10

Zum zweiten Mal in den letzten paar Tagen erwachte Rhonin unter Bäumen. Diesmal jedoch begrüßte ihn, sehr zu seiner Enttäuschung, nicht Vereesa. Stattdessen erwachte er unter einem dämmernden Abendhimmel und in völliger Stille. Keine Vögel waren im Geäst zu hören, keine Tiere bewegten sich durch das Dickicht.

Eine düstere Vorahnung überkam den Zauberer. Vorsichtig hob er den Kopf und blickte sich um. Rhonin sah nicht viel mehr als Bäume und Buschwerk. Auf jeden Fall keinen Drachen, insbesondere keinen von der Größe und Heimtücke eines …

»Ah, du bist endlich erwacht …«

Deathwing?

Rhonin schaute nach links – eine Richtung, die er eigentlich bereits überprüft hatte – und beobachtete voller Unbehagen, wie sich ein Teil der länger werdenden Schatten um ihn herum bewegte und zu einer verhüllten Gestalt zusammenfügte, zu jemandem, den er kannte.

»Krasus?«, murmelte er, doch einen Moment später war ihm klar, dass dies nicht sein gesichtsloser Gönner sein konnte. Was sich vor ihm bewegte, trug die Schatten mit Stolz, lebte als Teil von ihnen.

Nein, sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Deathwing. Der Umriss mochte menschlich aussehen, aber dahinter konnte, sofern es Drachen möglich war andere Gestalt anzunehmen, nur das schwarze Ungeheuer höchstpersönlich stecken.

Ein Gesicht erschien unter der Kapuze – ein gutaussehender Mann mit dunklen, falkenhaften Zügen. Das Gesicht eines Edlen … zumindest vordergründig. »Geht es dir gut?«

»Dank Euch.«

Die Winkel des schmalen Munds zogen sich in der Andeutung eines Lächelns leicht nach oben. »Du weiß also, wer ich bin, Mensch?«

»Ihr seid … Ihr seid Deathwing, der Zerstörer.«

Die Schatten um die Gestalt herum gerieten in Bewegung, verblassten ein wenig. Das Gesicht, das beinahe als das eines Menschen, beinahe als das eines Elfen durchgegangen wäre, gewann an Kontur. Die Mundwinkel zogen sich etwas weiter in die Höhe. »Einer meiner zahllosen Titel, Magier, und so passend oder unpassend wie jeder andere.« Er legte den Kopf schief. »Ich wusste, dass du eine gute Wahl bist. Du scheinst nicht einmal überrascht, dass ich dir auf diese Weise erscheine.«

»Eure Stimme ist die selbe. Ich könnte sie nie vergessen.«

»Dann bist du scharfsinniger als die meisten, mein sterblicher Freund. Es gibt einige, die würden mich selbst dann nicht erkennen, wenn ich mich vor ihren Augen verwandelte.« Die Gestalt feixte. »Wenn du einen Beweis wünschst, könnte ich ihn jetzt erbringen …«

»Habt Dank – aber, nein.« Die letzten Reste des Tages begannen hinter Rhonins unheilvollem Retter zu verblassen. Er fragte sich, wie lange er ohne Bewusstsein gewesen war – und wohin ihn Deathwing gebracht hatte. Am meisten jedoch beschäftigte ihn die Frage, wieso er noch am Leben war.

»Was wollt Ihr von mir?«

»Ich will nichts von dir, Zauberer Rhonin. Vielmehr wünsche ich, dir bei deiner Aufgabe zu helfen.«

»Meiner Aufgabe?« Niemand außer Krasus und dem Inneren Rat wusste von seiner Mission, und Rhonin hatte sich bereits zu fragen begonnen, ob überhaupt alle Mitglieder der Kirin Tor eingeweiht waren. Zaubermeister konnten sehr geheimnisvoll sein und ihre eigenen geheimen Pläne über alles andere stellen. Ganz gewiss aber hätte das Wesen in seiner momentanen Gesellschaft nichts darüber wissen dürfen.

»Oh ja, Rhonin, deine Aufgabe.« Deathwings Lächeln wuchs plötzlich in eine Breite, die nichts Menschliches mehr an sich hatte, und die Zähne, die dieses Lächeln enthüllte, waren scharf und spitz. »Die große Drachenkönigin zu befreien, die wunderbare Alexstrasza!«

Unsicher, wie der Leviathan vom Inhalt seines Auftrags hatte erfahren können, aber nicht im geringsten zweifelnd, dass Deathwing der Letzte war, der ihn kennen sollte, handelte Rhonin instinktiv. Deathwing verachtete alles Leben, und das schloss auch Drachen ein, die nicht von seiner eigenen Art waren. Es gab keine Geschichte aus vergangenen Tagen, die Sympathien zwischen dem riesigen Untier und der roten Königin auch nur angedeutet hätte.

Der Zauber, den der misstrauische Magier warnungslos schleuderte, hatte ihm im Krieg gute Dienste geleistet. Er hatte das Leben aus einem angreifenden Ork, an dessen fleischigen Händen bereits das Blut von sechs Rittern und einem befreundeten Zauberer geklebt hatte, gequetscht, und in abgeschwächter Form hatte er einen der Ork-Schamanen in Schach gehalten, während Rhonin zum letzten Schlag ausholte.

Mit Drachen hatte Rhonin indes keine Erfahrung. Doch die Schriftrollen hatten darauf bestanden, dass der Spruch seinen Zweck in jedem Falle erfüllte, vor allem wenn es um das Bannen der uralten Giganten ging.

