4

Die Paladine brachten sie zu einer Festung, die sich als jene Siedlung herausstellte, von der Vereesa gesprochen hatte. Rhonin zeigte sich wenig beeindruckt. Die hohen Steinmauern rahmten funktionelle, schnörkellose Gebäude ein, in denen heilige Ritter, Schildknappen und eine kleine Anzahl normaler Bürger versuchten, ein Leben in relativer Einfachheit zu fuhren. Die Banner der Bruderschaft wehten neben denen der Allianz von Lordaeron, die von den Rittern der Silbernen Hand tatkräftig unterstützt wurde. Nur die Bürger verhinderten, dass Rhonin die Siedlung für einen militärischen Stützpunkt hielt. Die Regeln des heiligen Ordens regulierten offenbar das Zusammenleben von Zivilisten und Soldaten.

Die Paladine behandelten die Elfe freundlich, einige der jüngeren Ritter bemühten sich sogar um besonderen Charme, wenn sich Vereesa mit ihnen unterhielt. Mit dem Zauberer redeten sie jedoch nur, wenn es unbedingt nötig war und ließen sogar seine Frage, wie lange sie noch für die Reise nach Hasic benötigen würden, unbeantwortet. Vereesa musste die Frage wiederholen, erst dann erhielt er seine Antwort.

Trotz des ersten Eindrucks waren die beiden natürlich keine Gefangenen, aber Rhonin fühlte sich wie ein Ausgestoßener unter diesen Leuten. Sie behandelten ihn mit minimaler Höflichkeit, weil es ihr Schwur gegenüber König Terenas verlangte, doch abgesehen davon blieb er ein Paria.

»Wir sahen den Drachen und die Greife«, sagte ihr Anführer, ein Mann namens Duncan Senturus. »Unsere Pflicht und unsere Ehre geboten es, dass wir sofort ausritten, um Hilfe zu bringen.«

Die Tatsache, dass der Kampf vollständig in der Luft und damit außerhalb ihrer Reichweite ausgetragen wurde, hat weder ihren heiligen Enthusiasmus gedämpft, noch ihren gesunden Menschenverstand auf den Plan gerufen, dachte Rhonin trocken. Sie und die Waldläuferin hatten in dieser Beziehung einiges gemeinsam. Seltsamerweise fühlte der Zauberer jedoch einen Hauch von Eifersucht, da er nicht mehr allein mit Vereesa war. Schließlich wurde sie zu meiner Führerin ernannt. Sie sollte von dieser Pflicht nicht abweichen, bis wir Hasic erreicht haben.

Leider hatte Duncan Senturus auch Pläne, die Hasic betrafen. Als sie abstiegen, bot der breitschultrige ältere Ritter der Elfe seinen Arm an und sagte: »Es wäre eine grobe Unterlassung, wenn wir euch nicht auf dem schnellsten und sichersten Weg zum Hafen begleiten würden. Ich weiß, dass man Euch diese Aufgabe anvertraut hat, Mylady, aber eine höhere Macht scheint dafür gesorgt zu haben, dass Euch Eure Wege zu uns führten. Wir kennen den Weg nach Hasic gut, deshalb wird Euch ein kleiner Trupp unter meiner Leitung im Morgengrauen auf der Reise begleiten.«

Die Waldläuferin schien darüber erfreut zu sein, im Gegensatz zu Rhonin. Alle in der Festung starrten ihn an, als habe er sich in einen Ork oder Goblin verwandelt. Er hatte bereits genügend Verachtung von den anderen Zauberern erfahren und benötigte keine zusätzliche Häme vonseiten der Paladine.

»Das ist sehr freundlich von Euch«, ließ sich Rhonin hinter ihnen vernehmen, »aber Vereesa ist eine fähige Waldläuferin. Wir werden Hasic rechtzeitig erreichen.«

Senturus' Nasenlöcher blähten sich auf, als hätten sie gerade die Witterung von etwas Ekel Erregendem aufgenommen. Der ältere Paladin hielt sein Lächeln mühsam aufrecht und sagte zu der Elfe: »Erlaubt mir, Euch persönlich zu Eurem Quartier zu bringen.« Er sah einen seiner Untergebenen an. »Meric! Finde einen Platz für den Zauberer …«

»Hier lang«, knurrte ein muskelbepackter junger Ritter, der einen breiten Schnurrbart trug. Er schien Rhonin beim Arm greifen zu wollen, auch wenn das bedeutet hätte, ihm den Knochen zu brechen. Rhonin hätte ihm eine Lektion erteilen können, aber zum Schutz der Mission und zur Wahrung des Friedens zwischen den einzelnen Elementen der Allianz trat er einfach nur neben seinen Führer und schwieg während des gesamten Weges.

Er hatte erwartet, dass man ihm den dunkelsten und feuchtesten Platz der ganzen Festung als Nachtlager anbieten würde, aber stattdessen führte man ihn zu einem Zimmer, das vermutlich nicht schlechter war als jene Räumlichkeiten, in denen die mürrischen Krieger lebten. Es war trocken, sauber und verfügte über steinerne Wände, die den Raum umschlossen und nur eine Lücke für eine hölzerne Tür ließen. Rhonin hatte bereits an schlimmeren Orten übernachtet. Das Mobiliar bestand aus einem sauberen hölzernen Bett und einem kleinen Tisch. Da es keine Fenster gab, lieferte eine abgenutzte Öllampe die einzige Beleuchtung. Rhonin erwog, wenigstens um einen Raum mit einem Fenster zu bitten, vermutete jedoch, dass die Ritter nichts Besseres anzubieten hatten. Außerdem war er hier gegen neugierige Blicke geschützt.

