9

»Duncan!«

»Es ist zu spät, meine Elfendame!«, rief Falstad. »Euer Mann ist bereits tot – doch was für eine glorreiche Erinnerung hinterlässt er!«

Vereesa überhörte die fälschliche Annahme, dass sie Lord Senturus näher gestanden habe, als dies tatsächlich der Fall war. Alles, was für sie zählte, war, dass gerade ein tapferer Mann, den sie viel zu kurz gekannt hatte, umgekommen war. Wie Falstad, hatte natürlich auch sie sofort erkannt, dass es sich nur noch um Duncans Hülle gehandelt hatte, die in die Tiefe gestürzt war – dennoch wurzelte ihr Entsetzen über seinen tragischen Tod tief. Einzig das Wissen, dass Duncan das nahezu Unmögliche vollbracht hatte, linderte es ein wenig.

Dem Drachen war eine folgenschwere Verletzung zugefügt worden, die ihn sich wie wahnsinnig hin und her werfen ließ. Im Sterben versuchte der Leviathan, die tödliche Klinge aus seinem Hals zu schütteln, doch erlahmten seine Bemühungen zusehends. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Gigant sich seinem Bezwinger anschließen und in das nasse Grab folgen würde.

Doch selbst im Todeskampf blieb der Drache eine Bedrohung. Eine seiner Schwingen traf fast den Zwerg und Vereesa. Falstad lenkte den Greif nach unten, um den Zuckungen des Leviathans zu entgehen. Angstvoll klammerte sich Vereesa an dem Zwerg fest; Zeit, sich weiter mit Duncans Schicksal zu befassen, fand sie nicht.

Auch der zweite Drache bedrohte nach wie vor den Greifen. Falstad zog sein Reittier wieder nach oben und stieg über das andere Ungeheuer hinaus, um dessen furchtbaren Klauen zu entrinnen. Ein anderer Reiter entging den zuschnappenden Kiefern des Leviathans nur knapp.

Sie durften hier nicht länger ausharren. Der Ork, der das zweite Untier lenkte, verfügte über eine offensichtlich weitreichende Erfahrung im Luftkampf gegen Greife. Früher oder später würde er einen der Zwerge erwischen. Vereesa wollte nicht noch mehr Todesopfer. »Falstad, wir müssen weg von hier!«

»Ich würde Euch diesen Gefallen gern tun, meine Elfendame, aber das schuppige Untier und sein Lenker scheinen anderes im Sinn zu haben!«

Tatsächlich schien der Drache sich mittlerweile ausschließlich auf Vereesa und deren Gefährten zu konzentrieren, höchstwahrscheinlich auf Geheiß des Orks. Ihm mochte Vereesa auf dem Greifen aufgefallen sein, und offenbar hielt er sie für wichtig.

Die Anwesenheit von gleich zwei roten Giganten warf für die Waldläuferin eine Reihe von Fragen auf. Stand ihr Auftauchen in direktem Zusammenhang mit Rhonins Mission? Sie bezweifelte es, da er ihrer Meinung nach in diesem Fall viel offensichtlicher das vorrangige Angriffsziel hätte sein müssen …

Wo war der Zauberer überhaupt? Während Falstad seinen Greif zu höherer Geschwindigkeit antrieb und der Drache dennoch zu ihnen aufholte, schaute sich die Elfe um, fand aber keine Spur von Rhonin. Beunruhigt intensivierte sie ihre Suche. Aber Vereesa vermochte weder den Magier noch den Greifen entdecken, auf dem er geritten war.

»Falstad, Rhonin ist verschwunden …!«

»Eine Sorge, der Ihr Euch später widmen solltet. Im Augenblick wäre es wichtiger, dass Ihr Euch gut festhaltet!«

Sie folgte seinem Ratschlag … und zwar gerade noch rechtzeitig, denn urplötzlich beschrieb der Greif eine derart enge Kurve, dass Vereesa möglicherweise abgeworfen worden wäre, hätte sie auch nur einen Moment länger gezögert.

Mörderische Klauen wischten dort, wo der Zwerg und sie sich eben noch aufgehalten hatten, durch die Luft. Der Drache brüllte enttäuscht auf und nahm die Verfolgung auf.

»Macht Euch klar zum Gefecht, meine Elfendame! Es scheint, als bliebe uns keine andere Wahl …«

Während Falstad seinen Sturmhammer losschnallte, bedauerte Vereesa einmal mehr den Verlust ihres Bogens. Zwar besaß sie noch ihr Schwert, war aber nicht gewillt, Duncans Beispiel zu folgen und sich selbst zu opfern, um den Drachen zu bezwingen. Außerdem musste sie herausfinden, was aus Rhonin geworden war, dem ihr Hauptaugenmerk galt.

Der Ork hatte seine lange Streitaxt gezogen und wirbelte sie nun, unverständliche Kampfschreie ausstoßend, über seinem Kopf herum. Falstad antwortete mit einem kehligen Brüllen und schien seine vorherige Sorge um Vereesa abgelegt zu haben. Die Freude auf den bevorstehenden Kampf überwog eindeutig.

Außerstande, sonst etwas Sinnvolles zu tun, klammerte sich die Waldläuferin nur noch fester und hoffte, dass der Zwerg sein Ziel nicht verfehlen würde.

Eine gigantische Gestalt, schwarz wie die Nacht, fiel zwischen die beiden Gegner und griff den roten Drachen an, wobei sie das Ungeheuer und seinen Lenker völlig überraschte.

»Was, im Namen von …?«, war alles, was Falstad herausbrachte.

Die Elfe war sprachlos.

Schwarze Schwingen, doppelt so groß wie die des Roten, füllten ihr Sichtfeld aus, und das metallische Glitzern blendete Vereesa. Ein mächtiges Gebrüll erschütterte den Himmel wie Donnergrollen und trieb die Greife auseinander.

Ein Drache von unglaublichen Ausmaßen schnappte nach dem um einiges kleineren Roten. Dunkle, schmale Augen blickten voller Verachtung auf den nicht halb so imposanten Leviathan. Der Drache des Orks erwiderte zwar das Gebrüll, zeigte aber keinerlei Begeisterung über den neuen Gegner.

»Ich schätze, das war's dann für uns, meine Elfendame! Das ist niemand anderes, als der Dunkle persönlich!«

Der schwarze Goliath breitete seine Schwingen weit aus, und das Geräusch, das aus seinem Rachen drang, erinnerte Vereesa an raues, höhnisches Gelächter. Erneut erhaschte sie einen Blick auf den riesigen Körper des Neuankömmlings, der von Metallplatten bedeckt war – einer Art Rüstung!