Ringe aus Gold bildeten sich um Deathwing …

… und die schattenhafte Gestalt spazierte einfach durch sie hindurch!

»Nun, war das wirklich notwendig?« Ein Arm hob sich aus der Robe. Deathwing zielte.

Ein Felsbrocken neben Rhonin begann zu brodeln, dann schmolz er direkt vor seinen Augen. Der verflüssigte Stein sickerte in jeden erreichbaren Spalt und verschwand spurlos, und dies alles geschah binnen weniger Sekunden.

»Das hätte ich auch mit dir anstellen können, Zauberer, wäre es meine Absicht gewesen. Zweimal bist du durch mich dem Tod entronnen, soll er das dritte Mal sein Recht erhalten?«

Klugerweise schüttelte Rhonin den Kopf.

»So nimmst du also doch noch Vernunft an.« Deathwing trat näher und wurde mit jedem Schritt stofflicher. Er zielte erneut, diesmal auf die andere Stelle. »Trink. Du wirst es äußerst erfrischend finden.«

Rhonin blickte hinab und entdeckte einen im Gras liegenden Weinschlauch. Obwohl dieser vor wenigen Sekunden noch nicht da gewesen war, zögerte er nicht, ihn aufzuheben und von seinem Inhalt zu kosten. Nicht nur sein mittlerweile immens gewordener Durst verlangte danach, der Drache hätte darüber hinaus eine Weigerung als einen weiteren Akt der Auflehnung verstehen können. In seiner gegenwärtigen Lage blieb Rhonin nichts anderes übrig, als sich ihm zu fügen … und zu hoffen.

Sein schwarzgewandeter Gefährte bewegte sich erneut und wurde kurzzeitig zu einem fast konturlosen Schemen. Dass Deathwing – ganz zu schweigen von jedem anderen Drachen in der Lage war, menschliche Form anzunehmen, beunruhigte den Zauberer. Wer vermochte schon zu sagen, was eine solche Kreatur imstande war, unter Rhonins Volk anzurichten? Und konnte sich Rhonin überhaupt sicher sein, dass Deathwing nicht bereits auf genau diesem Weg seine Intrigen gestrickt hatte!

Doch wenn dem so gewesen wäre, warum enthüllte er dann ein Geheimnis von solcher Dimension gegenüber Rhonin? Es machte nur Sinn, wenn er beabsichtigte, den Magier irgendwann zum Schweigen zu bringen …

»Du weißt so wenig über uns.«

Rhonins Augen weiteten sich. Beinhalteten Deathwings Kräfte die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen?

Der Drache ließ sich zur Linken des Menschen nieder und erweckte dabei den Anschein, auf einem Stuhl oder massiven Felsen zu sitzen, den Rhonin unter der weiten Robe nicht sehen konnte. Starre Augen unter einem nachtschwarzen, spitz zulaufenden Haaransatz trafen und bezwangen Rhonins eigenen Blick.

Als der Zauberer zur Seite sah, wiederholte Deathwing seinen letzten Satz. »Du weißt so wenig über uns.«

»Es … es gibt nicht viele Berichte über Drachen. Die meisten Menschen, die sich bemühten, sie zu erforschen, wurden verspeist.«

So schwach sein Versuch, Humor zu beweisen, dem Zauberer auch selbst vorkommen mochte, so erheiterte er doch Deathwing, wie sich unschwer erkennen ließ. Der Drache lachte. Lachte laut auf. Lachte über etwas, das unter anderen Umständen eine an Wahnsinn grenzende Frechheit dargestellt hätte.

»Ich hatte vergessen, wie unterhaltsam deinesgleichen sein kann, mein kleiner Freund! Wie amüsant!« Das zu breite, zu zähnefletschende Lächeln kehrte in all seinem unheilvollen Glanz zurück. »Ja, in deinen Worten mag ein Körnchen Wahrheit liegen.«

Nicht länger damit zufrieden, einfach vor der bedrohlichen Gestalt auf dem Boden zu liegen, setzte sich Rhonin auf. Er hätte sich vielleicht sogar gestellt, doch ein einfacher Blick von Deathwing schien ihn zu warnen. Zum jetzigen Zeitpunkt schien dies noch keine besonders schlaue Idee zu sein.

»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Rhonin erneut. »Was bin ich für Euch?«

»Du bist Mittel zum Zweck, eine Möglichkeit, ein lange unerreichbares Ziel nun doch zu erreichen – ein verzweifelter Akt einer verzweifelten Kreatur …«

Zunächst verstand Rhonin nicht. Dann entdeckte er die Niedergeschlagenheit in den Zügen des Drachen. »Ihr seid … verzweifelt?«

Deathwing erhob sich wieder und breitete die Arme aus, fast als beabsichtigte er, davonzufliegen. »Was siehst du, Mensch?«

»Eine Gestalt in schattenhaftem Schwarz. Den Drachen Deathwing in einer Maske.«

»Die offensichtliche Antwort – aber siehst du nicht mehr, mein kleiner Freund? Siehst du nicht die treuen Scharen von meinesgleichen? Siehst du nicht die vielen schwarzen Drachen – oder auch die roten, die einst den Himmel beherrschten, lange vor der Geburt von Mensch oder Elf?«

Unsicher darüber, was ihm Deathwing vermitteln wollte, schüttelte Rhonin nur den Kopf. Von einer Sache jedoch war er mittlerweile überzeugt: Der Verstand war kein ständiger Gast im Bewusstsein dieses Geschöpfes.