»Das ist in Ordnung«, sagte er schließlich, aber der junge Ritter, der Rhonin hergebracht hatte, stieg bereits wieder die Stufen hinab und schloss die Tür hinter sich. Der Zauberer versuchte sich daran zu erinnern, ob die Außenseite der Tür einen Riegel oder ein anderes Schloss besaß, entschied dann jedoch, dass die Paladine sicherlich nicht so weit gehen würden. Mochte Rhonin für sie auch eine verdammte Seele sein, er blieb immer noch ein Verbündeter. Der Gedanke daran, wie unangenehm diese Tatsache für die Ritter sein musste, hob seine Laune ein wenig. Die Ritter der Silbernen Hand waren ihm schon immer überaus scheinheilig erschienen.

Seine unfreiwilligen Gastgeber ließen ihn bis zum Abendessen allein. Dort setzte man ihn dann weit von Vereesa weg, auf die sich die Aufmerksamkeit des Kommandanten konzentrierte, ob sie das nun wollte oder nicht. Niemand außer der Elfe sprach mehr als ein paar Worte mit dem Zauberer, und Rhonin hätte den Tisch unmittelbar nach dem Essen verlassen, wenn Senturus nicht die Sprache auf Drachen gebracht hätte.

»In den letzten Wochen sieht man sie häufiger fliegen«, informierte sie der bärtige Ritter. »Häufiger und verzweifelter. Die Orks wissen, dass sie nur noch wenig Zeit haben, deshalb versuchen sie so viel Zerstörungswerk wie möglich zu hinterlassen, bevor der Tag der Abrechnung mit ihnen kommt.« Er nahm einen Schluck Wein. »Erst vor drei Tagen wurde die Siedlung Juroon von zwei Drachen vernichtet. Bei diesem unseligen Zwischenfall starb mehr als die Hälfte der Bewohner. Die Bestien und ihre Herren flohen, bevor die Greifenreiter den Ort erreichen konnten.«

»Schrecklich«, murmelte Vereesa.

Duncan nickte. Ein Schimmer von beinahe fanatischer Entschlossenheit lag in seinen dunkelbraunen Augen. »Das wird schon bald Vergangenheit sein! Bald werden wir nach Khaz Modan marschieren, auf Grün Batol zu. Dort werden wir die Bedrohung, die von den letzten Resten der Horde ausgeht, endgültig beseitigen! Ork-Blut wird in Strömen fließen!«

»Und gute Männer werden sterben«, sagte Rhonin leise.

Offenbar besaß der Kommandant ein ebenso gutes Gehör wie die Elfe, denn er richtete seinen Blick sofort auf den Magier. »Ja, gute Männer werden sterben. Aber wir haben geschworen, Lordaeron und alle anderen Länder von der Bedrohung, die von den Orks ausgeht, zu befreien – und das werden wir tun, egal, was es uns kostet!«

Unbeeindruckt antwortete Rhonin: »Aber zuerst müsst Ihr etwas gegen die Drachen unternehmen, nicht wahr?«

»Wir werden sie vernichten, Zauberer, sie in die Unterwelt schicken, in die sie gehören. Wenn du und deine teuflischen –«

Vereesa berührte die Hand des Kommandanten und schenkte ihm ein Lächeln, das selbst Rhonin nervös machte. »Wie lange seid Ihr bereits ein Paladin, Lord Senturus?«

Rhonin beobachtete überrascht, wie sich die Waldläuferin in eine charmante und reizende junge Frau verwandelte. Ihre Verwandlung veränderte auch Duncan Senturus. Sie scherzte mit dem ergrauenden Ritter und schien an seinen Lippen zu hängen. Ihre Persönlichkeit hatte sich so sehr verändert, dass der Zauberer, der sie beobachtete, kaum glauben konnte, dass es sich um die gleiche Frau handelte, die ihn seit Tagen als Führerin und Helferin begleitete.

Duncan erzählte ausschweifend von den nicht gerade bescheidenen Anfängen seines Lebens als Sohn eines reichen Lords, der dem Orden beitrat, um sich einen Namen zu machen. Obwohl die anderen Ritter die Geschichte schon oft gehört haben mussten, hörten sie aufmerksam zu, sahen ihren Anführer wohl als leuchtendes Beispiel für ihre eigenen Karrieren. Rhonin beobachtete einen nach dem anderen und bemerkte mit leichtem Unbehagen, dass die Paladine kaum blinzelten oder atmeten, während sie der Geschichte lauschten.

Vereesa kommentierte die meisten Teile seiner Erzählung und ließ sogar die einfachsten Taten des älteren Mannes wundersam und mutig erscheinen. Sie spielte ihre eigenen Leistungen herunter, als Lord Senturus sie nach ihrer Ausbildung fragte, obwohl Rhonin sicher war, dass die Waldläuferin ihren Gastgebern in mancherlei Hinsicht überlegen war.

Der Paladin war hingerissen von ihrer Art und wurde immer ausschweifender, aber Rhonin hatte schließlich genug. Er verabschiedete sich – was niemand weiter beachtete – und eilte nach draußen, um frische Luft zu schöpfen und die Einsamkeit zu suchen.

