er in diese Richtung.« Sie entschied sich, die Anwesenheit des schwarzen Drachen erst einmal zu verschweigen, und war dankbar, dass Falstad sich ihr darin anschloss.

»Und dämlich wie Zauberer nun einmal sind, besonders die menschlichen … was sucht er denn in Grim Batol?« Rom sah die beiden mit wachsendem Misstrauen an, denn Vereesas Geschichte klang ohne Zweifel für seinen Geschmack zu weit hergeholt.

»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Aber ich denke, es hat etwas mit den Drachen zu tun.«

Als er dies hörte, brach der Anführer der Zwerge in brüllendes Gelächter aus. »Die Drachen? Was hat er denn vor? Die Rote Königin von ihren Fesseln zu befreien? Sie wird so dankbar sein, dass sie ihn vor lauter Freude verschlingt!«

Die Hügelzwerge schienen dies furchtbar lustig zu finden, die Elfe nicht. Auch Falstad schloss sich ihnen nicht an, doch er wusste natürlich von Deathwing und nahm wahrscheinlich an, Rhonin sei schon längst verschlungen worden.

»Ich habe einen Eid geschworen, und deshalb werde ich weitersuchen. Ich muss Grim Batol erreichen und hoffe, ihn zu finden.«

Die allgemeine Belustigung wandelte sich zu einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben. Gimmel schüttelte den Kopf, als habe er nicht recht gehört. »Lady Vereesa, ich respektiere Euch, doch sicherlich wisst Ihr selbst, wie ungeheuerlich dieses Vorhaben ist!«

Sie musterte die hartgesottene Bande sorgfältig. Sogar im Halbdunkel konnte sie die Erschöpfung und den Fatalismus auf ihren Gesichtern sehen. Sie kämpften und träumten davon, ihr Heimatland frei zu sehen, nahmen aber wahrscheinlich an, dass dies nicht mehr zu ihren Lebzeiten geschehen würde. Sie bewunderten Mut, wie alle Zwerge, doch sogar ihnen musste das Vorhaben der Elfe an Wahnsinn grenzen.

»Ihr und Eure Leute habt uns gerettet, Rom, und dafür danke ich Euch allen. Doch wenn ich um eines bitten darf, so zeigt mir den nächsten Tunnel, der zu der Bergfestung führt. Ich werde von da ab alleine weiterziehen.«

»Ihr reist nicht allein, meine Elfendame«, widersprach Falstad. »Ich bin zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren … und ich habe vor, einen ganz bestimmten Goblin zu finden und seine Haut zu Stiefeln zu verarbeiten!«

»Ihr seid beide verrückt!« Rom sah, dass keiner nachgeben würde. Achselzuckend fügte er hinzu: »Aber wenn Ihr einen Weg nach Grim Batol sucht, dann werde ich diese Aufgabe keinem anderen überlassen. Ich werde Euch selbst dorthin führen!«

»Du kannst nicht alleine gehen, Rom!«, hielt Gimmel dagegen. »Nicht, wenn Trolle unterwegs sind und Orks in der Nähe! Ich gehe mit dir mit, um dir den Rücken zu stärken!«

Auf einmal beschloss die ganze Gruppe, mitzugehen und ihren Führern den Rücken zu stärken. Sowohl Rom als auch Gimmel versuchten, ihnen das auszureden, doch da ein Zwerg für gewöhnlich so störrisch war wie der andere, hatte der Anführer schließlich eine bessere Idee.

»Die Verwundeten sollten heimkehren, und sie brauchen auch Schutz – keine Widerrede, Narn, du kannst kaum noch stehen! Das Beste ist, wir rollen die Knochen; die Hälfte mit den höheren Zahlen kommt mit! Nun, wer hat sein Set zur Hand?«

Vereesa wollte eigentlich nicht unbedingt warten, bis die Gruppe ausgewürfelt hatte, wer sie begleitete, doch offenbar blieb ihr keine andere Wahl. Sie und Falstad schauten also zu, wie die Zwerge – Narn und die anderen Verwundeten ausgenommen – die Würfel entscheiden ließen. Die meisten der Hügelzwerge benutzten ihr eigenes Set; Roms Frage war mit einer erklecklichen Anzahl erhobener Arme beantwortet worden.

