5

»Er hatte nichts mit der Explosion zu tun«, beharrte Vereesa. »Wieso sollte er so etwas tun?«

»Er ist ein Zauberer«, erinnerte Duncan sie, als beantworte allein dies schon alle Fragen. »Das Leben und Lebenswerk anderer kümmert ihn nicht.«

Sich der Vorurteile des heiligen Ordens gegenüber jeglicher Form von Magie wohl bewusst, versuchte Vereesa erst gar nicht, diesen Punkt anzufechten. Als Elfe war sie mit Magie aufgewachsen, war sogar selbst ein wenig darin bewandert, und daher sah sie Rhonin nicht in dem schlechten Licht, wie es der Paladin tat. Wenngleich ihr Rhonin rücksichtslos vorkam, erschien er ihr doch nicht so unmenschlich, dass sie ihm nicht zugetraut hätte, er würde sich Gedanken um das Leben anderer machen. Hatte er ihr nicht zur Flucht vor dem Drachen verholfen und dabei die eigene Haut riskiert? Er hätte Hasic auch alleine erreichen können.

»Und wenn ihn keine Schuld trifft«, fuhr Lord Senturus fort, »wieso ist er dann verschwunden? Weshalb gibt es keine Spur von ihm in den Trümmern? Wenn er unschuldig wäre, sollte sein Körper dort neben unseren beiden Brüdern liegen, die während seines Zaubers umkamen …« Der Mann strich leicht durch seinen Bart. »Nein, dieses schändliche Werk ist sein Verdienst, das könnt Ihr mir glauben.«

Und daher wirst du ihn wie ein Tier zur Strecke bringen, dachte sie. Warum sonst hatte Duncan zehn seiner Besten zusammengerufen, um Vereesa auf ihrer Suche nach dem vermissten Zauberer zu begleiten. Was sie ursprünglich als Rettungsmission verstanden hatte, entpuppte sich bald als etwas gänzlich anderes. Beim Klang der Explosion und dem Anblick der Ruine hatte die Elfe einen Stich im Herzen verspürt. Sie hatte nicht nur darin versagt, das Leben ihres Begleiters zu schützen, sondern obendrein waren er und zwei weitere Männer auch noch eines völlig sinnlosen Todes gestorben. Duncan hatte den ganzen Vorfall von Anfang an in anderem Licht betrachtet, insbesondere nachdem eine Durchsuchung der Trümmer keine Spur von Rhonin erbracht hatte.

Ihr erster Gedanke war gewesen: Goblin-Pioniere! Diese Geschöpfe verstanden sich vortrefflich darin, unbemerkt einer Festung nahe zu kommen und tödliche Sprengladungen anzubringen. Doch der Hauptmann der Paladine hatte darauf bestanden, dass sein Land von allen Anhängern der Horde, vor allem von Goblins, gesäubert worden sei. Auch wenn die stinkenden kleinen Kreaturen einige unglaubliche, nachgerade fantastische Flugmaschinen besaßen, war keine von ihnen beobachtet worden. Ein solches Flugschiff hätte sich wie der Blitz bewegen müssen, um einer Entdeckung zu entgehen – ein Ding der Unmöglichkeit für diese schwerfälligen Apparate.

Womit wiederum Rhonin als wahrscheinlichster Urheber der Zerstörung übrig blieb.

Vereesa glaube ihn dessen nicht fähig, vor allem weil er so sehr nach der Erfüllung seiner Mission gestrebt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass sie, sollten sie den jungen Zauberer aufspüren, imstande sein würde, Duncan und die anderen davon abzuhalten, ihn umzubringen, bevor sie überhaupt versuchten, die Wahrheit herauszufinden.

