8

Sie näherten sich Grim Batol.

Nekros wusste, dass dieser Tag hatte kommen müssen. Seit der furchtbaren Niederlage Doomhammers und der Hauptstreitmacht der Horde hatte er die Tage gezählt, die vergehen würden, bis die siegreichen Menschen und ihre Verbündeten auf die Überbleibsel des Ork-Reiches in Khaz Modan zu marschierten. Zwar hatte sich die Allianz von Lordaeron Meter um Meter mit Blut erkämpfen müssen, aber schließlich waren ihre Truppen durchgebrochen. Nekros konnte die Armeen, die sich entlang der Grenzen sammelten, regelrecht sehen.

Aber bevor die Heere zum endgültigen Schlag ausholten, versuchten sie, die Orks noch weiter zu schwächen. Wenn er den Worten Krylls trauen durfte, der in diesem Fall keinen Grund hatte, ihn zu belügen, dann war eine Verschwörung im Gange, um die Drachenkönigin entweder zu befreien oder zu töten. Der Goblin konnte nicht sagen, wie viele genau zu diesem Zweck ausgesandt worden waren, aber unter Berücksichtigung verstärkter militärischer Bewegungen im Nordwesten nahm Nekros an, dass eine Unternehmung von dieser Tragweite mindestens ein Regiment handverlesener Ritter und Waldläufer erforderte. Auch würden sicher Zauberer mobilisiert werden, mächtige Zauberer.

Der Ork hob seinen Talisman hoch. Nicht einmal die Dämonenseele würde es ihm ermöglichen, den Hort ausreichend zu verteidigen, und auch von seinem Häuptling würde er keine Unterstützung erhalten. Zuluhed bereitete seine Männer auf den erwarteten Angriff im Norden vor. Ein paar niedere Akolythen beobachteten die südlichen und westlichen Grenzen, aber Nekros hatte ungefähr so viel Vertrauen in sie, wie in die geistige Gesundheit von Kryll. Nein, wie immer hing alles an dem verkrüppelten Ork und den Entscheidungen, die er treffen würde.

Er humpelte durch den Korridor, bis er zum Aufenthaltsraum der Drachenreiter gelangte. Es lebten nur noch wenige Veteranen, darunter einer, dem Nekros sein vollstes Vertrauen schenkte, und der noch immer in jeder Schlacht an vorderster Front ritt.

Die meisten der Krieger hockten um den Tisch in der Mitte des Raumes herum, dem Platz, wo sie Kämpfe diskutierten, aßen, tranken und mit Knochen würfelten. Dem Klappern nach zu urteilen, das aus der Mitte der versammelten Schar drang, wagte selbst jetzt einer ein kleines Spielchen. Die Reiter würden von der Unterbrechung nicht begeistert sein, aber Nekros hatte keine andere Wahl.

»Torgus! Wo ist Torgus?«

Einige der massigen Krieger schauten in seine Richtung, und ihr ungehaltenes Grunzen gab ihm zu verstehen, dass er für sein Eindringen besser einen triftigen Grund vorzuweisen hatte.

Nekros bleckte die Zähne und legte die mächtige Stirn in Falten. Trotz des Verlustes seines Beines war er zum Anführer bestimmt worden, und niemand, nicht einmal die Drachenreiter, durften ihn geringschätzig behandeln.

»Also? Einer von euch Kerlen kriegt jetzt das Maul auf, oder ich verfüttere eure Körperteile an die Drachenkönigin!«

»Hier, Nekros …« Eine große Gestalt erhob sich aus der Gruppe und schraubte sich in die Höhe, bis sie einen Kopf größer war als jeder andere anwesende Ork. Ein Antlitz, selbst nach Ork-Maßstäben hässlich, starrte Nekros entgegen. Ein Hauer war abgebrochen, und Narben zierten beide Seiten des quadratischen, bärenhaften Gesichts. Schultern, eineinhalbmal so breit wie die von Nekros endeten in muskulösen Armen, so dick wie dessen gutes Bein. »Ich bin hier …«

Torgus kam auf seinen Anführer zu, und die übrigen Reiter wichen ihm rasch und respektvoll aus. Torgus bewegte sich mit der kühnen Selbstsicherheit eines Ork-Kriegers, und dies mit vollem Recht, denn unter seiner Führung hatte sein Drache mehr Schaden angerichtet, mehr Greifenreiter in den Tod geschickt und den Streitkräften der Menschen mehr Truppenaufgebote abgerungen, als jeder seiner Artgenossen. Abzeichen und Orden von Doomhammer und Blackhand, ganz zu schweigen von denen verschiedener Clanführer wie Zuluhed, baumelten vom Axtgurt um seine Brust.