Die Hornschuppen eines Drachen bot bereits einen natürlichen, schwer durchdringbaren Schutz; welche Panzerung sollte eine solche Kreatur da noch zusätzliche schützen?

Vereesa gab sich die Antwort selbst: Adamantium. Es war noch härter als die ohnehin schon nahezu undurchdringliche Echsenhaut, und nur ein einziger der Großen Drachen hatte sich jemals der Tortur unterzogen, sich damit zu rüsten …

»Deathwing«, flüsterte die Elfe. »Deathwing!«

Unter den Elfen erzählte man sich seit uralter Zeit, dass es fünf Große Drachen gab, fünf Leviathane, welche die geheimen und natürlichen Kräfte verkörperten. Manche sagten, dass Alexstrasza, die Rote, die Essenz des Lebens an sich darstellte. Von den übrigen war wenig bekannt, denn bereits vor der Geburt der Menschen hatten die Drachen in Abgeschiedenheit gelebt. Die Elfen hatten ihren Einfluss gespürt, hatten sogar von Zeit zu Zeit Umgang mit ihnen gepflegt, doch nie hatte eine dieser Kreaturen ihre heiligsten Geheimnisse enthüllt.

Aber es gab unter den Drachen einen, der überall von sich reden machte, der nicht müde wurde, die Welt daran zu erinnern, dass seinesgleichen dazu bestimmt gewesen waren, die Welt zu beherrschen. Obwohl er ursprünglich einen anderen Namen getragen hatte, war er als Deathwing berühmt-berüchtigt geworden, und in diesem Wort drückte sich seine ganze Verachtung aus, die er für das »niedere Leben« um sich herum empfand.

Selbst die Ältesten aus Vereesas Volk vermochten nicht zu sagen, welches eigentliche Motiv den nachtschwarzen Gesellen antrieb, die von Elfen, Zwergen und Menschen errichtete Welt zu bekriegen.

Die Elfen hatten einen anderen Namen für ihn, den sie nur flüsternd und in der fast vergessenen Alten Sprache weitergaben: Xaxas. Eine knappes Wort mit vielfältiger Bedeutung. Es umschrieb das Böse an sich, Chaos und heillosen Zorn. Deathwing oder Xaxas war die Verkörperung urtümlicher Naturgewalt, wie man sie sonst nur bei Vulkanausbrüchen und gewaltigen Erdbeben erlebte.

Wenn Alexstrasza die Essenz des Lebens, die die Welt zusammen hielt, personifizierte, dann stellte Deathwing deren Gegenpol dar, die zerstörerischen Kräfte, die alles zu töten und zu vernichten trachteten.

Ungeachtet dessen, schwebte er nun vor ihnen und schien sie vor einem seiner eigenen Artgenossen retten zu wollen …

… was er selbst natürlich kaum auf diese Weise gesehen hätte. Für ihn war es nur ein rot geschuppter Feind, und Rot war die Farbe seiner größten Rivalin. Deathwing hasste alle andersfarbigen Drachen, versuchte sie, wo immer er sie antraf, umzubringen. Und solche von Alexstraszas Art, verachtete er am meisten.

»Ein unglaublicher Anblick, hm?« murmelte Falstad, ausnahmsweise einmal in gedämpftem Ton. »Aber ich hielt das Untier für tot …«

Dem konnte sich die Waldläuferin nur anschließen. Die Kirin Tor hatten ein Bündnis der fähigsten menschlichen Zauberer und ihrer elfischen Gegenstücke erwirkt, um dem schwarzen Zorn, wie sie es bezeichneten, endlich Einhalt zu gebieten. Und tatsächlich hatte ihn nicht einmal die absonderliche Metallrüstung, zu der er von den verrückten Goblins überredet worden war, vor der magischen Attacke der vereinten Magier schützen können. Er war gefallen, gefallen …

… um jetzt triumphal zurückzukehren?

Urplötzlich schien der Krieg gegen die Orks zur Nebensache zu verkommen. Was waren selbst sämtliche Überbleibsel der Horde in Khaz Modan, verglichen mit diesem bösartigen Einzelgänger?

Der kleinere Drache, augenscheinlich auch ein männliches Exemplar seiner Gattung, schnappte wütend nach Deathwing. Dabei kam er dem schwarzen Ungeheuer nahe genug, dass es diesem möglich gewesen wäre, ihm einen Schlag mit seiner linken Vorderpranke zu versetzen – was er aus irgendeinem Grunde jedoch nicht tat. Deathwing hielt seine Klaue geschlossen und nah am Körper, peitschte stattdessen seinen Schwanz gegen den Kontrahenten und schmetterte den Roten damit zurück.

Entlang von Deathwings Kehle und seinem Rumpf wurde während der abrupten Bewegung unter den sich verschiebenden Metallplatten etwas sichtbar, das an ein weit verzweigtes Adernetz erinnerte, gefüllt mit flüssigem Feuer. Die Legende besagte, dass man bei der Berührung einer dieser Feueradern tatsächlich Gefahr lief, zu verbrennen. Manche vertraten die Ansicht, eine säurehaltige Absonderung des Drachen sei dafür verantwortlich, doch war in anderen Geschichten die Rede von tatsächlichem flüssigem Feuer, das in Deathwing zirkulierte und jedem zum Verhängnis werden konnte.

In jedem Fall bedeutete es, wenn es zum Tragen kam, den Tod.

»Der Ork ist entweder unglaublich tapfer, ein kompletter Narr oder er hat die Kontrolle über sein Tier verloren!« Falstad schüttelte den Kopf. »Selbst ich würde einen solchen Kampf meiden, wenn es irgend möglich wäre!«

Die anderen Greife näherten sich. Ihren Blick von den kämpfenden Drachen lösend, widmete sich Vereesa den Neuankömmlingen, fand aber keine Spur von Molok oder Rhonin. Genau genommen umfasste ihre kleine Gruppe nur noch sie und vier Zwerge.

»Wo ist der Zauberer?«, rief sie den anderen zu. »Wo?«

»Molok ist tot«, erstattete einer Falstad Bericht. »Sein Reittier treibt in der See.«

Im Verhältnis zu ihrer kleinwüchsigen Statur, war die Muskulatur der Zwerge immens ausgeprägt, was ihre Körper schwer machte; es hielt sie nicht lange an der Wasseroberfläche.