Sie hatten den umliegenden Landstrich durchkämmt und beugten sich nun in Richtung Hasic. Obwohl von mehr als einem der jüngeren Ritter angemerkt worden war, dass sich Rhonin wahrscheinlich seiner Magie bedient habe, um sich an seinen Zielort zu versetzen, war Duncan Senturus' Meinung, was die Fähigkeiten des Zauberers betraf, offenkundig nicht hoch genug, um dem Glauben zu schenken. Er war der leidenschaftlichen Überzeugung, dass es ihnen möglich sein würde, den verbrecherischen Magier zu finden und an ihm Gerechtigkeit zu üben.

Als der Tag zur Neige ging und die Sonne zu sinken begann, beschlichen sogar Vereesa erste Zweifel an Rhonins Unschuld. Hatte er die Katastrophe vielleicht doch verursacht und war anschließend vom Ort der feigen Tat geflohen?

»Wir werden bald unser Lager aufschlagen«, verkündete Lord Senturus einige Zeit später. Er betrachtete den dichter werdenden Wald. »Auch wenn ich keinen Ärger erwarte, bringt es uns doch nichts, durch die Dunkelheit zu streifen und dabei womöglich die Beute zu verpassen, obwohl sie sich ganz nah verbirgt.«

Mit einem weit besseren Sehvermögen ausgestattet als ihre Gefährten, zog Vereesa in Betracht, alleine weiterzusuchen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn die Ritter der Silbernen Hand Rhonin in ihrer Abwesenheit fanden, standen die Chancen des Zauberers ziemlich schlecht.

Sie ritten noch eine Weile weiter, ohne eine Spur zu entdecken. Die Sonne war hinter dem Horizont versunken und hinterließ nur einen Hauch von Licht, der ihren Weg erhellte. Wie angekündigt, gab Duncan merklich widerwillig die Losung aus, eine vorübergehende Unterbrechung ihrer Suche einzulegen. Er befahl seinen Rittern, umgehend ein Lager zu errichten. Vereesa saß ab, doch ihre Augen fuhren fort, die Umgebung zu sondieren, und wider alle Vernunft hoffte sie, dass sich der hitzköpfige Zauberer bemerkbar machen würde.

»Er ist hier nirgendwo, Lady Vereesa.«

Sie drehte sich um und blickte zum Anführer der Paladine auf dem einzigen Mann unter den Verfolgern, der groß genug war, ihr solch eine Haltung abzunötigen. »Ich kann nicht aufhören, Ausschau zu halten, Mylord.«

»Wir werden diesen Schurken schon früh genug finden.«

»Wir sollten uns zuerst seine Version der Geschichte anhören, Lord Senturus. Das erscheint mir nur angemessen.«

Die in voller Rüstung vor ihr stehende Gestalt zuckte mit den Schultern, als würde dies für sie keinerlei Unterschied machen. »Er wird natürlich die Möglichkeit erhalten, Buße zu tun.«

Was nichts anderes hieß, als dass sie Rhonin entweder in Ketten zurückschleifen oder auf der Stelle hinrichten würden. Die Ritter der Silbernen Hand mochten ein heiliger Orden sein, aber sie waren ebenso bekannt für ihre Pragmatik bei der Ausübung von Gerechtigkeit.

Vereesa entschuldigte sich beim Hauptmann der Paladine, nicht sicher, ob sie ihm gegenüber, was diesen Punkt anging, sonst noch lange ihre Zunge hätte im Zaum halten können. Sie brachte ihr Pferd zu einem Baum am Rande des Lagerplatzes, dann tauchte sie zwischen die Bäume. Hinter ihr verstummten die Geräusche des Lagers, während die Elfe tiefer in ihre ureigene Welt eindrang.

Erneut verspürte sie die Versuchung, die Suche allein fortzusetzen. Es war so einfach für sie, geschmeidig durch den Wald zu huschen und die Klüfte oder Dickichte zu finden, die einen Leichnam verbergen mochten.