»Was willst du von mir, Alter? Noch eine Sieben, und ich hätte sie alle dran gehabt! Hoffentlich ist es wichtig, weshalb du mich störst …!«

»Es geht um das, wofür du ausgebildet wurdest!«, schnappte Nekros, entschlossen sich selbst von diesem Krieger-Ungetüm nicht einschüchtern zu lassen. »Es sei denn, du hast deine Kämpfe neuerdings nur noch an den Spieltisch verlegt!«

Einige der anderen Reiter begannen zu raunen, aber Torgus' Neugierde schien geweckt. »Ein Spezialauftrag? Etwas, das besser ist, als ein paar unbedeutende Menschenbauern abzufackeln?«

»Etwas, bei dem es um Soldaten geht – und vielleicht noch einen Zauberer oder zwei. Wäre das nach deinem Geschmack?«

Rote, grausame Augen verengten sich zu Schlitzen. »Erzähl mir mehr davon, Alter …!«


Endlich verfügte Rhonin über ein Transportmittel, um nach Khaz Modan zu gelangen. Das hätte ihn eigentlich froh stimmen sollen, aber der Preis dafür erschien dem Zauberer allzu hoch. Schlimm genug, dass er auf die Zwerge angewiesen sein würde, die ihn eindeutig ebenso wenig mochten wie er sie, aber Vereesas Ankündigung, ihn ebenfalls begleiten zu müssen – gleichwohl es sich zugegebenermaßen um eine notwendige Ausrede gehandelt hatte, um überhaupt Falstads Einwilligung zu erhalten –, hatte seine ursprüngliche Planung endgültig zunichte gemacht. Es war seine erklärte Absicht gewesen, die Fahrt nach Grim Batol allein anzutreten – ohne Begleiter und das Risiko, eine neuerliche Katastrophe heraufzubeschwören.

Weitere Tote.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war ihm gerade eben auch noch zu Ohren gekommen, dass es Lord Duncan Senturus irgendwie geschafft gebracht hatte, den starrköpfigen Falstad davon zu überzeugen, ihn ebenfalls mitzunehmen.

»Das ist Irrsinn!«, wiederholte Rhonin – er wusste nicht mehr, wie oft schon. »Es ist nicht nötig, dass noch andere mitreisen!«

Doch selbst während sich die Greifenreiter bereits darauf vorbereiteten, sie auf die andere Seite des Meeres zu fliegen, schenkte ihm niemand Gehör. Niemand wollte hören, was er einzuwenden hatte. Er argwöhnte sogar, dass, sollte er sich weiterhin beklagen, Rhonin schließlich der Einzige sein könnte, der nicht mitflog – so sinnlos dies auch erscheinen mochte. Falstad hatte ihm jedenfalls bereits Blicke zugeworfen, die sich in diese Richtung deuten ließen …

Duncan hatte sich zu seinen Männern begeben, Roland das Kommando übertragen und seine Anweisungen hinterlassen. Der bärtige Ritter händigte seinem jüngeren Stellvertreter etwas aus, das wie ein Medaillon aussah. Rhonin machte sich keine Gedanken darüber – die Ritter der Silbernen Hand schienen tausend Rituale für die kleinsten Anlässe zu pflegen –, doch Vereesa, die an seine Seite getreten war, erklärte ihm: »Duncan hat Roland das Siegel seines Kommandos übergeben. Wenn dem älteren Paladin etwas passiert, wird Roland dauerhaft seinen Platz in der Hierarchie einnehmen. Die Ritter der Silbernen Hand überlassen nichts dem Zufall.«

Er wandte sich ihr zu, wollte eine Frage dazu stellen, doch sie war bereits gegangen. Ihr Verhältnis beschränkte sich seit seiner geflüsterten Drohung auf das Allernotwendigste. Rhonin fühlte sich in einer Zwickmühle, wollte er doch nicht, dass die Waldläuferin seinetwegen Schaden nahm. Nicht einmal Duncan Senturus wünschte er etwas wirklich Böses, auch wenn der Paladin wahrscheinlich weniger Probleme als Rhonin haben würde, im Landesinneren von Khaz Modan zu überleben.

»Zeit für den Aufbruch!«, brüllte Falstad. »Die Sonne ist bereits aufgegangen, und selbst Großväter sind aufgestanden, um ihr Tagwerk anzugehen! Sind wir nun endlich soweit?«

»Von mir aus kann es losgehen«, gab Duncan mit einer Gelassenheit zurück, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen zu sein schien.