Falstad gluckste leise. »Die Aerie und die Hügelzwerge mögen ihre Unterschiede haben, doch wenige Zwerge, egal welcher Art sie angehören, tragen keine Würfel mit sich!« Er klopfte auf eine kleine Tasche an seinem Gürtel. »Man kann sehen, was für Heiden die Trolle sind, sie haben mir meine gelassen! Man sagt, sogar die Orks lassen ganz gerne die Knochen rollen, das erhebt sie über unsere jüngst verstorbenen Schönheiten, eh?«

Nach für Vereesas Geschmack viel zu langer Zeit kamen Rom und Gimmel in Begleitung von sieben weiteren Zwergen zu ihnen, einen entschlossenen Ausdruck auf den Gesichtern. Als Vereesa sie ansah, hätte sie schwören können, dass sie alle Brüder waren – obwohl tatsächlich zwei von ihnen auch Schwestern sein mochten. Sogar die weiblichen Zwerge hatten starken Bartwuchs – ein Zeichen von Schönheit unter den Angehörigen dieser Rasse.

»Hier sind Eure Freiwilligen, Lady Vereesa! Alle stark und kampfbereit! Wir führen Euch zu einem der Höhleneingange am Fuß des Berges, danach seid Ihr auf Euch selbst angewiesen.«

»Ich danke Euch – bedeutet das, dass Ihr tatsächlich einen Weg kennt, der in den Berg hineinführt?«

»Aye, doch es ist kein leichter Weg … und nicht nur die Orks patrouillieren dort.«

»Was meinst du damit?«, fragte Falstad neugierig.

Rom präsentierte dem Zwerg das gleiche unschuldige Lächeln, mit dem Falstad ihn anblickte, und fragte: »Hast du schon vergessen? Sie haben Drachen …«


Das Heiligtum von Krasus war in der Nähe eines uralten Wäldchens erbaut worden, älter als die Drachen selbst. Ein Elf hatte es errichtet, später war es von einem menschlichen Zauberer besetzt worden, und dann, lange nachdem dieser es verlassen hatte, hatte Krasus es in Besitz genommen. Er hatte die Kräfte, die hier weilten, gespürt, und bei seltenen Gelegenheiten aus ihnen ein wenig eigene Stärke ziehen können. Doch selbst der Drachenzauberer war überrascht gewesen, als er eines Tages in dem abgelegensten Teil der Zitadelle den versteckten Eingang gefunden hatte, der zu einem glitzernden Becken und zu einem goldenen Juwel führte, das in der Mitte des Beckenbodens eingelassen war. Jedes Mal, wenn er die Kammer betrat, spürte er ein Gefühl von Ehrfurcht, was bei seinesgleichen selten vorkam. Die Magie hier ließ ihn sich wie einen menschlichen Lehrling fühlen, der gerade seinen ersten magischen Spruch erlernt hatte. Krasus wusste, dass er bisher nur einen Bruchteil der wahren Macht des Wasserbeckens angezapft hatte, doch etwas hielt ihn davon zurück, zu versuchen, mehr davon zu bekommen. Die, die in ihrer Suche nach magischer Kraft zu gierig vorgingen, wurden nach und nach von ihr verschlungen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Deathwing war diesem Schicksal allerdings bislang entronnen.

Obwohl es sich so tief unter der Erde befand, war das Wasser nicht völlig ohne Leben – oder etwas, was dem nahe kam. Das Wasser war klarer als jede andere Flüssigkeit auf der Welt, doch Krasus konnte die kleinen, schlanken Geschöpfe, die sich im Becken und ganz besonders in der Nähe des Juwels aufhielten, nie wirklich genau erkennen, so sehr er es auch versuchte. Manchmal hätte er schwören können, sie wären nichts als kleine silberne Fische, doch dann und wann hätte der Drachenzauberer auch schwören mögen, dass er Arme sah, einen menschlichen Körper, und bei einigen seltenen Gelegenheiten – Beine.