»Du bist immer darauf aus, dich davonzustehlen und die Dinge auf deine eigene, unnachahmliche Weise anzupacken, nicht wahr, Vereesa?«, hatte ihr erster Lehrer eines Tages, kurz nach ihrer Aufnahme in das besondere Ausbildungsprogramm für Waldläufer, bemerkt. Nur die Besten wurden für dazu berufen. »So voller Ungeduld hättest du wahrlich als Mensch geboren werden können. Mach nur so weiter und du wirst nicht lange unter Waldläufern weilen …« Doch entgegen aller Zweifel, die mehr als einer ihrer Ausbilder zum Ausdruck gebracht hatten, war es Vereesa gelungen, sich durchzusetzen und schließlich zu einer der Besten ihres erlauchten Kreises aufzusteigen. Sie konnte, was sie gelernt hatte, nicht einfach zunichte machen, indem sie jetzt leichtsinnig wurde.

So gab sie sich selbst das Versprechen, nach einigen Minuten der Erholung zu den anderen zurückzukehren. Die silberhaarige Waldläuferin kletterte auf einen der Bäume und atmete tief aus. So ein einfacher Auftrag, und dennoch war er nicht nur einmal, sondern bereits zum zweiten Mal fast gescheitert. Wenn sie Rhonin nicht wiederfand, musste sie sich etwas einfallen lassen, das sie ihren Herren erzählen konnte – ganz zu schweigen von den Kirin Tor von Dalaran. Sie selbst musste sich keine Fehler anlasten, aber …

Ein plötzlicher Windstoß warf Vereesa fast von dem Baum, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Die Elfe schaffte es im letzten Moment, sich doch noch festzuhalten. Aus der Ferne waren die erregten Rufe der Ritter zu hören und das wilde Klappern loser Gegenstände, die durcheinander gewirbelt wurden.

So schnell der Wind aufgekommen war, so unvermittelt erstarb er auch wieder. Vereesa schob sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht und eilte zurück zum Lager. Sie fürchtete, dass Duncan und die anderen von etwas Schrecklichem angegriffen worden seien, ähnlich dem Drachen zu Beginn dieses Tages. Zu ihrer Erleichterung hörte die Waldläuferin jedoch schon im Näherkommen, wie die Paladine die Aufräumarbeiten im Lager kommentierten, und als sie den Platz erreichte, sah Vereesa, dass, abgesehen von verstreut herumliegenden Schlafsäcken und anderen Dingen, niemand großartig zu Schaden gekommen zu sein schien.

Lord Senturus schritt auf sie zu, den Blick voller Sorge. »Geht es Euch gut, Mylady? Seid Ihr unverletzt?«

»Ja. Der Wind überraschte mich, das ist alles.«

»Er überraschte jeden.« Er rieb sich das bärtige Kinn und starrte in den dunkler werdenden Wald. »Ich würde sagen, kein normaler Wind wütet auf diese Art …« Er wandte sich an einen seiner Männer. »Roland, verdoppele die Wachen! Das mag noch nicht das Ende dieses besonderen Sturms sein.«

»Jawohl, Mylord!«, rief ein schlanker blasser Ritter zurück. »Christoff! Jakob! Bewegt …«

Seine Stimme brach mit solcher Abruptheit ab, dass beide – Duncan, der sich erneut der Elfe zugewandt hatte, und Vereesa selbst – aufblickten, um zu schauen, ob der Mann plötzlich von einem Pfeil oder Armbrustbolzen niedergestreckt worden war. Stattdessen fanden sie ihn auf ein dunkles Bündel starrend, das zwischen den Schlafsäcken lag, ein dunkles Bündel mit ausgestreckten Beinen, die Arme über der Brust gekreuzt, fast wie ein Toter.

Ein dunkles Bündel, das sich schließlich als Rhonin entpuppte.