»Auch ich bin bereit«, antwortete der Zauberer schnell. Seiner Nervosität zum Trotz, wollte er niemandem Anlass geben, ihm die Schuld für eine etwaige Verspätung zu geben. Wäre es nach ihm gegangen, hätten er und ein einzelner Greifenreiter sich noch bei Nacht auf den Weg gemacht. Falstad jedoch war der Ansicht gewesen, dass die Tiere nach den Anstrengungen des zurückliegenden Tages die Nacht zur Erholung brauchten und was Falstad sagte, war Gesetz bei seinesgleichen.

»Dann lasst uns aufsitzen!« Der gut gelaunte Zwerg lächelte Vereesa an und streckte ihr die Hand entgegen. »Meine Elfendame …«

Gleichfalls lächelnd, schloss sie sich ihm an und nahm auf seinem Greifen Platz. Rhonin bemühte sich, unbeteiligt zu wirken, aber er hätte es lieber gesehen, wenn sie nicht mit Falstad, sondern mit einem x-beliebigen anderen Zwerg geflogen wäre. Eine entsprechende Bemerkung hätte ihn jedoch zum kompletten Narren gemacht. Und abgesehen davon, was ging es ihn an, wessen Gesellschaft die Waldläuferin vorzog?

»Beeilt Euch, Zauberer!«, knurrte Molok. »Ich möchte diese Reise gewiss ebenso rasch hinter mich bringen wie Ihr!«

Duncan stieg in etwas leichterer Kleidung hinter einem der verbliebenen Reiter auf. Als Waffenbruder respektierten die Zwerge den Paladin, wertschätzten ihn sogar bis zu einem gewissen Grad. Sie wussten um die Tapferkeit des Heiligen Ordens in den zurückliegenden Schlachten, und vermutlich war dies auch der Grund gewesen, warum es Lord Senturus so verhältnismäßig leicht gefallen war, sie davon zu überzeugen, dass es unabdingbar war, ihn mitzunehmen.

»Haltet Euch gut fest!«, wies Molok Rhonin an. »Oder Ihr endet schon spätestens auf halber Strecke als Futter für die Fische!«

Mit diesen Worten trieb der Zwerg den Greifen an, der ohne Zögern in die Lüfte stieg. Der Zauberer hielt sich so gut es ihm möglich war fest, während ihn das gewöhnungsbedürftige Gefühl übermannte, dass sein Herz in die Magengrube rutschte. Ein Mehr an Sicherheit erlangte er dadurch nicht gerade.

Rhonin war noch nie auf einem Greifen geritten, und während die mächtigen Flügel des Tieres auf und ab peitschten, entschied er sehr rasch, dass er, im Falle seines Überlebens, auch keine Lust auf eine Wiederholung haben würde. Mit jedem schweren Flügelschlag der Kreatur, die halb Vogel, halb Löwe war, schien sich das Innerste von Rhonins Magen nach außen zu stülpen. Hätte es eine Alternative gegeben, der Zauberer hätte sie mit Freuden gewählt.

Allerdings musste er zugeben, dass die Kreaturen eine unglaubliche Geschwindigkeit erreichten. Innerhalb von Minuten hatte die Gruppe nicht nur Hasic, sondern die gesamte Küste aus den Augen verloren. Sicherlich konnten nicht einmal Drachen mit ihnen mithalten, obwohl das Rennen knapp ausgefallen wäre. Rhonin rief sich ins Gedächtnis, wie drei der kleineren Greife um den Kopf des roten Leviathan geschwirrt waren. Ein gefährliches Kunststück, das sich wahrscheinlich nur wenige Lebewesen zutrauten.

Weit unten herrschte schwere See. Wellen schwollen zu beängstigender Höhe an, um sich ebenso rasch wieder in tiefe Täler abzusenken. Der Wind umbrauste Rhonin, und der feine Wassernebel zwang ihn, seine Mantelkapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen, um wenigstens teilweise vor der aufgewirbelten Nässe geschützt zu sein. Molok schienen die tobenden Elemente nicht zu stören; genau genommen erweckte er sogar den Anschein, sich daran zu erfreuen.

»Wie … wie lange glaubt Ihr, brauchen wir bis Khaz Modan?«

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Ein paar Stunden, Mensch. Kann es nicht besser schätzen.«

Seine düsteren Gedanken für sich behaltend, kauerte sich der Zauberer zusammen und versuchte, die Unbilden des Fluges so gut wie möglich zu ignorieren. Der Gedanke an die Wasserwüste unter ihren Leibern beunruhigte ihn mehr, als er es gedacht hätte. Zwischen Hasic und der Küste von Khaz Modan bot das verheerte Inselkönigreich Tol Barad die einzige optische Abwechslung im ewigen Einerlei der Wellen. Falstad hatte bereits erklärt, dass die Gruppe dort nicht landen würde. Gleich zu Beginn des Krieges von den Orks überrannt, hatte kein Leben, höher als Unkraut oder Insekten, den blutigen Sieg der Horde überstanden. Noch immer ging der Hauch des Todes von der Insel aus, so durchdringend, dass es nicht einmal Rhonin in den Sinn kam, die Entscheidung des Zwerges anfechten zu wollen.