Heute ignorierte er die Bewohner des Beckens. Seine Begegnung mit Ihr-von-den-Träumenden hatte Hoffnung auf Hilfe in ihm geweckt; doch Krasus wusste, dass er darauf allein nicht bauen konnte. Es würde nicht mehr lange dauern, und er würde sich selbst einbringen müssen.

Und das war der Grund, aus dem er nun hergekommen war, denn eine der Eigenschaften des Wassers war Verjüngung für jene, die von ihm tranken – wenigstens für einige Zeit. Das Gift, das er benutzt hatte, um in das verborgene Reich von Ysera zu gelangen, hatte Krasus geschwächt, und wenn die Dinge verlangten, dass er handelte, wollte er dazu auch in der Lage sein.

Der Zauberer beugte sich hinab und schöpfte mit der Hand ein wenig von dem Wasser. Beim ersten Mal hatte er einen Becher benutzen wollen, doch es hatte sich herausgestellt dass das Becken künstlich geschaffene Dinge abstieß. Krasus lehnte sich über den Rand, damit die Tropfen, die er verschüttete, wieder in das Wasser zurückfielen. Sein Respekt für die Macht, die ihm innewohnte, war über die Jahre sehr groß geworden.

Doch als er trank, fiel ihm eine Kräuselung der Wasseroberfläche auf. Krasus blickte auf das, was eigentlich das vollkommene Spiegelbild seiner menschlichen Form hätte sein sollen – doch es zeigte etwas völlig anderes.

Rhonins junges Gesicht sah ihn an … zumindest dachte der Zauberer das zuerst. Dann stellte er fest, dass die Augen seines Gegenübers geschlossen waren und der Kopf leicht zur Seite rollte, als ob … als ob er tot sei.

Auf Rhonins Gesicht legte sich eine große, grüne Ork-Hand.

Krasus reagierte instinktiv, er fasste ins Wasser, um die widerliche Hand wegzustoßen. Stattdessen zerstörte er das Bild, und als die Wellen sich gelegt hatten, sah er nur noch seine eigene Spiegelung.

»Bei der Großen Mutter!« Das Becken hatte diese Fähigkeit noch nie gezeigt. Warum jetzt?

Erst dann fielen Krasus die Abschiedsworte von Ysera wieder ein. Und unterschätze nicht die Macht derer, die für dich nur Spielfiguren sind!

Was hatte sie damit gemeint, und warum hatte er gerade Rhonins Gesicht gesehen? Nach dem kurzen Bild, das der alte Zauberer hatte erhaschen können, war sein jüngeres Gegenstück entweder von Orks gefangen worden oder tot. Wenn dem so war, dann hatte Rhonin für Krasus seinen Nutzen verloren – doch falls er die Bergfestung tatsächlich erreicht hatte, war die wahre Aufgabe, die zu erfüllen sein Förderer ihn ausgesandt hatte, bereits bewältigt …


Nach den Ereignissen, die Krasus in den letzten Monaten zur Entdeckung der Orks auf Grim Batol geführt hatten, hatte der alte Drachenmagier gehofft, er könnte die Kommandierenden dort zu der Annahme verleiten, es werde eine zweite, nicht so offensichtliche Invasion von Westen her geben.

Obwohl noch sehr viele Ork-Krieger in der Festung lebten, begründete sich ihre wahre Stärke auf die Drachen, die sie züchteten und abrichteten … und deren Zahl wurde von Woche zu Woche geringer. Noch schlimmer für die Orks im Berg aber war, dass ihre wenigen Drachen nun nach und nach gen Norden geschickt wurden, um dem Haupttrupp der Horde beizustehen, und Grim Batol so fast ohne Verteidigung zurückblieb. Gegen eine entschlossene Armee, so groß wie die, die nun bei Dun Algaz kämpfte, würden selbst die gutpositionierten Orks im Berg letzten Endes aufgeben müssen. Dann hatten sie auch die Chance vertan, weitere Drachen für den Krieg zu heranzuzüchten. Und ohne weitere Drachen, die die Armeen des Bündnisses im Norden aufhalten konnten, würden die Reste der Horde unter den unentwegten Angriffen schließlich kapitulieren müssen.