Vereesa und die Ritter versammelten sich um ihn, einer der Männer mit einer Fackel in der Hand. Die Elfe kniete nieder, um den Körper zu untersuchen. Im unsteten Licht der Fackel sah Rhonin bleich und starr aus, und zunächst konnte sie nicht sagen, ob er noch atmete. Vereesa berührte seine Wange …

… und zum Erschrecken aller riss der Magier die Augen auf.

»Waldläuferin … wie schön … Euch wiederzusehen …« Und damit fielen ihm erneut die Augen zu. Er sank in einen tiefen Schlaf.

»Närrischer Zauberer!«, fluchte Duncan Senturus. »Erst verschwindet Ihr, nachdem gute Männer gestorben sind, und dann glaubt Ihr, einfach wieder in unserer Mitte erscheinen und Euch schlafen legen zu können!« Er fasste nach dem Arm des Zauberers, in der Absicht Rhonin wachzurütteln, stieß jedoch einen überraschten Schrei aus, als seine Finger das dunkle Hindernis berührten. Der Paladin starrte auf seine gepanzerte Hand, als wäre er gerade von etwas gebissen worden. Dann knurrte er: »Irgendeine Art teuflischen, unsichtbaren Feuers umgibt ihn! Selbst durch den Handschuh hindurch fühlte es sich an, als berührte ich glühende Kohlen!«

Trotz seiner Warnung wollte sich Vereesa hiervon selbst überzeugen. Tatsächlich verspürte sie ein gewisses Unwohlsein, als ihre Finger Rhonins Kleider berührten, aber nichts, was der Intensität entsprach, die Lord Senturus beschrieben hatte. Nichtsdestoweniger zog die Waldläuferin ihre Hand zurück und nickte bestätigend. Sie sah im Augenblick keinen Grund, den Hauptmann der Paladine auf den Unterschied hinzuweisen.

Hinter sich vernahm Vereesa das Geräusch von Stahl, der aus einer Scheide fuhr. Rasch blickte sie zu Duncan empor, der dem entsprechenden Ritter bereits mit einem Kopfschütteln Einhalt gebot. »Nein, Wexford, ein Ritter der Silbernen Hand wird niemanden abschlachten, der sich nicht wehren kann. Dieser Makel auf unserem Gelübde wäre zu groß. Ich denke, wir werden für diese Nacht Wachen aufstellen und sehen dann morgen, was mit unserem Zauber geschieht.« Lord Senturus' wettergegerbtes Gesicht nahm grimmige Züge an. »Und auf die eine oder andere Weise wird der Gerechtigkeit Genüge getan werden, sobald er aufwacht.«

»Ich werde bei ihm bleiben«, erklärte Vereesa. »Sonst wird niemand nötig sein.«

»Vergebt mir, Mylady, aber Eure Verbundenheit mit …«

Sie richtete sich auf und blickte dem Hauptmann der Paladine in die Augen. »Ihr stellt das Wort eines Waldläufers in Frage, Lord Senturus? Ihr stellt mein Wort in Frage? Glaubt Ihr ich würde ihm helfen, sich erneut aus dem Staub zu machen?«

»Natürlich nicht!« Duncan zuckte mit den Schultern.

»Schön, wenn es das ist, was Ihr wollt, so soll es sein. Ihr habt meine Erlaubnis. Doch die ganze Nacht ohne Schlaf zu verbringen …«

»Lasst das meine Sorge sein. Würdet Ihr weniger tun für jemanden in Eurer Obhut?«

Damit hatte Vereesa ihn. Lord Senturus schüttelte nur noch den Kopf, ehe er sich zu den anderen Kriegern begab und begann, ihnen Befehle zu erteilen. Kurze Zeit später waren die Waldläuferin und der Zauberer allein in der Mitte des Lagers. Rhonin lag, wie er gefallen war, auf zwei Schlafsäcken. Die Ritter waren sich nicht sicher gewesen, wie man ihn hätte von dort wegrücken können, ohne sich zu verbrennen.