»Du siehst sie nicht«, begann der Drache, und seine Gestalt nahm reptilienhafte Züge an. Die Augen wurden schmaler, die Zähne länger und schärfer. Selbst der verhüllte Körper wuchs, und es schien, als versuchten Schwingen durch die Robe hindurch zu brechen. Deathwing wurde erneut mehr Schatten denn Fleisch, ein magisches Wesen inmitten seiner Verwandlung gefangen.

»Du siehst sie nicht …«, begann er erneut und schloss kurz die Augen. Die Flügel, die Augen, die Zähne – alles kehrte wieder zu seiner vorherigen Form zurück. Deathwing gewann an Substanz und Menschlichkeit, letzteres jedoch war nur Täuschung, nur Maske. »Kannst sie nicht sehen, weil … sie nicht länger existieren

Er setzte sich. Dann streckte er eine Hand aus, die Innenfläche nach oben gerichtet. Darüber tauchten unversehens Bilder auf: Winzige drachenartige Gestalten schwebten über einer Welt voll grüner Pracht. Die Drachen flatterten in allen Farben des Regenbogens umher. Eine Stimmung überbordender Freude erfüllte die Luft und berührte selbst Rhonin.

»Die Welt war unser, und wir sorgten gut für sie. Die Magie war unser, und wir hüteten sie mit Bedacht. Das Leben war unser … und wir genossen es unbeschwert.«

Etwas Neues erschien über der Handfläche. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der aufmerksame Magier die winzigen Gestalten als Elfen identifizierte, doch es waren keine solchen wie Vereesa. Diese Elfen waren schön auf ihre eigene Art, aber es war eine kalte, hochmütige Schönheit, eine, die ihn vom Gefühl her abstieß.

»Doch andere kamen, geringere Lebensformen, die nur winzige Lebensspannen besaßen. Allzu unbesonnen stürzten sie sich auf etwas, das, wie wir wussten, viel zu große Gefahren in sich barg.« Deathwings Stimme wurde beinahe so kalt wie die Schönheit der Nachtelfen. »Und in ihrer Torheit brachten sie die Dämonen zu uns.«

Ohne darüber nachzudenken, lehnte sich Rhonin vor. Jeder Zauberer studierte die Legenden der Dämonenhorde, die von manchen die Brennende Legion genannt wurde. Doch falls solche monströsen Geschöpfe tatsächlich einmal existiert hatten, so hatten sie keine greifbaren Spuren hinterlassen. Die meisten, die behaupteten, ihnen begegnet zu sein, waren Wesen von höchst fragwürdigem Geisteszustand gewesen.

Als der Zauberer mehr als nur einen flüchtigen Blick auf einen der Dämonen zu erhaschen versuchte, schloss Deathwing jäh seine Hand, und die Bilder versiegten.

»Wären die Drachen nicht gewesen, würde diese Welt nicht länger bestehen. Selbst tausend Ork-Horden halten dem Vergleich mit dem nicht stand, dem wir uns stellen mussten, dem wir uns opferten! In dieser Zeit kämpften wir gemeinsam. Unser Blut vermischte sich auf dem Schlachtfeld, als wir die Dämonen aus unserer Welt vertrieben …« Die dunkle Gestalt schloss für einen Moment die Augen. »… und im Verlauf dieser Ereignisse verloren wir die Kontrolle über genau das, was wir zu bewahren suchten. Unser Zeitalter endete. Erst die Elfen, dann die Zwerge und schließlich die Menschen beanspruchten nach und nach die Zukunft für sich. Unsere Zahl schwand und, schlimmer noch, wir bekämpften uns fortan gegenseitig. Schlachteten einander ab.«

So weit war Rhonin im Bilde. Jeder wusste von der Feindseligkeit zwischen den fünf bestehenden Drachenschwärmen, insbesondere zwischen den schwarzen und den roten. Die Ursprünge dieser Feindseligkeit lagen unter dem Staub der Zeit begraben, doch vielleicht würde dem Zauberer jetzt die furchtbare Wahrheit offenbart werden.

»Doch warum gegeneinander kämpfen, nachdem gemeinsam so große Opfer gebracht wurden?«, fragte er.

»Falsche Vorstellungen, falsch gewählte Worte zur falschen Zeit … Es gab so viele Gründe, dass du sie nicht einmal dann verstehen würdest, wenn ich die Zeit hätte, sie dir alle darzulegen.« Deathwing seufzte. »Jedenfalls sind wir aufgrund dessen heute auf so wenige dezimiert.« Sein Blick veränderte sich, gewann erneut an Schärfe und schien sich in Rhonins Augen zu bohren. »Aber das gehört der Vergangenheit an. Ich werde wieder gut machen, was damals geschehen musste … was ich damals tun musste, Mensch. Ich werde dir helfen, die Drachenkönigin Alexstrasza zu befreien.«

Rhonin unterdrückte die erste Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Trotz seiner umgänglichen Art und trotz der von ihm gewählten Gestalt, saß doch noch immer der schrecklichste aller Drachen vor ihm. Mochte Deathwing auch Freundschaft und Kameradschaft anbieten, ein falsches Wort konnte genügen, um Rhonin nach wie vor ein grausiges Ende zu bescheren.