Eine solche Armee hätte gebildet und vom Westen her entsandt werden können, doch es fehlte an Einigkeit zwischen den Führern des Bündnisses. Die meisten waren der Meinung, dass Khaz Modan irgendwann schon fallen würde, warum also noch mehr riskieren?

Krasus mochte anfangs nicht glauben, dass sie keinen Angriff von zwei Seiten her wagen würden, um die Welt endlich von den Orks zu befreien, doch letztlich bewies es nur die Kurzsichtigkeit der jüngeren Rassen. Ursprünglich hatte er versucht, die Herrscher der Kirin Tor zu bewegen, die Angelegenheit in die Hände von Dalarans Nachbarn zu legen, doch als ihr Einfluss auf König Terenas nachließ, hatten seine eigenen Verbündeten im Rat sich lieber um das gekümmert, was von ihrer eigenen Position im Bündnis übriggeblieben war.

Und so hatte sich Krasus zu einem verzweifelten Bluff entschieden, wobei er auf das abwegige Denken und die Paranoia baute, die im Ork-Kommando vorherrschten. Er würde sie glauben machen, die Invasion habe bereits begonnen. Sogar greifbare Beweise lieferte er ihnen, neben den Gerüchten, die er und seine Agenten gestreut hatten. Bestimmt würden sie dann das Undenkbare tun. Bestimmt würden sie dann die Bergfeste verlassen und, mit Alexstrasza unter sorgfältiger Bewachung, die Drachenzucht nach Norden verlegen.

Der Plan hatte als eine verrückte Hoffnung begonnen, doch zu seiner eigenen Überraschung entdeckte Krasus, dass er erstaunliche Ergebnisse zeitigte. Der Ork, der auf Grim Batol das Oberkommando hatte, ein gewisser Nekros Skullcrusher, war letzthin immer sicherer geworden, dass die Tage, da die Bergfestung einen Nutzen brachte, gezählt seien. Die wilden Gerüchte, die der Zauberer verbreitet hatte, hatten ein Eigenleben entwickelt und übertrafen Krasus' damit verbundene Erwartungen inzwischen bei weitem.

Und nun … nun hatten die Orks Beweise in der Person Rhonins erhalten. Der junge Magier hatte seine Aufgabe erfüllt. Er hatte Nekros gezeigt, dass die scheinbar uneinnehmbare Festung ganz einfach betreten werden konnte, besonders mit Hilfe von Magie. Nun würde der Kommandeur der Orks bestimmt Weisung erteilen, Grim Batol zu verlassen.

Ja, Rhonin hatte seine Sache gut gemacht … und Krasus wusste, dass er es sich niemals vergeben würde, diesen Menschen so benutzt zu haben.

Was würde seine geliebte Königin von ihm denken, wenn sie die ganze Wahrheit erfuhr? Von all den Drachen liebte Alexstrasza die minderen Rassen am meisten. Sie waren die Kinder der Zukunft, hatte sie einmal gesagt.

»Es musste sein!«, fauchte er.

Die Vision in dem Becken hatte ihn vielleicht nur an das Schicksal seiner Schachfigur erinnern sollen, doch sie hatte ihn auch beunruhigt. Er musste mehr herausfinden.

Er verneigte sich vor dem Becken, schloss die Augen und konzentrierte sich. Es war schon eine ganze Weile her, seit er sich mit einem seiner nützlichsten Agenten in Verbindung gesetzt hatte. Falls dieser noch lebte, wusste er sicher, was in der Festung vor sich ging.

Der Magier stellte sich das Gesicht dessen vor, mit dem er sprechen wollte, dann gingen seine Gedanken hinaus, und mit seiner ganzen Kraft öffnete er die Verbindung, die zwischen ihnen bestand.

»Höre mich jetzt … höre meine Stimme … es ist notwendig, dass wir miteinander sprechen … der Tag mag endlich gekommen sein, mein geduldiger Freund, der Tag der Freiheit und der Erlösung … höre mich …Rom …«

Загрузка...