Vereesa untersuchte den schlafenden Mann, so gut sie konnte, ohne ihn erneut zu berühren. Rhonins Umhang war an einigen Stellen zerrissen, und in seinem Gesicht zeigten sich winzige Kratzer und Abschürfungen, ansonsten schien er heil. Seine Miene wirkte jedoch erschöpft, als lägen große Anstrengungen hinter ihm.

Vielleicht lag es an der Dunkelheit, in der sie ihn betrachtete, jedenfalls fand Vereesa, dass der Mensch vor ihr auf einmal sehr viel verletzlicher wirkte als sonst, fast … liebenswert. Die Elfe musste auch zugeben, dass er durchaus gut aussehend war, wenngleich sie jeden weiteren Gedanken in dieser Richtung rasch von sich schob. Vereesa überlegte, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, dem bewusstlosen Magier seine Lage etwas angenehmer zu gestalten, doch der einzige Weg, dies zu tun, hätte den anderen verraten, dass sie ihn ohne Probleme berühren konnte. Dies wiederum hätte Lord Senturus wahrscheinlich ermutigt, sie aufzufordern, Rhonin in Fesseln zu legen – was ihrer Verbundenheit mit dem Magier eindeutig zuwider lief.

Vereesa ließ sich, ohne etwas zu unternehmen, neben dem schlaffen Körper nieder und suchte die Umgebung mit ihren scharfen Blicken nach einer möglichen Bedrohung ab. Noch immer fand sie Rhonins unvermitteltes Auftauchen äußerst seltsam und, obgleich er nichts über die Hintergründe preisgegeben hatte, war Duncan zweifellos derselben Meinung. Rhonin erweckte kaum den Anschein, als wäre er imstande, sich aus eigener Kraft in die Mitte ihres Lagers zu versetzen. Einerseits hätte dies erklärt, warum er nun in einem komagleichen Erschöpfungsschlaf lag, doch andererseits fühlte es sich einfach nicht stimmig an. Auf Vereesa wirkte er vielmehr wie ein Mann, der entführt worden und dann von seinem Entführer fallen gelassen worden war, nachdem dieser ihm angetan hatte, was auch immer seine Absicht gewesen war.

Die einzige Frage, die blieb, war: Wer konnte eine so unglaubliche Tat vollbringen … und warum?


Er erwachte im Bewusstsein, dass alle gegen ihn waren.

Nun gut, vielleicht nicht alle. Rhonin war sich nicht ganz sicher, wie sein Stand bei der elfischen Waldläuferin war – vorausgesetzt, er konnte sich überhaupt auf den Beinen halten …

Im Grunde musste ihr Schwur, ihn sicher nach Hasic zu bringen, sie dazu anhalten, ihn gegen die frommen Ritter zu verteidigen, aber man konnte nie wissen. Es hatte einen Elfen in seiner letzten Reisegemeinschaft gegeben, einen älteren Waldläufer, Vereesa nicht unähnlich. Dieser Waldläufer hatte den Zauberer jedoch ziemlich genau in der Art behandelt, wie Duncan Senturus es nun tat, wenngleich er sich weit weniger Zurückhaltung auferlegt hatte, als der ältere Paladin.

Rhonin atmete vorsichtig aus, um niemanden darauf aufmerksam zu machen, dass er das Bewusstsein zurückerlangt hatte. Es gab nur einen Weg, herauszufinden, in welcher Lage er sich befand, aber er benötigte noch einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. Zu den ersten Fragen, die man ihm stellen würde, gehörte mit Sicherheit, was er mit der Explosion zu tun hatte – und was ihm im Anschluss daran widerfahren war. Was Ersteres betraf, konnte sich der geschwächte Zauberer die Antwort selbst geben, das Letztere betreffend, war er jedoch so klug wie alle anderen.

Er konnte es nicht länger hinausschieben. Rhonin nahm einen weiteren Atemzug, dann streckte er sich, als erwache er gerade.

Neben ihm entstand eine schwache Bewegung.