»Aber …«, er versuchte seine Worte mit Bedacht zu wählen, »… Ihr und sie seid – Feinde.«

»Wegen der selben dummen Missverständnisse, die deine und meine Art so lange dazu trieben, einander zu bekämpfen. Es wurden Fehler gemacht, Mensch, aber ich werde sie richtig stellen.« Die Augen zogen den Zauberer zu sich heran, fast in sich hinein. »Alexstrasza und ich sollten keine Feinde sein.«

Dem musste Rhonin zustimmen. »Natürlich nicht.«

»Einst waren wir die stärksten Verbündeten, die engsten Freunde, und dies könnte wieder der Fall sein, bist du nicht auch meiner Meinung?«

Der Magier sah nichts mehr als diese funkelnden Augen. »Das … bin ich.«

»Und du selbst befindest dich auf einer Mission mit dem Ziel, sie zu erretten.«

Tief in Rhonin regte sich etwas, und plötzlich fühlte er sich unwohl unter Deathwings Blicken. »Wie habt Ihr … wie habt Ihr das herausgefunden?«

»Das ist unwichtig, oder nicht?« Die Augen des Drachen fingen den Menschen erneut ein.

Rhonins Unbehagen verblasste. Alles schwand unter Deathwings durchdringendem Starren. »Ja, ich denke schon.«

»Auf dich allein gestellt, wirst du versagen. Daran gibt es keinen Zweifel. Jetzt allerdings, mit meiner Hilfe, kannst du das Unmögliche erreichen, mein Freund. Du wirst die Drachenkönigin retten!«

Mit diesen Worten streckte Deathwing eine Hand aus, in der ein kleines silbernes Medaillon lag. Rhonins Finger streckten sich ihm wie von selbst entgegen. Er nahm das Medaillon und zog es zu sich heran. Dann betrachtete er es. In den Rand waren Runen eingeritzt, und in der Mitte befand sich ein schwarzer Kristall. Von einigen Runen kannte Rhonin die Bedeutung, andere hatte er nie in seinem Leben gesehen, konnte aber ihre Kraft spüren.

»Du wirst imstande sein, Alexstrasza zu retten, meine kleine willige Marionette.« Das ohnehin zu breite Grinsen erreichte jetzt seine maximale Ausdehnung. »Denn hiermit werde ich stets bei dir sein, um dich zu leiten und auf deinem ganzen Weg zu begleiten …«


Wie konnte man nur einen Drachen verlieren?

Diese Frage hatten sie sich wieder und wieder gestellt, doch weder Vereesa noch ihr Gefährte hatten eine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden. Schlimmer noch, die Nacht begann über Khaz Modan hereinzubrechen, und der längst erschöpfte Greif würde mit Sicherheit nicht mehr viel weiter fliegen können.

Deathwing war fast die ganze Reise in Sichtweite gewesen, wenn auch meist in großer Ferne. Selbst Falstads Augen, die bei weitem nicht so scharf wie die der Elfe waren, hatten die schwere Gestalt auf ihrem Flug ins Landesinnere auszumachen vermocht. Nur wenn Deathwing von Zeit zu Zeit durch Wolkenfelder geflogen war, hatten sie ihn kurzzeitig verloren, aber nie länger als für ein, zwei Atemzüge.

Bis vor einer Stunde.

Das riesenhafte Untier war mit seiner Last in eine Wolke eingedrungen – wie in schon so viele zuvor. Falstad hatte den Greif die Richtung beibehalten lassen, und beide, Vereesa und der Zwerg, hatten auf der anderen Seite nach dem Leviathan Ausschau gehalten. Die Wolke lag hinter ihnen – die nächste tauchte erst einige Meilen weiter südlich auf –, und die Waldläuferin und ihr Gefährte überblickten sie beinahe in ihrer Gesamtheit. Es war unmöglich, Deathwing zu übersehen, sobald er aus ihr hervor kam.

Aber kein Drache tauchte auf.

Sie hatten geschaut und ausgeharrt, und als sie nicht länger warten konnten, hatte Falstad sein Tier auf die Wolke zu getrieben, selbst auf das eindeutige Risiko hin, dass Deathwing sich in ihr verbarg. Der Dunkle war jedoch nirgends zu entdecken gewesen. Der größte und schrecklichste der Drachen schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

»Das bringt nichts, meine Elfendame«, rief der Greifenreiter schließlich. »Wir müssen landen. Weder wir noch mein armes Reittier können die Sache ohne Pause fortsetzen.«

Sie musste ihm zustimmen, auch wenn ein Teil von ihr noch immer die Jagd fortsetzen wollte. »In Ordnung.« Sie betrachtete die unter ihnen liegende Landschaft. Küste und Wälder waren längst durch eine felsigere, ungastlichere Gegend abgelöst worden, die sich, wie die Waldläuferin wusste, schließlich zum Felsmassiv von Grim Batol auftürmen würde. Es gab noch immer bewaldete Flecken, doch insgesamt war kaum Deckung zu finden. Sie würde sich in den Hügeln verstecken müssen, um vor den Blicken der drachenreitenden Orks geschützt zu sein. »Was ist mit der Stelle dort drüben?«

Falstad folgte ihrem ausgestreckten Finger. »Diese zerklüfteten Hügel, die wie meine Großmutter aussehen, mit Bart und allem Pipapo? Aye, das ist eine gute Wahl. Dort werden wir landen!«

Der ausgelaugte Greif folgte dankbar dem Befehl zum Sinkflug. Falstad lenkte ihn zunächst zu der größten Hügel-Ansammlung und dann auf etwas zu, das wie ein kleines Tal aussah. Vereesa klammerte sich fest, als das Tier landete und hielt nach möglichen Bedrohungen Ausschau. So tief in Khaz Modan hatten die Orks wahrscheinlich Außenposten errichtet.