Weiter und weiter flogen sie. Gelegentlich riskierte Rhonin einen Blick auf seine Begleiter. Duncan trat den zürnenden Elementen noch immer mit unerschütterlichem Gleichmut entgegen; die Gischt, die sein bärtiges Gesicht drangsalierte, schien ihm nicht einmal bewusst zu werden. Aber wenigstens Vereesa zeigte eine Reaktion auf diese völlig irrsinnige Art zu reisen. Wie der Magier, hielt auch sie ihren Kopf die meiste Zeit weit nach unten geneigt, und ihr langes Silberhaar lag unter der Kapuze ihres Reisemantels verborgen. Sie kauerte dicht hinter Falstad, der, zumindest kam es Rhonin so vor, ihr Unbehagen zu genießen schien.

Schließlich beruhigte sich sein Magen auf ein erträgliches Maß. Rhonin schielte nach der Sonne und berechnete, dass sie nun schon an die fünf Stunden oder mehr in der Luft sein mussten. Bei der Geschwindigkeit, mit der die Greifen entlang des Himmels zogen, hatten sie bestimmt schon die Hälfte des Weges hinter sich gebracht.

Schließlich brach er das Schweigen und erkundigte sich bei Molok danach.

»Hälfte des Weges?« Der Zwerg lachte. »Zwei weitere Stunden, und ich denke, wir werden die Westausläufer von Khaz Modan in der Ferne aufragen sehen! Hälfte des Weges? Ha!«

Diese Neuigkeit und die plötzliche gute Laune des Zwerges entlockten Rhonin ein Lächeln. Er hatte also schon fast drei Viertel der Reise überstanden … Nur noch etwas mehr als zwei Stunden, und er würde wieder festen Boden unter den Füßen haben. Wenigstens einmal hatte er ein Ziel erreicht, ohne von einem unliebsamen Zwischenfall aufgehalten zu werden …

»Findet Ihr einen Platz zum Landen, sobald wir dort sind?«

»Jede Menge Plätze finden wir für Euch, Zauberer, nur keine Bange. Wir werden Euch bald genug los sein! Hoffe nur, es fängt nicht vorher an zu regnen.«

Rhonin beäugte die Wolken, die im Laufe der letzten halben Stunde aufgezogen waren, misstrauisch. Möglicherweise handelte es sich um Regenwolken, aber er nahm an, dass das Wetter noch solange halten würde, bis die Gruppe ihr Ziel erreicht hatte. Alles, worum er sich jetzt noch Sorgen machen musste, war das Ausfindigmachen des günstigsten Weges nach Grim Batol, sobald die anderen sich auf den Heimflug nach Lordaeron begeben hatten.

Rhonin wusste nur zu gut, wie die anderen auf seinen dreisten Plan reagiert hätten, wäre er ihnen bekannt geworden. Erneut dachte er an die Geister, die ihn verfolgten, an die Schatten der Vergangenheit. Sie waren seine wahren Gefährten auf dieser wahnsinnigen Reise, die Furien, die ihn vorantrieben. Sie würden ihn auf seiner Mission entweder siegen oder sterben sehen.

Sterben … Nicht zum ersten Mal seit dem Tod seiner früheren Gefährten fragte er sich, ob dies nicht vielleicht die beste Lösung für alle gewesen wäre. Vielleicht hätte er seine Schuld auf diese Weise wenigstens vor sich selbst sühnen können, wenn schon nicht vor den Spukgestalten in seinem Kopf.

Aber zuerst musste er Grim Batol erreichen.

»Da, Zauberer, schaut!«

Er schrak zusammen und wurde sich erst jetzt bewusst, dass er irgendwann in den letzten Minuten eingedöst war. Rhonin spähte über Moloks Schulter in die Richtung, die ihm der Zwerg wies. Durch den Tränenfilm konnte der Zauberer zunächst nichts erkennen. Doch nachdem sich sein Blick geklärt hatte, entdeckte er zwei dunkle Flecken am Horizont. Zwei bewegungslose Flecken. »Ist das Land?«

»Aye, Zauberer! Die ersten Vorläufer von Khaz Modan.«

So nah! Neuer Lebensmut, fast ein Hochgefühl stieg in Rhonin auf, als er begriff, dass es ihm gelungen war, den Rest des Fluges regelrecht zu verschlafen.