So entschieden Falstad und die anderen, dass die Entdeckung des toten Greifen bereits ein hinreichender Beweis für den Tod des Kriegers sei.

Zumindest Rhonin aber war ein Mensch, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass er, ob nun tot oder lebendig, eine Weile auf dem Wasser treiben würde. Vereesa klammerte sich an diese schwache Hoffnung. »Und der Zauberer? Habt Ihr den Zauberer gesehen?«

»Ich denke, es ist eindeutig, meine Elfendame«, gab Falstad mit einem Blick zu ihr zurück.

Sie presste die Lippen zusammen, wusste, dass er vermutlich Recht hatte. Bei dem Zwischenfall in der Festung hatte es wenigstens offene Fragen gegeben. Hier jedoch schien die Angelegenheit klar und endgültig. Offenbar hatte selbst Rhonins Magie ihn hier oben nicht zu schützen vermocht, und ein Sturz aus dieser Höhe auf die Wasseroberfläche kam einem Aufschlag auf nacktem Fels sehr nahe …

Vereesa konnte nicht widerstehen und richtete den Blick nach unten, wo der Drachenkadaver, halb versunken, im Meer trieb. Das Schicksal musste Rhonin und Molok durch eine der wilden Zuckungen des Untiers in dessen Todeskampf ereilt haben. Sie hoffte nur, dass das Ende für beide schnell gekommen war.

»Was sollen wir tun, Falstad?«, rief einer der Zwerge.

Ihr Anführer rieb sich das Kinn. »Deathwing ist keines Kriegers Freund. Er wird zweifellos auch uns jagen, sobald er mit dem Biest fertig ist. Es wäre Irrsinn, ihm entgegentreten zu wollen, denn es würde hundert Sturmhämmer erfordern, um ihm auch nur eine Beule zuzufügen. Am besten wir kehren zurück und verbreiten die Nachricht, was wir gesehen haben.«

Die anderen Zwerge schienen dem zuzustimmen, Vereesa selbst aber spürte, dass sie allem Offensichtlichen zum Trotz noch nicht aufgeben konnte. »Falstad, Rhonin ist ein Zauberer! Er ist vermutlich tot, aber wenn er noch lebt – wenn er noch dort unten treibt –, braucht er unsere Hilfe!«

»Ihr seid eine Närrin, verzeiht mir die Worte, meine Elfendame. Niemand könnte so einen Sturz überleben, nicht einmal ein Zauberer.«

»Bitte! Fliegt nur eine Runde über der Wasseroberfläche. Danach können wir umkehren.« Auch wenn sie nicht fündig wurden, so war doch wenigstens ihre Pflicht gegenüber dem Magier und der gescheiterten Mission erfüllt. Daran allerdings, dass ihre Schuldgefühle sehr viel länger anhalten würden, konnte auch das nichts ändern.

Falstad runzelte die Stirn. Die Blicke seiner Krieger verrieten, dass sie es für Wahnsinn hielten, noch länger in Deathwings Nähe zu verweilen.

»Nun gut«, brummte er dennoch. »Aber nur um Euretwillen, nur um Euch einen Gefallen zu tun!« Dann wandte er sich an seine Krieger: »Ihr kehrt schon ohne uns um! Wir werden euch bald folgen, doch sollten wir es aus irgendeinem Grunde nicht schaffen, verbreitet auf jeden Fall die Nachricht von der Rückkehr des Dunklen! Und jetzt ab mit euch!«

Während also die anderen Zwerge mit ihre Tieren auf Westkurs gingen, lenkte Falstad sein eigenes tiefer. Die Wasseroberfläche kam näher, und über ihnen schwoll das wütende Gebrüll der beiden Kontrahenten an.

Deathwing und der Rote gerieten immer heftiger aneinander. Ihre Schreie wurden lauter, heiserer. Beide Untiere hatten ihre Klauen ausgestreckt, und ihre Schwänze zuckten in wilder Raserei. Deathwings rotglühende Streifen verliehen ihm ein Furcht einflößendes, beinahe übernatürliches Erscheinungsbild, als wäre in ihm einer der sagenumwobenen Dämonen wiedergekehrt.

»Das Vorgeplänkel ist vorbei«, erklärte Vereesas Gefährte. »Sie werden kämpfen. Ich frage mich, was wohl der Ork über all das denken mag …«

Vereesa machte sich keine Gedanken über den Ork. Erneut richtete sie ihr Augenmerk auf die Suche nach Rhonin. Während der Greif nur wenige Meter über dem Wasser dahinglitt, durchforschte sie das fragliche Gebiet nach dem Zauberer. Es musste doch irgendwo eine Spur von ihm geben!

Unweit von ihrer Position konnte die verzweifelte Waldläuferin die verdrehte Gestalt des verendeten Reittiers ausmachen. Ob tot oder lebendig, der Zauberer musste irgendwo hier stecken – es sei denn, er hatte es tatsächlich geschafft, sich aus der Gefahrenzone herauszuzaubern.

Falstad grunzte, um seiner Ansicht Ausdruck zu verschaffen, dass sie hier doch nur ihre Zeit verschwendeten. »Es ist sinnlos.«

»Lasst es uns noch ein klein wenig länger versuchen!«

Erneut lenkten wilde Schreie ihre Blicke himmelwärts. Der Kampf begann ernst zu werden. Der rote Drache versuchte Deathwing zu umkreisen, der aber war ein zu gewaltiges Hindernis. Schon die Membranschwingen stellten Hindernisse dar, an denen der kleinere Drache nicht vorbei kam. Er versuchte, Feuer nach ihnen zu speien, doch Deathwing wich mit einem Flügelschlag aus – wenngleich auch das Feuer kaum mehr erreicht hätte, als ihn leicht anzusengen.

Beim Feuerspeien ließ Deathwings Gegner seine Deckung offen. Der schwarze Gigant hätte mit Leichtigkeit den ihm zugewandten Flügel des roten Ungetüms angreifen können – doch auch jetzt blieb die linke Vorderpranke geschlossen an die Brust gelegt. Stattdessen schlug er mit seinem Schwanz nach dem roten Drachen und trieb ihn damit erneut zurück.

Deathwing sah nicht verwundet aus, weshalb hielt er sich also zurück?