»Dem Himmel sei Dank!«, brummte der Zwerg beim Absteigen. »So sehr ich die Weite des Himmels liebe – war es eindeutig zu lang, um ganz gleich auf was auch immer sitzen zu müssen.« Er kraulte die Haarmähne des Greifen. »Aber du bist ein gutes Tier und hast dir dein Wasser und Futter verdient.«

»Ich habe einen Bach in der Nähe gesehen«, meinte Vereesa. »Vielleicht gibt es dort auch Fische.«

»Dann wird er sie finden, wenn er Lust danach verspürt.« Falstad nahm das Zaumzeug und die übrige Ausrüstung von seinem Greifen ab. »Und er wird sie ganz alleine finden.« Er klopfte dem Greif auf das Hinterteil, und das Tier sprang in die Luft, nun, da es von seiner Last befreit war, plötzlich wieder sehr viel schwungvoller.

»Ist das klug?«

»Meine hochverehrte Elfendame, Fisch ist im allgemeinen keine sehr sättigende Mahlzeit für einen wie ihn. Am Besten lässt man ihn auf eigene Faust nach etwas Angemessenem jagen. Er wird zurückkommen, sobald er seinen Hunger gestillt hat, und sollte ihn jemand sehen … nun, selbst in Khaz Modan gibt es noch hie und da ein paar wilde Greife.« Auf ihren nicht sonderlich beruhigten Blick hin, fügte Falstad hinzu: »Er wird nur kurz unterwegs sein. Gerade lange genug, um uns die Zeit zu geben, auch für uns ein Mahl zuzubereiten.«

Sie hatten Vorräte dabei, die der Zwerg sofort aufteilte. Da es einen Bach in der Nähe gab, stillten sie ihren Durst am restlichen Inhalt ihrer Wasserbeutel. Ein Feuer, so tief in orkkontrolliertem Gebiet, stand außer Diskussion, doch es schien keine kalte Nacht zu werden.

Wie vorhergesagt, kehrte der Greif bald darauf mit gut gefülltem Magen zurück. Das Tier ließ sich neben Falstad nieder, der, während er fertig aß, eine Hand sanft auf den Kopf des Geschöpfes legte.

»Ich habe zwar aus der Luft nichts gesehen«, sagte er schließlich, »doch wir haben keine Garantie, dass keine Orks in der Nähe sind.«

»Sollen wir uns mit dem Wachehalten abwechseln?«

»Das ist wohl das Beste. Soll ich die erste Schicht übernehmen oder wollt Ihr …?«

Zu aufgewühlt, um Schlaf zu finden, machte Vereesa den Anfang. Falstad hatte nichts einzuwenden und legte sich, ungerührt von den Verhältnissen, sofort hin, um binnen Sekunden einzuschlummern. Vereesa beneidete den Zwerg um dieses Talent und wünschte sich, es auch zu besitzen.

Die Nacht kam ihr, verglichen mit den Nächten in den Wäldern ihrer Kindheit, zu ruhig vor, doch sie rief sich ins Gedächtnis, dass dieses felsige Land bereits seit vielen Jahren von den Orks geplündert wurde. Sicher, es gab noch eine Tierwelt – wie der volle Magen des Greifen bewies –, doch die meisten Geschöpfe in Khaz Modan waren weit vorsichtiger als die daheim in Quel'Thalas. Sowohl die Orks, als auch ihre Drachen waren ständig auf Jagd nach Frischfleisch.

Vereinzelte funkelten ein paar Sterne am Himmel, doch ohne die herausragende Nachtsichtigkeit ihres Volkes wäre Vereesa fast blind gewesen. Sie fragte sich, wie es Rhonin wohl in dieser Dunkelheit ergehen mochte – falls er noch lebte. Streifte er auch durch die Ödnis zwischen hier und Grim Batol, oder hatte ihn Deathwing noch weit über diesen Ort hinaus getragen, vielleicht in ein Land, das der Waldläuferin völlig unbekannt war?

Sie weigerte sich zu glauben, dass er sich mit dem Dunklen verbündet haben könnte, doch wenn dem nicht so war, was wollte Deathwing dann von ihm? Oder war es möglich, dass sie Falstad zur wilden Drachenjagd angestiftet hatte, obwohl gar nicht Rhonin die wertvolle Fracht gewesen war, die der gepanzerte Leviathan transportiert hatte?

So viele Fragen und so wenige Antworten. Niedergeschlagen entfernte sich die Waldläuferin ein wenig von dem Zwerg und seinem Reittier, um einen Blick auf die umgebenden Hügel und Bäume zu wagen. Selbst mit ihrem überlegenen Sehvermögen gesegnet, ähnelte das meiste nur schwarzen Formen, was dazu beitrug, dass sie ihre Umgebung noch bedrückender und bedrohlicher empfand, obwohl der nächste Ork meilenweit entfernt sein mochte.