Khaz Modan! Gleichgültig, wie gefährlich die Reise von nun an werden würde, er hatte es immerhin bis hierher geschafft. Bei der Geschwindigkeit der Greifen würde es nur noch kurze Zeit dauern, bis sie auf festem Boden niedergingen …

Zwei neue Flecken zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, zwei Flecken in der Luft, die sich bewegten und dabei größer wurden, als kämen sie der Gruppe entgegen!

»Was ist das? Was kommt da auf uns zu?«

Molok beugte sich blinzelnd nach vorn. »Bei den zerklüfteten Eisbergen von Northeron … Drachen! Zwei davon!«

Drachen …

»Rote?«

»Kümmert Euch die Farbe des Himmels, Zauberer? Ein Drache ist ein Drache, bei meinem Bart, und die da kommen verflucht rasch auf uns zu!«

Ein Blick zu den anderen Greifenreitern zeigte Rhonin, dass dort die Drachen auch entdeckt worden waren. Die Zwerge begannen sofort auf Falstads Befehl, ihre Formation zu ändern und fächerten auseinander, um jeder für sich ein eigenes, schwieriger angreifbares Ziel zu bieten.

Rhonin bemerkte, dass Falstad selbst sich zurückfallen ließ, vermutlich, weil Vereesa mit ihm ritt. Auf der anderen Seite schoss der Greif, auf dem Duncan Senturus saß, nach vorn und ließ den Rest der Gruppe regelrecht hinter sich zurück.

Die Drachen schienen ebenfalls eine Strategie zu verfolgen. Der Größere von beiden stieg auf und scherte dann zur Seite aus. Rhonin erkannte sofort, dass die beiden Leviathane beabsichtigten, die Greife in die Zange zu nehmen.

Im Näherkommen fügten sich die gewaltigen Schemen auf den Rücken der Drachen zu den grobschlächtigsten Orks zusammen, die Rhonin jemals erblickt hatte.

Der Ork, der den größeren der beiden Leviathane steuerte, schien der Anführer zu sein. Er verständigte sich wild gestikulierend mit dem anderen Ork, dessen Tier schließlich in die entgegengesetzte Richtung abdrehte.

»Fähige Reiter!«, rief Molok mit für Rhonins Geschmack viel zu viel Eifer. »Vor allem der Eine zu unserer Rechten … Das wird ein glorreicher Kampf!«

Und einer, in dessen Verlauf Rhonin durchaus sein Leben verlieren konnte, und das ausgerechnet jetzt, da es den Anschein gehabt hatte, als könnte er seine Mission endlich allein und ungestört fortsetzen. »Wir können nicht gegen sie kämpfen. Wir müssen zur Küste!«

Er hörte Molok voller Unmut grunzen: »Mein Platz ist in der Schlacht, Zauberer!«

»Meine Mission hat Vorrang!«

Einen Augenblick befürchtete er, der Zwerg würde ihn einfach abwerfen. Dann jedoch nickte Molok mehr als widerstrebend und rief: »Ich werde tun, was ich kann, Zauberer. Wenn sich eine Lücke zeigt, werden wir es zur Küste versuchen. Ich setze Euch ab und das war's dann zwischen uns beiden!«

»Einverstanden.«

Sie verloren keine weiteren Worte, denn in diesem Moment prallten die gegnerischen Parteien aufeinander.

Die flinkeren, weit agileren Greife jagten um die Drachen herum und brachten sie damit aus der Fassung. Jene Tiere hingegen, die mit einem für sie ungewohnt hohen Gewicht belastet waren, konnten bei weitem nicht so gewagte Manöver ausführen wie sonst. Eine mächtige Pranke mit messerscharfen Klauen erwischte deshalb um ein Haar Falstad und Vereesa, und auch Duncan und sein Zwergenbegleiter wurden nur knapp von einer Schwinge eines Drachens verfehlt und einen Kopf kürzer gemacht. Doch sie rückten dem Leviathan unbeeindruckt weiter zu Leibe.

Molok zog seinen Sturmhammer, schwenkte ihn in der Luft und brüllte dazu wie jemand, dem soeben der Haarschopf in Brand gesteckt worden war. Rhonin hoffte, dass der Zwerg im Eifer des Gefechts sein Versprechen nicht vergessen würde.

Der zweite Drache stieß herab und spähte sich unglücklicherweise ausgerechnet Falstad und Vereesa als Ziel aus. Falstad spornte seinen Greif an, doch mit der Elfe als zusätzliche Bürde vermochten die Flügel des Greifen einfach nicht schneller zu schlagen. Der riesige Ork feuerte seinen Drachen derweil mit immer mordlustigerem Gebrüll und wahnsinnigen Schwüngen seiner monströsen Streitaxt an.