»Das war's! Wir suchen nicht weiter«, rief Falstad. »Euer Zauberer liegt auf dem Grund des Meeres, tut mir leid, das sagen zu müssen. Wir verschwinden, bevor wir sein Schicksal teilen.«

Die Elfe achtete zunächst gar nicht auf ihn. Sie beobachtete den schwarzen Drachen und versuchte, aus dessen merkwürdiger Taktik schlau zu werden. Deathwing benutzte den Schwanz, die Flügel und andere Körperteile, eigentlich alles – außer der linken Vorderpranke. Hin und wieder bewegte er sie deutlich, wie um zu beweisen, dass sie kerngesund war, aber stets zog er sie auch wieder in die Deckung seines Körpers zurück.

»Warum?«, murmelte sie. »Warum tut er das?«

Falstad glaubte, sie meine ihn. »Weil wir hier nichts mehr gewinnen können, außer den Tod – und auch wenn Falstad den Tod nicht fürchtet, möchte er ihm doch nach seinen Regeln begegnen und nicht nach denen dieser gepanzerten Scheußlichkeit!«

In diesem Moment bekam Deathwing den Gegner mit einer seiner Pranken zu fassen. Die breiten Schwingen umschlossen den um einiges kleineren roten Drachen, und der lange Schwanz umschlang dessen untere Extremitäten. Mit seinen verbleibenden drei Pranken zog der schwarze Leviathan eine Reihe blutiger Striemen über den Körper seines Feindes, bis hin zum Halsansatz.

»Hoch, verdammt noch mal!«, befahl Falstad seinem erlahmenden Greif. »Du hast noch ein bisschen durchzuhalten, bevor du dich ausruhen darfst. Bring uns erst hier raus!«

Während das Tier so schnell wie möglich himmelwärts strebte, beobachtete Vereesa, wie Deathwing die Brust seines Gegners mit einer Reihe weiterer tiefer Wunden durchpflügte. Die Lebenssäfte des roten Drachen begannen auf die unter ihm liegende See zu regnen.

Mit letzter Anstrengung gelang es dem kleineren Ungetüm, sich doch noch einmal zu befreien. Schwankend zog es sich von Deathwing zurück, zögerte und erweckte den Eindruck, als lenke etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich.

Zu Vereesas Überraschung wandte sich der rote Drachen unvermittelt um und floh überstürzt in Richtung Khaz Modan.

Der Kampf hatte kaum länger als eine Minute gedauert, vielleicht zwei, doch in dieser kurzen Zeitspanne hatte Deathwing seinen Feind bereits am Rande der Niederlage gehabt.

Ebenso erstaunlich wie die Flucht war, dass der riesenhafte Schwarze nicht die Verfolgung aufnahm. Stattdessen schielte er zu der Pranke, die er gegen die Brust gedrückt hielt, als begutachte er etwas, das er in der geballten Faust versteckt hielt.

Etwas oder …jemanden!

Was hatte Rhonin Duncan und ihr doch gleich über seine erstaunliche Rettung aus dem einstürzenden Turm erzählt? Ich weiß nicht, was es war, aber es hob mich auf, als sei ich ein Spielzeug und trug mich hinfort. Welche andere Kreatur als ein Drache von Deathwings Größe hätte so leicht einen ausgewachsenen Mann packen und davontragen können, als sei er ein Spielzeug? Nur der Umstand, dass von solch einem unglaublichen Vorkommnis noch niemals zuvor berichtet worden war, hatte die Waldläuferin davon abgehalten, das Offensichtliche zu erkennen.

Ein Drache hatte den Zauberer in Sicherheit gebracht!

Aber konnte wirklich Deathwing dieser Drache sein?

Plötzlich nahm der schwarze Leviathan Kurs auf Khaz Modan, leicht abweichend von der Richtung, in die sein roter Widerpart geflohen war. Als er sich entfernte, nahm Vereesa zur Kenntnis, dass er nach wie vor die eine Pranke geschlossen hielt, als täte er, was in seiner Macht stand, um wertvolle Fracht zu schützen.

»Falstad – wir müssen ihm folgen!«

Der Zwerg warf ihr einen Blick zu, als habe sie ihn soeben aufgefordert, direkt in den Rachen des Ungetüms zu steuern. »Ich bin einer der tapfersten Krieger, meine Elfendame, aber Euer Vorschlag grenzt an Wahnsinn.«

»Deathwing hat Rhonin! Rhonin ist der Grund, weswegen der Drachen seine eine Vorderpranke nicht benutzte!«

»Dann ist der Zauberer so gut wie tot, denn wofür sonst könnte er dem Dunklen dienen, wenn nicht als kleine Zwischenmahlzeit?«

»Wenn das der Fall wäre, hätte Deathwing ihn längst gefressen. Nein … Er braucht Rhonin für etwas, auch wenn ich nicht einmal ahne, wofür!«

Falstad schnitt eine Grimasse. »Ihr verlangt viel. Der Greif ist erschöpft und muss bald landen.«

»Ich bitte Euch! Nur so weit, wie Ihr es noch schafft! Ich kann ihn doch so nicht zurücklassen. Ich habe einen Eid geschworen.«

»Kein Eid würde Euch dies abverlangen«, murmelte der Greifenreiter – bevor er sein Reittier auf Khaz Modan zu lenkte. Der Greif gab unwillige Laute von sich, gehorchte aber.

Vereesa erwiderte nichts mehr. Sie wusste, dass Falstad Recht hatte. Und doch konnte sie aus Gründen, die ihr nicht ganz klar waren, Rhonin selbst jetzt nicht seinem scheinbar so offensichtlichen Schicksal überlassen.

Statt zu versuchen, sich über ihre Gründe klar zu werden, dachte Vereesa lieber über Deathwing nach, dessen Silhouette immer kleiner wurde.

Er musste Rhonin in seiner Gewalt haben. Nur so ergab alles einen Sinn.

Doch was konnte Deathwing, der alles andersgeartete Leben hasste und der die Vernichtung von Ork, Elf, Zwerg und Mensch anstrebte, von dem Magier wollen?

Sie erinnerte sich an Duncan Senturus' Meinung über Magier, eine, die er nicht nur mit den anderen Mitgliedern der Ritter der Silbernen Hand teilte, sondern mit dem Großteil des Volkes. Eine verdammte Seele hatte Duncan ihn genannt. Einen, der sich ebenso gut dem Bösen wie dem Guten zuwenden konnte. Einen, der möglicherweise sogar … einen Pakt mit der bösartigsten aller Kreaturen eingehen würde.