Das Schwert weiterhin in der Scheide, wagte sich Vereesa weiter voran. Sie erreichte zwei knorrige Bäume, in denen noch Leben steckte, wenn auch nicht mehr viel. Beide nacheinander berührend, konnte die Elfe die Schwäche fühlen, die Bereitschaft zu sterben. Sie konnte auch einen Teil ihrer Geschichte spüren, die weit über den Schrecken der Horde hinausreichte. Einst war Khaz Modan ein gesundes Land gewesen, das sich, wie Vereesa wusste, die Hügelzwerge und andere zur Heimat auserkoren hatten. Die Zwerge jedoch waren unter dem gnadenlosen Ansturm der Orks geflohen, nicht ohne zu schwören, eines Tages zurückkehren zu wollen.

Die Bäume hatten nicht fliehen können.

Die Elfe spürte, dass für die Hügelzwerge bald der Tag der Rückkehr kommen würde, doch dann würde es für diese Bäume und viele andere vermutlich zu spät sein. Khaz Modan war ein Land, das viele, viele Jahre brauchen würde, um sich zu erholen – falls das überhaupt möglich war.

»Seid tapfer«, wisperte sie den beiden zu. »Ein neuer Frühling wird kommen, das verspreche ich euch.« In der Sprache der Bäume und der aller Pflanzen, stand der Frühling nicht nur für eine Jahreszeit, sondern auch für die Hoffnung schlechthin, für die Erneuerung des Lebens.

Als die Elfe zurücktrat, wirkten beide Bäume etwas aufrechter, etwas größer. Die Auswirkung ihrer Worte auf sie ließ Vereesa lächeln. Die größeren Pflanzen verfügten über Möglichkeiten zum gemeinsamen Austausch, die sich selbst der Kenntnis der Elfen entzogen. Vielleicht würden sie die erhaltene Aufmunterung weitergeben. Vielleicht würden einige von ihnen doch überleben. Sie konnte es nur hoffen.

Ihre kurze Verbindung zu den Bäumen nahm ihr einen Teil der Last vom Herzen und von ihrem Geist. Die felsigen Hügel fühlten sich nicht länger nur unheilverkündend an. Die Schritte der Elfe waren nun leichter, und sie war zuversichtlich, dass sich die Dinge doch noch zum Besseren wenden würden, auch was Rhonin anging.

Das Ende ihrer Wache rückte schneller näher, als sie es gedacht hätte. Vereesa überlegte, ob sie Falstad länger ruhen lassen sollte – sein Schnarchen ließ auf einen gesunden Tiefschlaf schließen –, doch sie wusste auch, dass sie nur eine Belastung sein würde, wenn ihr Mangel an eigener Erholung später ihre Kampfkraft beeinträchtigte. Mit einigem Widerstreben begab sich die Elfe deshalb zu ihrem Gefährten zurück …

… und hielt inne, als das fast unhörbare Geräusch eines zerbrechenden, trockenen Astes sie davor warnte, dass sich ihr irgendetwas oder irgendjemand näherte.

Um den Überraschungsvorteil nicht aus der Hand zu geben, verzichtete sie darauf, Falstad zu wecken, und spazierte stattdessen schnurstracks an dem schlummernden Zwerg und seinem Reittier vorbei. Sie benahm sich, als sei sie von der dunklen Landschaft im Hintergrund fasziniert, und während sie schritt, hörte sie weitere leichte Bewegungen, aus der selben Richtung wie zuvor. Vielleicht nur ein harmloser Eindringling? Möglich, aber es konnte auch etwas anderes dahinterstecken. Das Geräusch konnte darauf abzielen, Vereesas Aufmerksamkeit in genau diese Richtung zu lenken, um die Entdeckung von Gegnern zu verhindern, die sich sonst wo still verbargen.

Erneut war ein verhaltenes Geräusch zu vernehmen … gefolgt von jähem, wildem Kreischen und dem Lärm, den ein mächtiger Körper, der unweit hervorsprang, verursachte.

Vereesa hielt ihre Waffe bereits in der Hand, als sie erkannte, dass es sich um Falstads Greif handelte, der aufgeschreckt worden war, und um kein monströses Ungeheuer aus dem Wald. Genau wie sie auch, hatte das Tier ein schwaches Geräusch gehört, doch im Gegensatz zu der Elfe hatte der Greif es nicht nötig, seine Verhaltensweise vorher jedes Mal sorgsam abzuwägen. Er folgte einfach dem feinen Instinkt seiner Art.

»Was ist denn los?«, knurrte Falstad und kam, für einen Zwerg bemerkenswert mühelos, auf die Beine. Er hatte bereits seinen Sturmhammer gezogen und war kampfbereit.

»Irgendetwas steckt zwischen diesen alten Bäumen. Irgendetwas, auf das sich Euer Greif gestürzt hat.«

»Nun, ich hoffe, er frisst es nicht auf, bevor wir wissen, was es ist!«

In der Dunkelheit konnte Vereesa die schattenhafte Gestalt des Greifen ausmachen, aber nicht die einer eventuellen Beute. Die Waldläuferin hörte jedoch deutlich einen weiteren Schrei, der den geflügelten Geschöpfes übertönte. Er klang fast jämmerlich.

»Nein! Nein! Weg! Runter von mir! Ich bin kein Leckerbissen, den du dir einfach schnappen kannst!«

Vereesa und Falstad eilten auf die zunehmend verzweifelter klingenden Rufe zu. Wen immer der Greif in die Ecke getrieben hatte, er stellte kaum noch eine Bedrohung dar. Die Stimme erinnerte die Elfe an jemanden, aber sie konnte nicht sagen, an wen.