Rhonin biss die Zähne zusammen. Er konnte nicht einfach zusehen, wie die beiden Gefährten ins Verderben gerissen wurden, vor allem die Waldläuferin.

»Molok! Da – der Größere, greift ihn an! Wir müssen ihnen beistehen!«

Obwohl er dem Befehl mit sichtlicher Begeisterung Folge leistete, konnte es sich der narbenübersäte Zwerg nicht verkneifen, Rhonin an seine frühere Absicht zu erinnern. »Was ist nun mit Eurer so unglaublich wichtigen Mission?«

»Tut es einfach!«

Ein breites Grinsen breitete sich über Moloks Gesicht. Er stieß einen Schrei aus, der dem Magier durch Mark und Bein ging, dann lenkte er den Greifen auf den Drachen zu.

Im Rücken des Zwergenkriegers bereitete Rhonin einen Zauber vor. Ihnen blieben nur noch Sekunden, bis der rote Leviathan Vereesa erreichte.

Falstad riss sein Reittier mit einem jähen Ruck herum und überraschte damit den Drachenreiter. Das mächtige Wesen stob vorbei, unfähig sich der Wendigkeit seines kleineren Gegners anzugleichen.

»Festhalten, Zauberer!«

Moloks Greif stürzte fast senkrecht nach unten. Rhonin bekämpfte die in ihm aufsteigenden Urängste und kramte die letzten Reste des beabsichtigten Spruches aus seinem Gedächtnis. Wenn er jetzt noch genügend Atem fand, um ihn auch zu wirken …

Molok stieß einen Kriegsschrei aus, der die Aufmerksamkeit des Orks auf sie lenkte. Mit gerunzelter Stirn schnellte die groteske Gestalt herum, um sich dem neu aufgetauchten Gegner zu stellen.

Sturmhammer krachte gegen Streitaxt.

Ein Funkenschauer ließ den Zauberer fast den Halt verlieren. Der Greif kreischte vor Überraschung und Schmerz. Molok kippte beinahe aus seinem Sattel.

Ihr Reittier handelte selbständig und stieg höher in den Himmel, fast bis in die dichter werdenden Wolken hinein. Molok setzte sich wieder zurecht. »Beim Adlerhorst! Habt Ihr das gesehen? Wenige Waffen oder ihre Benutzer können gegen einen Sturmhammer bestehen! Das gibt eine interessante Auseinandersetzung …«

»Lasst mich zuerst etwas versuchen.«

Die Miene des Zwerges verdüsterte sich. »Magie? Wo blieben da Ehre und Tapferkeit?«

»Wie könnt Ihr den Ork bekämpfen, wenn Euch der Drache nicht mehr an sich heranlässt? Das erste Mal hatten wir pures Glück!«

»Also gut. Solange Ihr mich damit nicht um meinen Kampf bringt.«

Rhonin wollte keine Versprechungen machen, vor allem deshalb nicht, weil er sich insgeheim erhoffte, genau dies zu bewirken. Er fasste den Drachen ins Auge, der ihnen hart auf den Fersen war, und murmelte Worte der Macht. Erst im letzten Moment vor Vollendung des Spruchs richtete der Zauberer seinen Blick hinauf zu den Wolken.

Ein einzelner Blitzschlag fuhr daraus herab und traf den sie verfolgenden Giganten.

Er erwischte den Drachen voll, doch das Ergebnis entsprach nicht ganz dem, was sich Rhonin erhofft hatte. Der Körper der Kreatur glomm von Flügelspitze zu Flügelspitze auf, und die Bestie stieß einen wütenden Schrei aus – aber sie fiel nicht vom Himmel. Genau genommen reagierte sogar der Ork, der ohne Zweifel beträchtlichen Schaden genommen hatte, nicht viel spektakulärer, als dass er in seinem Sattel nach vorne fiel.

Unzufrieden musste sich der Zauberer damit trösten, dass er die Ork-Kreatur zumindest betäubt hatte. Und im Augenblick befanden sich weder er noch Vereesa in unmittelbarer Gefahr. Der Drache war voll und ganz damit beschäftigt, sich in der Luft zu halten.

Rhonin legte eine Hand auf Moloks Schulter. »Zur Küste! Rasch jetzt!«

»Seid Ihr noch ganz klar in Eurem Schädel, Zauberer? Was ist mit dem Kampf, zum dem Ihr mich eben noch …«

»Sofort!«

Widerwillig und wahrscheinlich auch nur, um seine leidige Fracht endlich loszuwerden, weniger, weil er dem Magier echte Befehlsgewalt zugestand, riss Molok seinen Greif erneut herum und schlug einen anderen Kurs ein.