Nacht lag über der Festung, eine mondlose Dunkelheit, die den hochgewachsenen Zauberer wie eine Decke einhüllte. Er freute sich darauf, Hasic zu erreichen und seine Reise nach Khaz Modan fortzusetzen. Dann war endlich Schluss mit Waldläufern, Paladinen und anderen nutzlosen Narren, die ihn nur von seiner eigentlichen Aufgabe abhielten. Rhonin arbeitete am besten allein, das hatte er schon vor der letzten Katastrophe, in die er geschlittert war, klar zu machen versucht. Aber man hatte ihm kein Gehör geschenkt, und er hatte den Befehlen gehorchen müssen, um den Sieg zu erzwingen. Die anderen Teilnehmer der Mission hatten seine Warnungen ignoriert und die Erfordernisse ihrer gefahrvollen Mission nicht begriffen. Mit dem typischen Hochmut der Untalentierten hatten sie sich zwischen seinen mächtigen Zauberspruch und die eigentlichen Ziele – eine Gruppe von Ork-Zaubermeistern, die etwas von den Toten hatten auferstehen lassen wollen, das manche für einen Dämon aus den alten Legenden hielten – gedrängt und waren dabei mit umgekommen.

Rhonin bedauerte jeden einzelnen Toten mehr, als er seinen Herren im Kirin Tor jemals gezeigt hatte: Sie verfolgten ihn, stachelten ihn zu immer riskanteren Unternehmen an … und was konnte gefährlicher sein, als ganz allein zu versuchen, die Drachenkönigin aus ihrem Gefängnis zu befreien?

Er musste dies allein schaffen, nicht nur des Ruhmes wegen, den es ihm einbringen würde, sondern auch, so hoffte Rhonin, um die Geister seiner toten Kameraden friedlich zu stimmen; Geister, die ihm keinen Moment der Ruhe gönnten. Selbst Krasus wusste nichts von diesen Heimsuchungen – was gut war da er sonst wahrscheinlich an Rhonins Verstand und seinem Wert gezweifelt hätte.

Der Wind frischte auf, als er die Festungsmauer erklomm. Einige Ritter standen Wache, aber die Neuigkeit seiner Anwesenheit in der Bastion schien sich herumgesprochen zu haben. Nachdem ihn der erste Wächter mithilfe seiner Laterne erkannt hatte, wurde Rhonin erneut zum Ausgestoßenen. Das störte ihn jedoch nicht; ihn interessierten die hiesigen Krieger ebenso wenig wie er sie.

Jenseits der Festung verwandelten die vagen Umrisse der Bäume die Landschaft in etwas Magisches. Rhonin hätte am liebsten die fragwürdige Gastfreundschaft verlassen und sich einen Schlafplatz unter einer Eiche gesucht. Dann hätte er wenigstens nicht mehr den frömmelnden Worten von Duncan Senturus zuhören müssen, der sich nach Meinung des Magiers wesentlich stärker für Vereesa interessierte, als es einem Ritter des heiligen Ordens zustand. Natürlich hatte sie schöne Augen und ihre Kleidung betonte ihre Figur …

Rhonin verbannte den Anblick der Waldläuferin aus seinen Gedanken. Das erzwungene Exil während seiner Bewährungszeit schien ihn stärker beeinflusst zu haben, als er geglaubt hatte. Die Magie war seine Geliebte und kam vor allem anderen. Wenn Rhonin doch nach der Gesellschaft einer Frau suchte, dann bevorzugte er den gefügigen Typ, die verzogenen jungen Damen an den Höfen etwa oder die leicht zu beeindruckenden Dienstmägde, denen er mitunter auf seinen Reisen begegnete. Sicherlich aber keine arroganten, elfischen Waldläuferinnen …

Er wandte seine Gedanken wichtigeren Dingen zu. Zusammen mit seinem Pferd hatte Rhonin auch die Gegenstände verloren, die er von Krasus erhalten hatte. Er musste versuchen, Kontakt zu dem anderen Zauberer herzustellen, um ihn wissen zu lassen, was geschehen war. Der junge Magier bedauerte, dass er das tun musste, aber er schuldete Krasus zu viel, um dies nicht wenigstens zu versuchen. Rhonin dachte nicht daran umzukehren; damit hätte er jegliche Hoffnung zunichte gemacht, die Achtung der anderen Zauberer jemals wiederzuerlangen – oder die Achtung vor sich selbst.

Er betrachtete seine Umgebung. Seine Sehschärfe war überdurchschnittlich, aber er entdeckte keine Wachen in der Nähe. Die Mauer eines Turms schützte ihn vor den Blicken des letzten Mannes, dem er auf seinem Weg begegnet war. Für den Moment schien dies ein guter Platz zu sein. Sein Zimmer hätte es vielleicht auch getan, aber Rhonin zog es vor, draußen zu sein, um die dumpfen Gedanken aus seinem Hirn zu verbannen.

Aus einer verborgenen Tasche seiner Robe zog er einen kleinen dunklen Kristall hervor. Nicht gerade die beste Möglichkeit, um eine Verbindung über Meilen hinweg herzustellen, aber die einzige, die ihm geblieben war.

Rhonin hielt den Kristall dem hellsten der schwachen Sterne am Himmel entgegen und begann die Worte der Macht zu sprechen. Das Innere des Steins begann zu leuchten und wurde heller, je länger er redete. Mystische Worte kamen über seine Zunge – und im nächsten Moment verschwanden die Sterne …!