»Zurück!«, befahl Falstad schließlich seinem Reittier. »Zurück, sage ich! Gehorche!«

Die Kreatur, halb Vogel, halb Löwe, schien zunächst nicht geneigt, auf ihn zu hören und war offenbar der Auffassung, dass sie, was sie gefangen hatte, auch behalten dürfe – zumindest aber, dass die Beute nicht vertrauenswürdig genug sei, um freigelassen zu werden. Aus der Dunkelheit, genau unterhalb des schnabelbewehrten Kopfes, ertönte ein Wimmern. Ein eindeutig menschliches Gejammer.

Konnte es sein, dass ein Kind hier draußen, mitten in Khaz Modan, mutterseelenallein herumstreifte? Sicher nicht. Die Orks hatten dieses Gebiet seit Jahren fest in ihrer Hand. Wo hätte ein solches Kind herkommen sollen?

»Bitte, oh bitte, oh bitte! Rettet den unbedeutenden armen Kerl vor diesem Monster …Pfui! Was für einen Atem es hat!«

Die Elfe erstarrte. Kein Kind sprach auf solche Weise.

»Zurück, verdammt!« Falstad versetzte seinem Reittier einen kräftigen Schlag aufs Hinterteil. Das Tier schlug einmal mit den Flügeln, stieß ein kehliges Kreischen aus und ließ dann schließlich von seiner Beute ab.

Eine kleine, drahtige Gestalt sprang auf und machte sich sofort daran, in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten. Doch die Waldläuferin bewegte sich noch schneller, sprang vor und packte den ungebetenen Besucher an – wie Vereesa verwundert feststellte – einem seiner langen Ohren.

»Autsch! Bitte nicht weh tun! Bitte nicht weh tun!«

»Was haben wir denn da?«, murmelte der Greifenreiter, der zu ihnen trat. »Ich habe noch nie etwas so kläglich quieken hören. Stellt es ruhig, oder ich werde es tun. Es wird jeden Ork im Umkreis aufschrecken!«

»Du hast gehört, was er gesagt hat«, drohte die Elfe der sich windenden Gestalt. »Sei endlich still!«

Ihr unerwünschter Gast verstummte.

Falstad griff in seinen Beutel. »Ich habe hier etwas, das uns helfen mag, Licht in diese Angelegenheit zu bringen, meine Elfendame – auch wenn ich der Ansicht bin, dass ich bereits weiß, was für eine Art von Strauchdieb wir erwischt haben.«

Er zog einen kleinen Gegenstand hervor, den er, nachdem er seinen Hammer zur Seite gelegt hatte, zwischen den kräftigen Handflächen rieb. Unter der Behandlung begann der Gegenstand schwach zu leuchten. Nach einigen Augenblicken nahm das Leuchten zu und enthüllte schließlich einen Kristall.

»Ein Geschenk von einem toten Kameraden«, erklärte Falstad. Er richtete den glühenden Kristall auf ihren Gefangenen. »Nun lasst uns sehen, ob ich Recht hatte … aye, genau wie ich es mir dachte

Auch Vereesa sah ihre Ahnung bestätigt. Sie und der Zwerg hatten keineswegs ein Menschenkind, sondern eines der unzuverlässigsten Geschöpfe auf Erden eingefangen: einen Goblin.

»Hast wohl hier herumspioniert, hm?« grollte der Begleiter der Waldläuferin. »Vielleicht sollten wir dich hier und jetzt einfach aufspießen und vorbei wäre die Sache!«

»Nein, nein, bitte! Der Unwürdige ist kein Spion! Kein Ork-Freund bin ich! Habe nur Befehlen gehorcht!«

»Was hast du denn hier draußen zu schaffen?«

»Verstecken! Verstecken! Sah einen Drachen wie die Nacht! Drachen versuchen, Goblins zu fressen, wisst Ihr?« Die hässliche grüne Kreatur erklärte es, als sollte es tatsächlich jedem klar sein.

Ein Drachen wie die Nacht? »Einen schwarzen Drachen, meinst du?« Vereesa zog den Goblin näher zu sich heran. »Du hast ihn gesehen? Wann?«

»Nicht lang her! Kurz vor der Dunkelheit!«

»Im Himmel oder auf dem Boden?«

»Boden! Er …«

Falstad blickte sie an. »Ihr könnt dem Wort eines Goblins nicht trauen, meine Elfendame. Sie wissen gar nicht, was der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge ist.«

»Ich werde ihm dennoch glauben – wenn er mir eine Frage beantworten kann. Goblin, war dieser Drache allein oder, wenn nicht, wer war bei ihm?«

»Will nicht über goblinfressende Drachen sprechen!«, begann er, doch ein Antippen mit Vereesas Klinge ließ die Worte regelrecht aus ihm heraussprudeln. »Nicht allein, nicht allein! War jemand bei ihm. Vielleicht zum Fressen, aber erst zum Sprechen! Hörte nicht zu. Wollte nur fort. Mag keine Drachen und mag keine Zauberer …«

»Zauberer?«, platzten beide, die Elfe und Falstad, gleichzeitig heraus. Vereesa versuchte, ihre aufkeimende Hoffnung unter Kontrolle zu halten. »Sah er gesund aus, dieser Zauberer? Unverletzt?«

»Ja …«

»Beschreibe ihn.«

Der Goblin wand sich und strampelte mit seinen mageren kleinen Armen und Beinen. Doch Vereesa ließ sich von den spindeldürr aussehenden Gliedmaßen nicht täuschen. Goblins konnten sich in todbringende Kämpfer verwandeln, die eine Kraft und Gerissenheit an den Tag legten, mit der sie ihr mickriges Erscheinungsbild Lügen straften.