Indes forschte der besorgte Magier nach Vereesas Verbleib. Er konnte weder sie noch Falstad entdecken. Rhonin überlegte, ob er seinen Befehl ein weiteres Mal widerrufen sollte, aber er wusste, dass er Khaz Modan unbedingt erreichen musste. Gewiss würden die Zwerge mit den beiden Herausforderungen fertig werden.

Ganz sicher würden sie das schaffen!

Moloks Greif hatte bereits begonnen, sie vom Kampfgebiet zu entfernen. Rhonin haderte weiterhin mit sich selbst, ob er nicht zur Umkehr verpflichtet war.

Ein mächtiger Schatten fiel über sie.

Beide Reiter blickten bestürzt nach oben.

Der zweite Drache hatte sich ihnen genähert, während sie auf anderes konzentriert gewesen waren …

Der Greif versuchte, sich im Sturzflug außer Reichweite zu bringen. Das treue Tier schaffte es beinahe, doch dann fuhren scharfe Klauen durch seinen rechten Flügel. Das löwenartige Geschöpf brüllte vor Schmerz und versuchte verzweifelt, sich in der Luft zu halten. Rhonin erblickte über sich das weit geöffnete Maul des Drachen. Das Untier beabsichtigte, sie in einem Stück zu verschlingen!

Da rauschte hinter dem Drachen ein zweiter Greif heran – Duncan und sein Zwergengefährte. Der Paladin hielt sich in abenteuerlicher Pose im Sattel und schien bemüht zu sein, den Zwerg zu etwas zu überreden. Rhonin hatte keine Ahnung, was der Ritter beabsichtigte, aber er wusste, dass der Drache ihn und Molok erwischen würde, noch bevor er einen passenden Zauber über die Lippen brachte.

Duncan Senturus sprang.

»Götter und Dämonen!«, schrie Molok. Zum ersten Mal zeigte sich der tollkühne Zwerg von dem an Wahnsinn grenzenden Mut eines anderen Lebewesens beeindruckt.

Erst verspätet begriff Rhonin, was der Paladin versuchen wollte. Mit einem Sprung, der jeden anderen ins Verderben gestürzt hätte, landete der kampferprobte Ritter mit unglaublicher Zielgenauigkeit im Nacken des Drachen. Er packte den dicken Hals und hatte sich bereits zurecht gesetzt, als die Bestie und ihr Ork-Lenker endlich begriffen, was passiert war.

Der Ork hob seine Axt und versuchte, Lord Senturus mit einem fürchterlichen Hieb in den Rücken niederzustrecken, verfehlte ihn jedoch knapp. Duncan streifte ihn mit einem Blick, schien den Barbaren aber ansonsten nicht länger zu beachten. Den unbeholfenen Versuchen des Drachen, der nach ihm schnappte, ausweichend, rutschte er weiter nach vorne.

»Er muss völlig irre sein!«, keuchte Rhonin.

»Nein, Zauberer – er ist nur … ein Krieger

Rhonin vermochte den ehrfürchtigen Tonfall des Zwerges nicht nachzuvollziehen, bis er sah, wie Duncan, der die Beine und einen seiner Arme fest um den Hals des Reptils geschlungen hatte, seine schimmernde Klinge zog. Der Ork folgte dem Paladin langsam kriechend und ein mordlustiges Glitzern in den geröteten Augen.

»Wir müssen etwas tun. Ich muss näher heran«, seufzte Rhonin.

»Zu spät, Mensch! Manche Heldenlieder sind einfach vorherbestimmt …«

Der Drache versuchte nicht, Duncan abzuschütteln, wahrscheinlich um zu verhindern, dass auch seinem Lenker Gefahr drohte. Der Ork bewegte sich mit mehr Sicherheit als der Ritter und kam rasch in Reichweite seiner gewaltigen Schlachtaxt.

Duncan hatte beinahe den Kopfansatz der Bestie erreicht und holte mit seinem Langschwert aus, um es, daran gab es keinen Zweifel, dort hinein zu stoßen, wo der Schädel mit dem Rückgrat verbunden war.

Der Ork kam ihm mit seinem Hieb zuvor.

Die Axt grub sich in Lord Senturus Rücken und fraß sich durch das dünnere Kettenhemd, das der Mann für die Reise ausgewählt hatte. Duncan gab keinen Laut von sich, aber er fiel vorwärts und verlor beinahe sein Schwert. Im letzten Moment konnte er seinen Halt wahren und schaffte es doch noch, die Schwertspitze auf die anvisierte Stelle zu setzen, seine Kraft begann allerdings sichtlich zu schwinden.