War der Paladin damit der Wahrheit näher gekommen, als er es selbst für möglich gehalten hätte? Stand Vereesa im Begriff, einen Mann zu retten, der in Wirklichkeit seine Seele längst an Deathwing verkauft hatte?

»Was will er von Euch, Rhonin?«, murmelte sie. »Was will er von Euch?«


Krasus taten noch immer die Knochen weh, und gelegentlich schoss eine wahre Welle des Schmerzes durch seinen Körper, doch er hatte sich wenigstens so weit zu heilen vermocht, um sich den anstehenden Problemen widmen zu können. Allerdings wagte er es nicht, den anderen Ratsangehörigen reinen Wein über das einzuschenken, was geschehen war. Obwohl es sie durchaus etwas angegangen wäre. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber musste das Wissen um Deathwings menschliche Tarngestalt sein Geheimnis vor den anderen Kirin Tor bleiben, denn der Erfolg von Krasus' sonstigen Plänen konnte davon abhängen.

Der Drache strebte nach der Krone von Alterac!

Auf den ersten Blick eine absurde, nicht realisierbare Vorstellung; doch wie Krasus den schwarzen Drachen kannte, hatte Deathwing einen Plan ausgeklügelt, der noch darüber hinausging. Mochte Lord Prestor sich dem Anschein nach auch noch so sehr um Frieden unter den Mitgliedern der Allianz bemühen, Deathwing selbst verlangte es nur nach Blut und Chaos … was bedeutete, dass der Friede, der durch Prestors Thronbesteigung erreicht werden würde, nur der erste Schritt hin zu einer zukünftig noch größeren Zerstrittenheit bedeutete. Ja, so war es tatsächlich: Der Friede von heute würde den Krieg von morgen besiegeln!

Wenn er dies alles auch unter den Kirin Tor nicht zur Sprache bringen durfte, so gab es doch andere, an die sich Krasus wenden konnte. Er war von ihnen wieder und wieder abgewiesen worden, aber vielleicht würden sie ihm dieses eine Mal zuhören. Vielleicht hatte sein Fehler ihre Schergen sogar bereits auf seine Fährte gesetzt. Vielleicht würden sie ihm zuhören, wenn er das Grauen in ihre innerste Sphäre brachte. Ja, dann wenigstens mochten sie ihm Gehör schenken.

In der Mitte seines dunklen Sanktuariums stehend und die Kapuze so weit ins Gesicht gezogen, dass dieses völlig darunter verschwand, sprach Krasus die Worte, die ihn zu denen tragen würden, deren Hilfe er am meisten brauchte. Die schwach beleuchtete Kammer verschwamm, verging …

… und mit einem Mal befand sich der Magier in einer Höhle aus Eis und Schnee.

Krasus blickte sich um. Der Anblick überwältigte ihn trotz früherer Besuche vor langer, langer Zeit. Er wusste, in wessen Reich er sich begeben hatte, und er wusste, dass von allen, um deren Hilfe er ersuchen wollte, der hier Ansässige den größten Anstoß an seinem derart unverschämten Eindringen nehmen würde. Selbst Deathwing respektierte den Herren dieser eisigen Höhle. Nur wenige drangen je in dieses Sanktuarium im Herzen der Kälte vor, dem unwirtlichen Northrend, und noch wenigere verließen es je wieder lebendig. Riesige Dorne, fast wie aus purem Kristall geschliffen, hingen von der eisigen Decke, manche von ihnen von der zwei- oder gar dreifachen Größe des Zauberers. Andere, mehr nach schlichtem Gestein aussehende Formationen ragten aus dem dicken Schnee empor, der nicht nur den Großteil des Bodens bedeckte, sondern auch die Wände. Aus einem Durchgang fiel Licht in die Kammer, in der Krasus stand, und erzeugte glitzernde Trugbilder. Ein leichter Wind hatte, wie auch immer, seinen Weg aus dem kalten, öden Land oberhalb des verwunschenen Ortes hier hinab ins Innere gefunden, und mit jedem Hinwegstreichen über die eisigen Dorne brachte er sie in allen Farben des Regenbogens zum Leuchten.

Doch im Schatten der Schönheit dieses winterlichen Wunders lagen grausigere Spuren verborgen. Unter der bezaubernden Decke aus Schnee konnte Krasus erstarrte Formen ausmachen, die Schlimmstes erahnen ließen, gelegentlich sogar die Umrisse einzelner Körperteile. Er wusste, dass vieles von den großen Tieren stammte, die in diesen Landen lebten, ein paar jedoch, insbesondere eine Kontur, die eine im grässlichen Todeskampf verkrampfte Hand nachzeichnete, zeugten von dem Schicksal derer, die es gewagt hatten, unbefugt hier einzudringen.

Weitere Hinweise auf das Schicksal der Eindringlinge waren in den umstehenden Eismonumenten zu erkennen; den Kern einiger bildeten die gefrorenen Leichen uneingeladener Besucher aus längst vergangenen Tagen.

Krasus sah, dass Eistrolle zu den häufigsten Opfern zählten – barbarische Kolosse mit fahler Haut und mehr als dem zweifachen Körperumfang ihrer südlichen Artgenossen. Urteilte man nach ihren qualverzerrten Gesichtern, waren sie keines leichten Todes gestorben.

Weiter hinten bemerkte der Magier zwei der wilden Tiermenschen, die als Wendigos bekannt waren. Auch sie waren im Tod eingefroren worden, doch während die Trolle dem Grauen über ihren schrecklichen Tod Ausdruck verliehen, stellten die Wendigos Masken der Wut zur Schau – als könnten sie es noch immer nicht fassen, in eine solche Lage geraten zu sein.

Krasus durchquerte die eisige Kammer und ließ den Blick über weitere Stücke dieser grausigen Ausstellung schweifen. Er entdeckte einen Elf und zwei Orks, die seit seinem letzten Besuch hinzugefügt worden waren, Anzeichen dafür, dass der Krieg selbst in diese abgeschiedene Heimstatt vorgedrungen war. Einer der Orks sah aus, als sei er gefrostet worden, ohne sich überhaupt des Schicksals bewusst geworden zu sein, das ihn ereilt hatte.