Rhonin brach den Zauberspruch mitten im Satz ab und starrte zum Himmel. Nein, die Sterne, auf die er sich konzentriert hatte, waren nicht verschwunden; er konnte sie noch immer sehen. Aber für einen kurzen Moment, nicht länger als ein Lidschlag, hätte er geschworen …

Seine Gedanken gerieten ins Stocken.

Meine Einbildungskraft und die Erschöpfung haben mir einen Streich gespielt, dachte er. Wenn man berücksichtigte, was an diesem Tag alles passiert war, hätte Rhonin besser daran getan, gleich nach dem Essen zu Bett zu gehen – stattdessen hatte er sich an diesem schweren Zauberspruch versucht. Je eher er ihn hinter sich brachte, desto besser. Er wollte morgen wieder vollständig erholt sein, denn Lord Senturus würde sicherlich ein schnelles Tempo vorlegen.

Erneut hob Rhonin den Kristall und begann, die Worte der Macht zu sprechen. Noch einmal würde er sich nicht durch eine Sinnestäuschung.

»Was tust du hier, Zauberer?«, fragte eine tiefe Stimme.

Rhonin fluchte wutentbrannt über die neuerliche Störung. Er drehte sich zu dem Ritter um, der auf ihn zugekommen war, und fauchte: »Nichts, was –«

Eine Explosion erschütterte die Mauer.

Der Kristall entfiel Rhonins Hand. Er hatte keine Zeit, danach zu greifen, musste stattdessen darauf achten, nicht von der Mauer in den sicheren Tod zu stürzen – was ihm gelang.

Dem Wächter war dieses Glück nicht beschieden. Als die Mauer unter ihm erbebte, fiel er nach hinten, schlug zuerst gegen die Brüstung und rutschte dann darüber hinweg. Sein Schrei ging Rhonin durch Mark und Bein, bis er jäh, mit dem Aufschlag unten, abbrach.

Die Explosion war vorbei, aber ihre Erschütterungen setzten sich immer noch fort. Der verzweifelte Zauberer hatte gerade sein Gleichgewicht wiedergewonnen, als ein Teil der Mauer in sich zusammenstürzte. Rhonin rannte auf den Wachturm zu, in der Hoffnung, dort mehr Sicherheit zu finden. Er erreichte die für und das Innere – doch da begann sich der Turm bedenklich zu neigen.

Rhonin versuchte, das Gemäuer wieder zu verlassen, aber der Türrahmen brach in sich zusammen. Er war gefangen.

Schnell begann er, einen Zauberspruch aufzusagen, auch wenn er fürchtete, dass es auch dafür schon zu spät war. Die Decke fiel ihm entgegen …

… und gleichzeitig wurde er von etwas, das wie eine gigantische Hand anmutete, in den Würgegriff genommen. Er konnte nicht mehr atmen und verlor das Bewusstsein.


Nekros Skullcrusher brütete über dem Schicksal, das die Knochen ihm vor langer, langer Zeit enthüllt hatten. Der alte Ork spielte mit einem gelben Reißzahn, während er die goldene Scheibe in seiner anderen Hand betrachtete und sich fragte, wie jemand, dem es gelungen war, solche Macht zu erlangen, dazu gezwungen werden konnte, Kindermädchen und Aufpasser für ein schlecht gelauntes Weibchen zu spielen, dessen einziger Zweck es zu sein schien, Nachkommen zu gebären. Natürlich hatte die Tatsache, dass sie der größte aller Drachen war, etwas mit seiner Entscheidung zu tun – ebenso wie die Erkenntnis, dass er ohne sie, mit nur noch einem Bein, das er besaß, niemals seinen Rang als Clanführers hätte halten können.

Die goldene Scheibe schien ihn zu verhöhnen – seit jeher. Dennoch dachte der verkrüppelte Ork nicht daran, sie wegzuwerfen. Durch sie war er erst in die Position gerückt, die ihm den Respekt der anderen Krieger sicherte … auch wenn er den Respekt vor sich selbst an dem Tag verloren hatte, als der menschliche Ritter ihm die untere Hälfte seines linken Beins abgehackt hatte.

Er hatte den Menschen getötet, es aber nicht geschafft, aus eigener Kraft das Schlachtfeld zu verlassen. Stattdessen hatte er sich von anderen schleppen lassen müssen. Sie hatten seine Wunde gereinigt und ihm die Prothese gebaut, die sein fehlendes Stück Bein ersetzte.

Sein Blick fand den Kniestumpf und das Holzbein, das daran befestigt war. Er würde keinen ruhmreichen, blutigen, todesnahen Kampf mehr erleben. Andere Krieger hatten sich aufgrund weniger schwerer Verletzungen selbst gerichtet, aber Nekros schaffte es einfach nicht, seine Ehre auf diese Weise wiederherzustellen. Allein der Gedanke an die Klinge an seiner Kehle oder in seiner Brust erfüllte ihn mit einem Schaudern, das er vor den anderen nicht einmal erwähnen durfte. Nekros Skullcrusher wollte leben, egal, was es ihn kostete.