»Rotbehaart und arrogant. Groß und in dunkles Blau gekleidet. Weiß keinen Namen. Hörte keinen Namen.«

Nicht unbedingt eine genaue Beschreibung, aber in jedem Fall ausreichend. Wie viele hoch gewachsene, rothaarige Zauberer, in ein dunkelblaues Gewand gekleidet, mochte es hier wohl geben, vor allem in der Gesellschaft von Deathwing?

»Das klingt nach unserem Freund«, erwiderte Falstad mit einem Grunzen. »Es scheint, als solltet Ihr Recht behalten.«

»Wir müssen ihm nach.«

»Bei Dunkelheit? Erstens, meine Elfendame, habt Ihr noch kein bisschen geschlafen, und zweitens, selbst wenn uns die Dunkelheit Schutz und Deckung verheißt, erschwert sie auch immens jede Orientierung – selbst wenn es gilt, etwas so Gewaltiges wie einen Drachen zu finden!«

Auch wenn sie die Jagd am liebsten sofort wieder aufgenommen hätte, sah Vereesa doch ein, dass die Einwände des Zwergs Sinn machten. Aber bis zum Morgen warten? Ihnen würde wertvolle Zeit verloren gehen …

»Ich brauche nur ein paar Stunden, Falstad. Gewährt mir diese, danach können wir uns wieder auf den Weg machen.«

»Es wird noch immer dunkel sein … und, nur für den Fall, dass Ihr es vergessen habt: So groß er auch sein mag, Deathwing ist schwarz wie … wie die Nacht!«

»Aber wir müssen doch gar nicht mehr nach ihm suchen.« Sie lächelte. »Wir wissen doch schon, wo er gelandet ist … oder wenigstens einer von uns hier weiß dies.«

Beide blickten den Goblin an, der sich sichtlich wünschte, ganz woanders zu sein.

»Woher wissen wir, ob wir ihm trauen können? Es ist bei weitem keine Mär, dass diese kleinen grünen Diebe notorische Lügner sind.«

Die Waldläuferin hielt die scharfe Spitze ihres Schwertes an die Kehle des Goblins. »Weil er zwei Möglichkeiten hat: Entweder zeigt er uns, wo Deathwing und Rhonin gelandet sind, oder ich verarbeite ihn zu Drachenfutter.«

Falstad grinste. »Ihr glaubt, dass Deathwing einen wie ihn verdauen könnte?«

Ihr kurz geratener Gefangener zitterte, und seine unruhigen gelben, pupillenlosen Augen weiteten sich in blankem Entsetzen. Ungeachtet der Schwertspitze begann der Goblin wild auf und ab zu hüpfen. »Zeige es Euch mit Freuden! Wirklich mit Freuden! Angst vor Drachen völlig vergangen! Werde Euch führen und zu Eurem Freunde bringen!«

»Schön ruhig, ja?« Die Waldläuferin packte die tückische Kreatur noch etwas härter an. »Oder muss ich dir die Zunge herausschneiden?«

»Verzeiht, verzeiht, verzeiht …«, bettelte ihr neuer Begleiter und beruhigte sich langsam. »Tut dem Elenden kein Leid an, bitte …«

»Pah! Das ist vielleicht ein trauriges Exemplar von einem Goblin, das wir hier aufgegabelt haben.«

»So lange er uns den Weg zeigt.«

»Armer Kerl wird Euch gut dienen, Herrin! Gut, gut!«

Vereesa dachte nach. »Wir müssen ihn zunächst fesseln …«

»Ich schnüre ihn auf mein Reittier. Das sollte den stinkenden Nager unter Kontrolle halten.«

Auf diesen letzten Vorschlag hin wirkte der Goblin noch geschlagener als zuvor, und die silberhaarige Waldläuferin empfand beinahe so etwas wie Mitleid für das smaragdgrüne Geschöpf. »In Ordnung, aber sorge dafür, dass der Greif ihm nichts antut.«

»So lange er sich zu benehmen weiß …« Falstad sah den Gefangenen an.

»Trauriges Exemplar wird sich benehmen, ganz, ganz ehrlich und wahrhaftig …!«

Dadurch, dass sie die Klinge von seinem Hals löste, versuchte Vereesa den Goblin ein wenig zu beruhigen. Vielleicht konnte sie mit Höflichkeit mehr aus dem unglückseligen Wesen herausholen als mit ständiger Bedrohung. »Führe uns, wohin wir möchten, und wir werden dich frei lassen, bevor Gefahr besteht, dass dich der Drache frisst. Du hast mein Wort darauf.« Sie hielt inne. »Hast du einen Namen, Goblin?«

»Ja, Herrin, ja!« Der überdimensionale Kopf tanzte auf und nieder. »Mein Name ist Kryll, Herrin, Kryll«

»Nun, Kryll, tu was ich sage, und alles wird gut werden. Hast du das verstanden?«

Der Goblin sprang aufgeregt hin und her. »Oh ja, ja, ich verstehe gut, Herrin. Und ich versichere Euch, der Elende wird Euch genau dorthin bringen, wohin Ihr wollt!« Er schenkte ihr ein irres Grinsen. »Das verspreche ich Euch …«

Загрузка...