Und hinter den Orks fand Krasus eine Leiche, die selbst ihn entsetzte. Auf den ersten Blick schien es sich nur um eine riesige Schlange zu handeln, was in einer solchen Hölle aus Eis bereits ungewöhnlich genug gewesen wäre, doch darüber hinaus ging der gewundene, zylindrische Körper am Kopfende plötzlich in einen nahezu menschlichen Rumpf über – immerhin ein menschlicher Rumpf, der von dünnen Schuppen bedeckt war …

Zwei Arme reckten sich dem Zauberer wie eine Einladung entgegen, das grauenvolle Schicksal mit der Kreatur zu teilen.

Ein scheinbar elfisches Gesicht hieß den Besucher willkommen, doch es besaß eine flachere Nase, nur einen Schlitz von einem Mund und Zähne, die so scharf wie die eines Drachen waren. Dunkle pupillenlose Augen glänzten wutentbrannt. In der Dunkelheit und mit der unteren Hälfte seiner Gestalt im Verborgenen liegend, hätte man das Geschöpf als Mensch oder sogar Elf missdeuten können. Krasus aber wusste, was es tatsächlich war – oder vielmehr gewesen war. Der Name formte sich ohne sein Zutun auf der Zunge des Zauberers, als würde das bösartige, vereiste Opfer vor ihm danach verlangen. »Na …«, setzte Krasus an.

»Ihr ssseid nichtsss, nichtsss, nichtsss, wenn nicht unverfroren …«, unterbrach ihn eine wispernde Stimme, die der Wind heranzutragen schien.

Der gesichtslose Zauberer drehte sich um und sah einen Teil des Eises an einer Wand herausbrechen – und sich in etwas entfernt Menschenähnliches verwandeln. Doch die Beine waren zu dünn und knickten in unmöglichen Winkeln ab, und der Körper erinnerte eher an den eines Insektes. Auch der Kopf war nur die oberflächliche Wiedergabe eines menschlichen, denn obwohl es Augen, Nase und Mund in dem Gesicht gab, wirkte es, als habe ein Künstler eine Schneeskulptur begonnen und die Idee dann wieder verworfen, kaum dass die ersten Züge erkennbar geworden waren.

Ein schimmernder Mantel umgab die bizarre Gestalt, kapuzenlos, aber mit einem Kragen, der auf der Rückseite in mächtigen Dornen endete.

»Malygos …«, murmelte Krasus. »Wie geht es Euch?«

»Gut, gut, gut, solange meine Ruhe nicht gessstört wird.«

»Ich wäre nicht hier, hätte ich eine andere Wahl gehabt.«

»Esss gibt immer eine andere Wahl – Ihr könntet gehen, gehen, gehen! Ich wäre allein!«

Der Zauberer ließ sich nicht vom Herren der Höhle einschüchtern. »Und habt Ihr vergessen, weshalb Ihr so ruhig, so ungestört, an diesem Ort lebt, Malygos? Habt Ihr es so rasch vergessen? Es ist doch kaum ein paar Jahrhunderte her, seit …«

Die eisige Kreatur ging am Rande der Höhle entlang und richtete etwas, das man als seine Augen bezeichnen konnte, auf den Besucher. »Ich vergesse nichts, nichts, nichts!«, wehte der raue Wind heran. »Am wenigsten die Tage der Dunkelheit …«

Krasus drehte sich langsam um die eigene Achse, Malygos stets im Blick behaltend. Zwar gab es keinen vernünftigen Grund, weshalb er mit einem Angriff hätte rechnen sollen, doch einer der Ältesten derer, die noch lebten, hatte durchblicken lassen, dass Malygos mittlerweile mehr als nur ein bisschen verrückt sein könnte.

Die dürren Beine waren ideal für Schnee und Eis, die Krallen an ihrem Ende gruben sich tief ein. Krasus fühlte sich an die Stöcke erinnert, die Völker in kälteren Gegenden benutzten, um sich auf ihren Skiern abzustoßen.

Malygos hatte nicht immer so ausgesehen, und nicht einmal jetzt war er an diese Form gebunden. Er verwendete die momentane Gestalt aber, weil er sie in seinem Unterbewusstsein dem Körper, in dem er geboren worden war, vorzog.

»Dann erinnert Ihr Euch also, was derjenige, der sich selbst den Namen Deathwing gab, Euch und den Euren antat.«

Das sonderbare Gesicht zuckte, die Klauen zogen sich zusammen. Etwas wie ein Schlangenzischeln entfuhr Malygos.

»Ich erinnere mich …«

Die Höhle schien mit einem Mal zu schrumpfen. Krasus blieb, wo er war, denn er wusste, dass es sein Todesurteil sein konnte, wenn er in Malygos Welt der Qual ein Zeichen von Schwäche zeigte.

»Ich erinnere mich!«

Die eisigen Dornen zitterten und erzeugten zunächst ein Geräusch, das an den Klang winziger Glöckchen erinnerte, dann aber rasch zu einem ohrenbetäubenden Klirren anschwoll. Malygos stapfte auf den Zauberer zu, sein Mund ein langer, verbitterter Strich. Die Augenhöhlen unter den fahlen Nachbildungen von Brauen vertieften sich.

Schnee und Eis breiteten sich aus, wuchsen in die Höhe und begannen die Kammer mehr und mehr zu füllen. Um Krasus herum wurde ein Teil des Schnees aufgewirbelt, erhob sich und wurde zu einem gespenstischen Giganten von mythischen Ausmaßen, einem Eisdrachen – einem Geisterdrachen.

»Ich erinnere mich an das Versprechen«, zischte die groteske Gestalt. »Ich erinnere mich an das Bündnis, das wir eingingen. Niemals einander töten! Die Welt behüten bis in alle Ewigkeit!«

Der Zauberer nickte, wenngleich nicht einmal Malygos' Blick die Grenzen seiner Kapuze überwinden konnte. »Bis es zum Verrat kam.«

Der Schneedrache breitete die Schwingen aus. Er war nicht real, nur ein Trugbild, das die Gefühle des Herrn der Höhle widerspiegelte. Die mächtigen Kiefer öffneten und schlossen sich, als spreche diese gespenstische Marionette.

»Bis zum Verrat, bis zum Verrat, bis zum Verrat …« Ein Schwall aus Eis explodierte aus dem Schneedrachen, Eis, so hart und tödlich, dass es sich in die felsigen Wände bohrte. »Bis Deathwing kam!«

Krasus hielt eine Hand außerhalb von Malygos' Sichtfeld, nur für den Fall, dass er sie in den nächsten Augenblicken für einen raschen Zauberspruch benötigte.