Es gab einige im Dragonmaw-Clan, die ihn schon längst zu den ruhmreichen Schlachtfeldern des Lebens nach dem Tode geschickt hätten, wäre er nicht ein so talentierter Zauberer gewesen. Schon früh hatte man sein Talent für jene Künste entdeckt, und er war von den besten Magiern unterrichtet worden. Allerdings hätte das Leben eines bekennenden Zauberers Entscheidungen von ihm abverlangt, die Nekros nicht zu treffen bereit war; dunkle Entscheidungen, die seiner Ansicht nach der Horde nicht gedient, sondern sie, im Gegenteil, unterwandert hätten. Er war vor ihnen geflohen und zu den Kriegern zurückgekehrt, aber mitunter verlangte sein Häuptling, der große Schamane Zuluhed, den Einsatz seiner anderen Talente von ihm – so auch, als es darum ging, etwas zu vollbringen, was von den meisten Orks als aussichtslos betrachtet worden war: die Gefangennahme der Drachenkönigin Alexstrasza.

Zuluhed beherrschte die rituelle Magie des alten Schamanenglaubens wie nur wenige seit Gründung der Horde, aber für diese spezielle Aufgabe hatte er die dunkleren Kräfte benötigt, in denen sich Nekros auskannte. Über Wege, die der weise Ork seinem verkrüppelten Begleiter nie enthüllt hatte, war Zuluhed in den Besitz eines uralten Talismans gekommen, der angeblich zu gewaltigen Wundern imstande war. Allerdings hatte der Talisman nicht auf die Schamanen-Sprüche reagiert, obwohl der Häuptling sich die allergrößte Mühe gab. Deshalb hatte sich Zuluhed an den einzigen Zauberer wenden müssen, dem er vertrauen konnte, einen Krieger, der loyal zum Dragonmaw-Clan stand.

Und so hatte Nekros die Dämonenseele erhalten.

Zuluhed hatte der zierdelosen goldenen Scheibe diesen Namen verliehen, obwohl der andere Ork den Grund dafür zunächst nicht verstanden hatte.

Nekros drehte sie zwischen seinen Händen und bewunderte, wie schon so oft, ihr beeindruckendes, wenn auch schlichtes Aussehen. Sie bestand aus reinem Gold und hatte die Form einer Münze mit abgerundeten Rändern. Sie leuchtete selbst im geringsten Licht und nichts konnte sie beschmutzen. Öl, Schlamm, Blut … alles perlte davon ab.

»Sie ist älter als die Magie der Schamanen oder der Zauberer«, hatte Zuluhed ihm gesagt. »Ich kann damit nichts anfangen, aber du vielleicht …«

Obwohl der holzbeinige Ork ausgebildet worden war, bezweifelte er, dass er, der den dunklen Künsten eigentlich abgeschworen hatte, mehr erreichen würde als sein legendärer Häuptling. Trotzdem hatte er den Talisman angenommen und versucht seinen Nutzen zu ergründen.

Zwei Tage später war ihnen dank seines unglaublichen Erfolgs und Zuluheds leitender Hand etwas gelungen, was niemand, vor allem die Drachenkönigin, je für möglich gehalten hätte.

Nekros grunzte und erhob sich langsam. Dort, wo das Holz gegen sein Knie stieß, schmerzte sein Bein; ein Schmerz, der durch das enorme Gewicht des bauchigen Ork noch gesteigert wurde. Nekros machte sich keine Illusionen über seine Führungsqualitäten. Es fiel ihm ja schon schwer, die Höhlen zu durchwandern.

Es war Zeit für einen Besuch bei Ihrer Hoheit. Er musste dafür sorgen, dass sie nicht vergaß, ihre Pflichten zu erfüllen. Zuluhed und die wenigen anderen Clanführer, die noch in Freiheit lebten, träumten immer noch von der Wiederauferstehung der Horde. Sie wollten die Orks, die von dem Schwächling Doomhammer im Stich gelassen worden waren, zum Aufstand bewegen. Nekros zweifelte an der Erfüllbarkeit dieser Träume, aber er war ein loyaler Ork, und als loyaler Ork folgte er den Befehlen seines Kommandanten aufs Wort.

Mit der Dämonenseele in der Hand hinkte der Ork durch die dunklen Gänge der Höhlen. Der Dragonmaw-Clan hatte hart geschuftet, um das vorhandene System, das sich durch die Berge zog, zu erweitern. Das komplexe Gangsystem erleichterte den Orks die schwierige Aufgabe des Aufziehens und Ausbildens der Drachen zur Unterstützung der Horde. Drachen benötigten viel Raum und ihre eigenen Räumlichkeiten, die erst einmal ausgehoben werden mussten.

Heute gab es natürlich weniger Drachen, eine Tatsache, die Zuluhed und andere in letzter Zeit häufiger in Nekros Beisein erwähnten. Sie benötigten Drachen, wenn ihre verzweifelten Angriffe doch noch irgendwann von Erfolg gekrönt sein sollten.

Und wie soll ich sie dazu bringen, schneller zu brüten?, dachte Nekros bei solchen Gelegenheiten.

Zwei jüngere, kräftige Krieger gingen an ihm vorbei. Sie waren über zwei Meter groß und doppelt so breit wie ihre menschlichen Gegner. Sie neigten leicht die Köpfe und bekundeten ihren Respekt vor seinem Rang. Riesige Schlachtäxte hingen in Gurten auf ihren Rücken. Es waren neue Drachenreiter. Die Todesfälle unter den Reitern waren ungefähr doppelt so hoch wie unter ihren Tieren, was am häufigen Verlust jeglichen Halts im Kampfe lag. Früher hatte sich Nekros gefragt, ob dem Clan zuerst die Krieger oder die Drachen ausgehen würden, aber er hatte dies nie Zuluhed gegenüber zur Sprache gebracht.