Abermals hob der Ork seine Axt.

Rhonin initiierte den ersten Zauber, der ihm in den Sinn kam.

Ein Lichtblitz, hell wie die Sonne, explodierte vor den Augen des Orks, der mit einem überraschten Brüllen zurückzuckte und dabei sowohl seine Waffe als auch den Halt verlor. Der Krieger versuchte verzweifelt, sich irgendwo festzuklammern. Dies misslang ihm aber, und so glitt er schreiend vom Hals des Drachen in die Tiefe.

Der Zauberer wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder dem Paladin zu, der, wie es Rhonin schien, den Blick mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Respekt erwiderte. Auf seinem Rücken breitete sich ein tiefroter Fleck aus. Dennoch gelang es Duncan, sich aufzurichten und die Klinge seines Schwertes hoch zu erheben.

Der Drache erkannte, dass es keinen Grund mehr gab, sich Zurückhaltung aufzuerlegen, und tauchte nach unten.

Lord Senturus rammte die Klinge tief in das nachgiebige Fleisch zwischen Hals und Kopf und bohrte sie bis zur Hälfte in den Leviathan hinein.

Das rote Ungeheuer zuckte unkontrolliert. Flüssigkeit schoss aus der Wunde heraus, so heiß, dass sie den Paladin verbrühte. Er rutschte rückwärts und verlor den Halt.

»Hin zu ihm, verdammt und zugenäht!«, befahl Rhonin dem Zwerg. »Hin zu ihm!«

Der Zwerg gehorchte, doch Rhonin wusste, dass sie Duncan niemals rechtzeitig erreichen würden. In Flugrichtung sah er einen weiteren Greifen heranjagen: Falstad und Vereesa. So überladen sein Reittier auch jetzt schon sein mochte, hoffte der Anführer der Staffel offenbar dennoch, den Paladin retten zu können.

Für einen Augenblick schien es tatsächlich, als würde es ihnen gelingen. Falstads Greif näherte sich dem schwankenden Krieger. Duncan hob den Blick, richtete ihn erst auf Rhonin, dann auf Falstad und Vereesa, schüttelte den Kopf … und stürzte vornüber von dem sich aufbäumenden Drachen.

»Neeeeiiiiin!« Rhonin streckte den Arm nach der fernen Gestalt aus. Insgeheim wusste er, dass Lord Senturus bereits tot war, dass nur eine Leiche der See entgegenfiel, doch der Anblick spülte alle unguten Erinnerungen an seine zurückliegenden, fehlgeschlagenen Mission wieder an die Oberfläche. Seine Albträume hatten ihn eingeholt – erneut hatte er einen Begleiter verloren, und es spielte keine Rolle, dass sich Duncan selbst angeboten hatte, die Reise mitzumachen.

»Pass auf!«

Moloks Warnung riss ihn aus der Erstarrung. Er blickte auf und sah den Drachen, der im Todeskampf die Luftmassen durchwühlte. Die riesigen Flügel schlugen nach allen Seiten, bewegten sich völlig willkürlich. Falstad brachte sein Tier nur knapp außer Reichweite einer der Schwingen, und zu spät erkannte Rhonin, dass er und Molok ähnliches Glück schwerlich haben würden.

»Hoch mit dir, du verdammtes Vieh!«, brüllte Molok. »Hoch mit …«

Der Flügel traf sie mit voller Wucht und riss den Magier aus seinem Sattel. Der Schrei des Zwerges mischte sich mit dem Kreischen des Greifen. In seiner Betäubung bekam Rhonin kaum mit, dass er, zumindest für einen kurzen Moment lang, in die Luft geschleudert wurde. Doch der Auftrieb währte nicht lange, die Schwerkraft setzte sich durch, und der entkräftete Magier begann, immer schneller werdend, zu fallen …

Er musste einen Zauber wirken. Irgendeinen Zauber. Doch so sehr er sich auch bemühte, ihm fielen nicht einmal die Anfangsworte eines Spruches ein, und ein Teil von ihm schien sich bereits damit abgefunden zu haben, diesmal sterben zu müssen.

Dunkelheit von einer völlig widernatürlichen Art umfing ihn. Rhonin glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Doch mit der Dunkelheit kam eine dröhnende Stimme, die eine ganz spezielle Saite in seiner Erinnerung zum Klingen brachte.

»Ich habe dich sicher, mein Kleiner, nun schon zum zweiten Male. Hab keine Furcht – hab keine Furcht.«

Und dann schloss sich eine Reptilienpranke um ihn – so gewaltig, dass Rhonin sich darin fast verlor …

Загрузка...