Doch die monströse Kreatur behielt die Kontrolle über sich. Sie schüttelte den Kopf – der Schneedrache wiederholte die Geste – und fügte in vernünftigerem Tonfall hinzu: »Doch der Tag des Drachen war beinahe vorüber und niemand von uns, niemand von uns, niemand von uns glaubte, etwas von ihm fürchten zu müssen. Er war nur ein Bestandteil der Welt, ihre niederträchtigste und verdorbenste Spiegelung. Von allen Tagen war seiner am machtvollsten gekommen und wieder vergangen!«

Krasus sprang zurück, als der Boden vor ihm erbebte. Zuerst dachte er, Malygos hätte ihn in einem Moment der Unachtsamkeit zu überrumpeln versucht, doch der Boden bäumte sich lediglich auf und formte einen weiteren Drachen, diesmal aus Erde und Stein.

»Es geschehe um der Zukunft willen, sagte er«, fuhr Malygos fort. »Wenn es auf der Welt nur noch Menschen, Elfen und Zwerge gäbe, um über sie zu wachen, sagte er! Lasst alle Gruppen, alle Schwärme, all die Großen Drachen – die Kräfte – zusammenkommen, um das elende Kleinod wiederzuerschaffen, neu zu formen – und danach sollten wir den Schlüssel in der Hand halten, um die Welt für immer, selbst nachdem der letzte von uns dahingeschieden wäre, beschützen zu können!« Er blickte zu den beiden Trugbildern auf, die er geschaffen hatte. »Und ich, ich, ich … ich, Malygos, stand an seiner Seite und überzeugte den Rest!«

Die zwei Drachen umkreisten einander, durchdrangen einander, verschlangen einander – wieder und wieder. Krasus riss den Blick von ihnen los und ermahnte sich, dass sein Gegenüber zwar Deathwing über alle Maßen hassen mochte, dies jedoch nicht bedeutete, dass Malygos ihm helfen würde … oder ihm auch nur erlauben würde, diese Eishöhle wieder zu verlassen.

»Und so«, unterbrach der gesichtslose Zauberer ihn, »erfüllte es alle Drachen, insbesondere die Kräfte. Sie verbanden sich, in gewisser Weise, mit ihm …«

»Lieferten sich auf ewig seiner Gnade aus!«

Krasus nickte. »Stellten auf ewig sicher, dass es der einzige Gegenstand sein würde, der Macht über sie hatte, wenngleich sie dies damals noch nicht verstanden.« Er hielt eine behandschuhte Hand empor und erschuf eine eigene Illusion, ein Trugbild des Kleinods, von dem sie beide sprachen. »Ihr erinnert Euch, wie täuschend es wirkte? Ihr erinnert Euch, was für ein schlicht aussehendes Ding es war?«

Mit dem Erscheinen des Bildes keuchte Malygos auf und duckte sich. Die Zwillingsdrachen fielen in sich zusammen, und Schnee und Fels verstreuten sich nach überall hin, ohne den Zauberer oder den Herrn der Höhle auch nur zu berühren. Das Getöse hallte in den leeren Gängen wider und drang sicherlich selbst bis in die weite, leere Einöde über ihnen.

»Nehmt es weg, nehmt es weg, nehmt es weg!«, verlangte Malygos beinahe wehleidig. Klauenhände versuchten, die undeutlich erkennbaren Augen zu bedecken. »Zeigt es mir nicht länger!«

Aber Krasus ließ sich nicht aufhalten. »Seht es an, mein Freund! Seht auf den Untergang der ältesten aller Rassen! Seht Euch an, was in aller Welt bekannt wurde unter dem Namen Dämonenseele

Die schlichte, schimmernde Scheibe drehte sich über der Handfläche des Magiers. Eine goldene Trophäe, die so harmlos wirkte, dass sie in den Besitz vieler gelangt war, im Laufe der Zeit, ohne dass auch nur einer ihrer Besitzer eine Vorstellung von der Macht gehabt hatte, die ihr innewohnte. Es war nur ein Trugbild, das hier beschworen wurde, doch selbst dieses erzeugte noch solche Furcht im Herzen Malygos', dass es ihn mehr als eine Minute kostete, ehe er seinen Blick darauf richten konnte.

»Geschmiedet aus der innersten Magie jedes Drachen, geschaffen, um die Dämonen der Brennenden Legion zuerst zu bekämpfen und dann deren eigenen magischen Kräfte darin zu bannen!« Der verhüllte Magier trat auf Malygos zu. »Und missbraucht von Deathwing, um damit alle anderen Drachen zu verraten, kaum dass die Schlacht geschlagen war! Missbraucht von ihm gegen seine engsten Verbündeten …!«

»Beendet dies! Die Dämonenseele ist verloren, verloren, verloren, und der Dunkle ist tot, vernichtet von menschlichen und elfischen Zauberern!«

»Ist er das?« Über die Reste der beiden Trugbilder steigend, gab Krasus das Bild des Artefakts auf und brachte stattdessen ein anderes hervor: einen Menschen, einen Mann, gekleidet ganz in Schwarz. Ein selbstbewusster junger Adliger mit Augen, die weit älter waren, als seine Erscheinung es ahnen ließ.

Lord Prestor.

»Dieser Mann, dieser Sterbliche', wird der nächste König von Alterac – Alterac im Herzen der Allianz von Lordaeron, Malygos. Kommt Euch nichts an ihm bekannt vor? Gerade Euch?«

Die eisige Kreatur kam näher und blickte auf das kreisende Bild des falschen Edelmannes. Malygos begutachtete Prestor sorgfältig, bedächtig … und mit zunehmendem Entsetzen.