Der Ork humpelte weiter durch das Labyrinth der Gänge und vernahm schon bald die typischen Geräusche, die auf die Gegenwart der Drachenkönigin hinwiesen. Er bemerkte das angestrengte Atmen, das als Echo von den Wänden zurückprallte, als würde Dampf aus den Tiefen der Erde emporsteigen. Nekros wusste, was das mühsame Atemschöpfen bedeutete. Er war zum genau richtigen Zeitpunkt eingetroffen.

Es standen keine Wachen an dem aus Stein gehauenen Eingang zur großen Kammer des Drachens, dennoch blieb Nekros stehen. Es hatte bereits frühere Versuche gegeben, den riesigen roten Drachen zu befreien oder ihn zu beseitigen, aber sie hatten jedes Mal mit dem Tod geendet. Nicht die Königin war dafür verantwortlich – sie hätte jeden Mörder sehnsüchtig willkommen geheißen –, sondern eine eher unerwartete Fähigkeit des Talismans, den Nekros in Händen hielt.

Der Ork kniff die Augen zusammen und vermochte doch nicht mehr zu sehen, als einen leeren Korridor. »Komm!«

Sofort begann die Luft rund um den Eingang zu flirren. Kleine Feuerbälle entstanden und verschmolzen miteinander. Eine humanoide Gestalt begann, den Eingang auszufüllen und herauszugleiten.

Etwas, das an einen brennenden Totenschädel erinnerte, entstand dort, wo der Kopf hätte sein sollen. Eine Rüstung, wie aus glühenden Knochen erschaffen, umfloss den Körper eines monströsen Kriegers, der selbst die größten Orks wie Zwerge aussehen ließ. Nekros fühlte keine Hitze von den höllischen Flammen ausströmen, wusste jedoch, dass selbst eine sachte Berührung der Kreatur ihn in ein Meer aus Schmerz hätte stürzen lassen; Qualen, wie sie selbst ein bewährter Krieger noch niemals durchlebt hatte.

Unter den anderen Orks flüsterte man, dass Nekros Skullcrusher einen der legendären Dämonen erweckt habe. Er sah keine Veranlassung, diesem Gerücht zu widersprechen, obwohl Zuluhed die Wahrheit kannte. Die monströse Kreatur, die den Drachen bewachte, war unfähig, einen eigenen Gedanken zu fassen.

Bei seinem Versuch, die Fähigkeiten des mysteriösen Artefakts zu enthüllen, hatte Nekros etwas anderes aus seinem Schlummer gerissen. Zuluhed bezeichnete es als einen Golem des Feuers, entstanden vielleicht aus der Essenz dämonischer Macht, aber keineswegs selbst eines dieser angeblich mystischen Wesen.

Ungeachtet seiner Herkunft oder früheren Verwendung diente der Golem nun als perfekter Wächter. Selbst die mutigsten Krieger gingen ihm aus dem Weg. Nur Nekros konnte ihm Befehle erteilen. Zuluhed hatte es versucht, aber das Artefakt, aus dem der Golem entstanden war, schien eine Verbindung mit dem einbeinigen Ork eingegangen zu sein.

»Ich trete ein«, sagte er zu der grausamen Kreatur.

Der Golem versteifte sich … und verschwand in einem Regen aus ersterbenden Funken. Obwohl Nekros diesen Abschied schon oft gesehen hatte, wich er stets ein Stück weit zurück und wagte es nicht, durch den Eingang zu treten, bis auch der letzte Funke verloschen war.

Als der Ork eintrat, bemerkte eine Stimme: »Ich wusste … dass du … bald hier … sein würdest …«

Die Abscheu in den Worten des angeketteten Drachens beeindruckte den Wärter nicht. In den letzten Jahren hatte er schon weit Schlimmeres gehört. Seine Hand umklammerte das Artefakt, als er sich auf den Kopf der Königin, der mit Eisen gehalten wurde, zu bewegte. Sie hatten einen Wärter an ihre mächtigen Kiefer verloren, ein zweiter sollte dem nicht folgen.

Eigentlich hätten die eisernen Ketten und Stangen nicht ausreichen dürfen, um einen solchen Leviathan zu zähmen, aber sie waren mit der Macht der Scheibe verstärkt worden. Selbst wenn Alexstrasza sich mit aller Kraft wehrte, konnte sie sich niemals befreien. Das hieß jedoch nicht, dass sie es nicht jedes mal wieder aufs Neue versuchte.

»Brauchst du etwas?« Nekros fragte das nicht, weil er sich um sie sorgte. Aber er wollte sie für die Horde am Leben erhalten.

Einst hatten die roten Schuppen der Königin wie edles Metall geglänzt. Noch immer füllte sie die große Kammer vom Kopf bis zur Schwanzspitze aus, aber in letzter Zeit sah man ihre Rippen unter der Haut und ihre Worte klangen angestrengter. Doch trotz ihres schlechten Zustands war der Hass nicht aus ihren großen goldenen Augen gewichen. Der Ork wusste, dass er, sollte der Drachenkönigin je die Flucht gelingen, als Erster von ihr zermalmt oder zu Asche verbrannt würde. Da die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch sehr gering war, machte sich selbst der einbeinige Nekros darüber keine Gedanken.

»Der Tod wäre nett …«

Er grunzte und wandte sich ab von solch sinnloser Unterhaltung. Während ihrer langen Gefangenschaft hatte sie einmal versucht sich zu Tode zu hungern, aber er hatte einfach eines ihrer Eier vor ihrem entsetzten Blick zerbrochen, um diese Gefahr abzuwenden. Obwohl Alexstrasza wusste, dass jeder ihrer Nachkommen ausgebildet wurde, um die Feinde der Horde zu terrorisieren und wahrscheinlich in diesem Kampf zu sterben, hoffte sie immer noch, dass sie eines Tages frei sein würden. Mit dem Vernichten der Eier verging auch ein Teil dieser Hoffnung. Ein Drache weniger, der vielleicht eines Tages sein eigener Herr sein würde.

Wie immer inspizierte Nekros die neue Brut. Dieses Mal gab es fünf Eier, eine gute Anzahl, obwohl die meisten etwas kleiner als sonst waren. Das bereitete ihm Sorgen. Sein Häuptling hatte sich bereits über die kleinen Drachen aus dem letzten Wurf beschwert, obwohl selbst ein kleiner Drache noch die Größe mehrerer Orks hatte.

Nekros ließ die Scheibe in eine sichere Tasche an seiner Hüfte gleiten und hob eines der Eier auf. Der Verlust seines Beins hatte seine Arme nicht geschwächt und so konnte der große Ork es problemlos bewegen. Er bemerkte, dass das Ei ein vielversprechendes Gewicht hatte. Wenn die anderen Eier ebenfalls so schwer waren, würden aus ihnen zumindest gesunde Drachen schlüpfen. Am besten brachte er sie sobald wie möglich nach unten in die Brutkammer. Die vulkanische Hitze, die dort herrschte, war ideal, um das Schlüpfen der Tiere zu beschleunigen.

Als Nekros das Ei wieder ablegte, murmelte die Königin: »All dies ist völlig sinnlos, Sterblicher. Dein kleiner Krieg ist fast vorüber.«

»Vielleicht hast du Recht«, knurrte er und überraschte sie vermutlich mit seiner Offenheit, »aber wir kämpfen bis zum bitteren Ende, Echse.«

»Dann werdet ihr es ohne uns tun müssen. Du weißt, dass mein letzter Begleiter stirbt. Ohne ihn wird es keine neuen Eier mehr geben.« Ihre leise Stimme war kaum noch zu hören. Die Drachenkönigin atmete mühsam aus, als wäre die Unterhaltung bereits zu viel für ihren geschwächten Körper.

Er sah in ihre Reptilienaugen. Nekros wusste, dass Alexstraszas letzter, noch verbliebener Gefährte tatsächlich im Sterben lag. Sie hatten ursprünglich drei besessen, doch einer war bei seinem Versuch, über das Meer zu fliehen, gestorben, und der Zweite hatte seine Verletzungen nicht überlebt, nachdem der rebellische Drache Deathwing ihn überraschend attackiert hatte. Der Dritte und Älteste von ihnen war an der Seite seiner Königin geblieben, aber er war noch um Jahrhunderte älter selbst als Alexstrasza, und diese Jahrhunderte, verbunden mit fast tödlichen Verletzungen, verlangten jetzt ihren Preis.

»Dann finden wir einen anderen.«

Es gelang ihr zu schnaufen. Ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. »Und wie … wollt ihr das anstellen?«

»Wir finden einen.« Er hatte keine andere Antwort für sie, aber Nekros wollte verdammt sein, wenn er der Echse die Genugtuung gewährte, auf die sie spekulierte. Ärger und lange aufgestaute Frustration kochten in ihm hoch. Er hinkte zu ihr. »Und was dich angeht, Echse –«

Nekros hatte sich dicht an den Kopf der Drachenkönigin herangewagt, wohl in der Gewissheit, dass sie dank der magischen Fesseln nicht in der Lage sein würde, ihn zu fressen oder einzuäschern. Deshalb erschrak er, als sich Alexstraszas Kopf plötzlich trotz der Fesseln drehte und sein gesamtes Gesichtsfeld ausfüllte. Das Maul der Königin öffnete sich weit, und der Ork starrte in den erschütternd tiefen Rachen der Kreatur, die ihn verschlingen wollte.

Das vermochte sie jedoch nicht, denn Nekros reagierte blitzschnell. Er griff in die Tasche, in der sich die Dämonenseele befand, murmelte ein einziges Wort und dachte einen einzigen Befehl.

Ein schmerzerfülltes Brüllen hallte durch die Kammer und ließ Felsbrocken von der Decke fallen. Der rote Drache bog den Kopf so weit zurück, wie es ihm möglich war. Die Klammer um seinen Hals leuchtete so grell, dass der Ork seine Augen bedecken musste.

Neben ihm tauchte der flammende Diener der Scheibe auf. Seine dunklen Augenhöhlen wandten sich Nekros zu, erwarteten seinen Befehl. Der Zauberer benötigte die Kreatur jedoch nicht mehr, denn das Artefakt selbst hatte die Situation, die fast in der Katastrophe gegipfelt hätte, unter Kontrolle gebracht.

»Geh!«, befahl er dem Feuergolem. Als die Kreatur in einer Explosion verging, wagte sich der verkrüppelte Ork wieder an die Königin heran. Verachtung zeichnete sich in seinem hässlichen Gesicht ab, und die Erkenntnis, einen längst verlorenen Kampf zu kämpfen, steigerte seinen Zorn über den letzten Mordversuch des Leviathans ins Unermessliche.