»Das ist kein Mann!«

»Sagt es, Malygos. Sagt, was Ihr seht.«

Die unmenschlichen Augen richteten sich auf Krasus. »Das wisst Ihr sehr gut selbst – es ist Deathwing!« Eine tierhaftes Zischeln entfuhr dem grotesken Geschöpf, das einst selbst die majestätische Gestalt eines Drachen besessen hatte. »Deathwing …«

»Deathwing, genau«, erwiderte Krasus in nahezu gefühllosem Tonfall. »Deathwing, der zweimal für tot und besiegt gehalten wurde. Deathwing, der die Dämonenseele einsetzte und damit jede Hoffnung auf die Rückkehr eines Zeitalters der Drachen zunichte machte. Deathwing … der nun versucht, die jüngeren Völker zu verführen, auf dass sie seiner verräterischen Zunge folgen.«

»Er wird sie gegeneinander in den Krieg führen …«

»Ja, Malygos. Er wird sie gegeneinander in den Krieg führen, bis nur noch wenige leben – und diese wird Deathwing dann selbst zur Strecke bringen. Ihr wisst, was für eine Welt sich Deathwing erträumt. Eine, in der nur noch er und seine auserwählten Gefolgsleute existieren. Deathwings gesäubertes Reich … in dem nicht einmal mehr Platz für Drachen ist, die nicht von seiner Art sind.«

»Neeeiiinn …!«

Malygos Gestalt breitete sich plötzlich nach allen Richtungen aus, und seine Haut nahm reptilischen Charakter an. Auch die Farbe dieser Haut änderte sich von eisigem Weiß zu einem dunkleren, frostigen Silberblau. Seine Glieder wurden dicker, und sein Gesicht wuchs zu drachenhafter Länge. Doch Malygos vollendete die Verwandlung nicht, sondern hielt an einem Punkt inne, der eine grauenhafte Karikatur erschuf, ein Zwischending aus Drache und Insekt – ein Albtraumgeschöpf. »Ich verbündete mich mit ihm, und zum Dank wurde meine Sippe zugrunde gerichtet. Ich bin der letzte meiner Art. Die Dämonenseele nahm mir meine Kinder, meine Gefährten. Ich selbst konnte nur weiterleben in der Gewissheit, dass jener, der uns verriet, umkam und die verfluchte Scheibe für immer ausgelöscht wurde …«

»So ging es uns allen, Malygos.«

»Aber er lebt! ER LEBT!«

Der jähe Wutausbruch des Drachen ließ die Höhle erzittern. Eisspeere fuhren in den verschneiten Boden und erzeugten weitere Beben, die Krasus ins Stolpern brachten.

»Ja, er lebt, Malygos, er lebt trotz Eurer großen Opfer.«

Der grotesk verformte Leviathan studierte ihn eingehend. »Ich verlor viel … zu viel. Doch Ihr, der Ihr Euch Krasus nennt und einst selbst die Gestalt eines Drachen hattet, Ihr habt ebenso alles verloren.«

Bilder seiner geliebten Königin huschten durch Krasus' Gedächtnis. Bilder aus den Tagen mit Alexstrasza … Er war ihr zweiter Gemahl gewesen – doch, was seine Loyalität und Liebe anging, so hatte er stets den ersten Rang bei ihr eingenommen.

Der Zauberer schüttelte den Kopf und verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen. Die Sehnsucht, wieder durch die Lüfte zu streifen, musste unterdrückt bleiben. Bis sich die Dinge änderten, hatte er seine menschliche Gestalt zu wahren, musste er Krasus bleiben – nicht der rote Drache Korialstrasz.

»Ja … auch ich verlor viel«, erwiderte Krasus schließlich, als er sich wieder gefasst hatte. »Aber ich hoffe, etwas zurückzugewinnen … etwas für uns alle.«

»Wie?«

»Ich werde Alexstrasza befreien.«

Malygos verfiel in ein irrsinniges Gelächter. Er brüllte laut und lange, weit länger, als es schlichter Wahnsinn erklärt hätte. Er lachte voller Hohn über die Hoffnung und die Bestrebungen des Zauberers.

»Das wäre natürlich ein Triumph für Euch – vorausgesetzt Ihr könntet das Unmögliche bewerkstelligen! Doch was habe ich davon? Was bietet ihr mir, Winzling?«

»Ihr wisst, für welche Kraft sie steht? Dann wisst Ihr auch, was sie für Euch tun könnte.«

Das Lachen verstummte. Malygos zögerte, wollte eindeutig nicht daran glauben und tat es dennoch in seiner Verzweiflung. »Sie könnte nicht … oder könnte sie …?«

»Ich glaube, es wäre möglich. Ich bin von der Existenz dieser Möglichkeit jedenfalls soweit überzeugt, dass ich glaube, es wäre einen Versuch für Euch wert. Davon abgesehen, welche Zukunft erwartet Euch sonst?«

Die drachenhaften Züge wurden ausgeprägter, und Malygos wuchs zu atemberaubender Größe, bis er Krasus um das Fünf-, Zehn-, nein, Zwanzigfache überragte. Nahezu alle Spuren des grausigen Mischwesens, als das er Krasus zuvor erschienen war, verschwanden. Ein Drache thronte vor dem Besucher, ein Drache, wie er seit den Tagen, die noch vor dem ersten Auftauchen der Menschen lagen, nicht mehr gesehen worden war.

Mit der Rückkehr zu seiner Ursprungsgestalt schienen aber auch einige der Bedenken Malygos' zurückzukehren, denn er stellte die eine Frage, die Krasus sowohl befürchtet, als auch erwartet hatte: »Die Orks … Wie kann es sein, dass die Orks sie gefangen halten? Das habe ich mich immer wieder gefragt, gefragt, gefragt …«

»Ihr wisst, dass es nur einen einzigen Weg gibt, sie als Gefangene zu halten, mein Freund.«

Der Drache zog seinen silbern glänzenden Kopf zurück und fauchte. »Die Dämonenseele? Diese unwürdigen Kreaturen besitzen die Dämonenseele? Hast du mir deshalb diese jämmerliche Kopie gezeigt?«

»Ja, Malygos, sie haben die Dämonenseele, und obwohl ich nicht annehme, dass sie sich völlig bewusst sind, was sich in ihrem Besitz befindet, so wissen sie doch genug, um Alexstrasza damit im Zaum zu halten … doch das ist nicht einmal das Schlimmste.«

»Nicht das Schlimmste?«

Krasus wusste, dass er den alten Leviathan fast so weit zur Vernunft gebracht hatte, dass dieser bereit war, bei der Rettung der Drachenkönigin Hilfe zu leisten. Doch was er Malygos als nächstes zu erzählen hatte, mochte all diese Fortschritte wieder zunichte machen. Aber es führte kein Weg daran vorbei: Der Drache, der sich als einer der Zauberer der Kirin Tor getarnt hatte, musste – nicht zuletzt um seiner geliebten Königin willen – seinem potentiellen Verbündeten die Wahrheit sagen. »Ich glaube, dass Deathwing mittlerweile weiß, was ich vorhabe … und er wird sich durch nichts aufhalten lassen, bis beide, die verfluchte Scheibe und Alexstrasza, sein sind.«

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