»Immer noch trickreich, Echse?« Er warf einen Blick auf die Eisenklammer, die Alexstrasza in langer, mühevoller Arbeit aus der Wand gelöst haben musste. Die Magie ihrer Fesseln erstreckte sich nicht auf den Stein, in dem sie verankert waren, wie Nekros jetzt erkannte. Diese Nachlässigkeit hatte ihn beinahe das Leben gekostet.

Aber da es ihr nicht gelungen war, ihn umzubringen, musste sie jetzt für ihre Anmaßung bezahlen. Nekros starrte unter vorstehenden Augenwülsten heraus auf den verletzten Drachen.

»Eine gewagte Hinterlist …«, knurrte er. »Eine verwegene, aber auch dumme Hinterlist.« Er hielt die goldene Scheibe hoch, damit ihre geweiteten Augen sie sehen konnten. »Zuluhed hat mir befohlen, dich am Leben zu erhalten, aber er befahl mir auch, dich zu bestrafen, wenn ich es für nötig halte.« Nekros' Finger schlossen sich fester um das Artefakt, das hell zu leuchten begann. »Jetzt ist –«

»Entschuldige die Unterbrechung eines Nichtsnutzes, oh großmütiger Meister«, krächzte eine Nerven aufreibende Stimme hinter ihm. »Es gibt Neuigkeiten, die Ihr unbedingt erfahren müsst.«

Nekros ließ beinahe das Artefakt fallen. Auf seinem gesunden Bein wirbelte er herum und erblickte eine Mitleid erregende kleine Gestalt mit Fledermausohren und spitzen Zähnen, welche in irrem Grinsen entblößt waren. Nekros wusste nicht, was ihn mehr störte – die Kreatur oder der Umstand, dass es ihr gelungen war, in die Höhle des Drachen vorzudringen, ohne vom Golem gestoppt zu werden.

»Du! Wie bist du hier hereingekommen?« Er schnappte mit der Hand nach der Kehle der kleinen Gestalt und hob sie mühelos hoch. Jeder Gedanke an eine Bestrafung des Drachens verschwand aus seinem Geist. »Wie?«

Obwohl die widerwärtige kleine Kreatur halb erstickte, grinste sie weiterhin. »I-Ich bin einfach hinein … gegangen, oh g-großmütiger Meister! Einfach rein-reingegangen!«

Nekros dachte nach. Der Goblin hatte vermutlich den Moment genutzt, als der Feuergolem seinem Herrn zu Hilfe geeilt war. Goblins waren trickreich und fanden häufig Wege, um selbst an Orte zu gelangen, die man hermetisch abgesichert wähnte. Aber selbst dieses Exemplar hätte es auf keine andere Weise als die, die Nekros sich gerade zur eigenen Beruhigung herangezogen hatte, geschafft, hier hereinzugelangen.

Er ließ den Goblin fallen. »Also gut! Warum bist du hier? Was hast du für Neuigkeiten?«

Der Goblin rieb seine Kehle. »Nur die wichtigsten, nur die wichtigsten, dessen könnt Ihr sicher sein!« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Habe ich Euch denn je enttäuscht, oh wundersamer Meister?«

Im tiefsten Inneren war Nekros zwar der Meinung, dass Goblins weniger Ehre im Leib hatten als Schnecken, aber er musste sich auch eingestehen, dass dieser hier ihn nie betrogen hatte. Die Goblins waren vielleicht nicht die vertrauenswürdigsten Verbündeten und spielten gern ihr eigenes Spiel, aber sie hatten stets die Missionen erfüllt, die ihnen Doomhammer und vor ihm Blackhand befohlen hatte. »Sprich und beeil dich gefälligst!«

Der teuflische Zwerg nickte mehrfach. »Ja, Nekros, ja! Ich bin hier, um Euch von einem Plan zu berichten – von mehreren, um genau zu sein –, und sie alle haben das Ziel, jemanden …« Er zögerte und zeigte mit dem Kopf auf die erschöpfte Alexstrasza. »Ich meine, sie alle haben das Ziel, sämtliche Träume des Dragonmaw-Clans zu zerstören …«

Ein unangenehmes Gefühl überkam den Ork. »Was soll das heißen?«

Wieder wies der Goblin mit dem Kopf zu dem Drachen. »Vielleicht sollten wir woanders, großmütiger Herr …?«

Die Kreatur hatte Recht. Nekros warf einen Blick auf seine Gefangene, die vor Schmerz und Erschöpfung das Bewusstsein verloren zu haben schien. Von jetzt an würde er ihr gegenüber noch vorsichtiger sein. Wenn sein Spion die Neuigkeit brachte, die er vermutete, war es besser, wenn die Drachenkönigin keine Details erfuhr.

»Wie du willst«, grunzte er. Nekros hinkte auf den Ausgang zu und dachte bereits über das nach, was er gleich erfahren würde. Der Goblin hüpfte grinsend neben ihm auf und ab. Nekros hätte das nervtötende Lächeln liebend gern von seinem Gesicht gewischt, aber noch benötigte er die Kreatur. Wenn sie ihm doch nur den geringsten Anlass gegeben hätte, seine Meinung zu revidieren …

»Ich hoffe, du hast einen guten Grand für die Störung, Kryll!«

Kryll nickte und musste sich beeilen, um Schritt zu halten. Sein Kopf bewegte sich ruckartig wie bei einem zerbrochenen Spielzeug. »Vertraut mir, Meister Nekros, vertraut mir …«

Загрузка...