Wie beiläufig öffnete der Magier die Augen und sah sich um. Zu seiner Erleichterung und – wie er sich eingestehen musste – Freude, füllte Vereesas Erscheinung sein gesamtes unmittelbares Blickfeld aus. Die Waldläuferin wirkte besorgt, beugte sich vor und schaute ihn aus leuchtend himmelblauen Augen an. Diese Augen passen sehr gut zu ihr, dachte er für einen Augenblick … dann ließ er den Gedanken wieder fallen, zumal das Geräusch klirrenden Metalls ihn ablenkte und darauf aufmerksam machte, dass nun auch die anderen sein Erwachen bemerkt hatten.

»Ist er wieder unter den Lebenden?«, grollte Lord Senturus' Stimme. »Wollen sehen, wie lange das so bleibt …«

Die schlanke Elfe kam sofort auf die Beine und stellte sich dem Paladin in den Weg. »Er hat gerade erst die Augen geöffnet! Gebt ihm Zeit, zu sich zu kommen und wenigstens etwas zu essen, bevor Ihr ihn befragt!«

»Ich werde ihm seine Grundrechte nicht verweigern, Mylady, aber er wird die Fragen während des Essens beantworten und nicht erst danach.«

Rhonin hatte sich gerade weit genug aufgerichtet und auf die Ellbogen gestützt, um Duncans drohendes Gesicht erkennen zu können. Ihm war klar, dass der Ritter der Silbernen Hand ihn für einen Verräter, vielleicht sogar Mörder halten musste. Der geschwächte Magier erinnerte sich an den unglücklichen Wachmann, der zu Tode gestürzt war, und es war möglich, dass es nicht bei diesem einen Opfer geblieben war. Zweifellos hatte irgendjemand Rhonins Anwesenheit auf der Mauer gemeldet und zusammen mit den Vorurteilen, die der heilige Orden ohnehin gegen ihn hegte, hatte dies genügt, die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Er wollte nicht gegen sie kämpfen. In seiner Verfassung würden ihm bestenfalls ein, zwei einfache Formeln über die Zunge kommen … Dennoch, wenn sie danach trachteten, ihn für das zu bestrafen, was bei dem Wachturm geschehen war, würde er sich verteidigen müssen.

»Ich werde antworten, so gut ich kann«, erwiderte der Rhonin, Vereesas Hilfe ablehnend, als er sich mühsam hochrappelte. »Aber, vollkommen richtig, nur mit etwas zu essen und zu trinken.«

Die normalerweise fad schmeckenden Vorräte der Ritter mundeten Rhonin in seinem Zustand gleich vom ersten Bissen an wie Delikatessen. Selbst das schale Wasser aus einer der Trinkflaschen schmeckte süßer als Wein. Rhonin erkannte plötzlich, dass sich sein Körper anfühlte, als habe er mindestens eine Woche gehungert. Er aß mit Genuss, mit Hingabe und wenig Rücksicht auf gute Manieren. Einige der Ritter beobachteten ihn belustigt, andere, vor allem Duncan, voller Abscheu.

Gerade als Hunger und Durst nachzulassen begannen, fing die Befragung an. Lord Senturus setzte sich mit Augen, in denen bereits das Urteil über den Zauberer feststand, vor ihn hin und grollte: »Die Zeit Eures Geständnisses ist gekommen, Rhonin Redhair! Ihr habt Euch den Bauch voll geschlagen, jetzt erleichtert Eure Seele von der Bürde der Sünde. Berichtet uns von Eurer Missetat oben auf dem Burgfried …«

Vereesa stand neben dem sich erholenden Magier, ihre Hand ruhte auf dem Griff ihres Schwertes. Ihre Rolle als seine Verteidigerin vor diesem improvisierten Gerichtshof war klar, und sie fühlte sich dazu nicht allein, wie Rhonin denken mochte, aufgrund ihres Eides verpflichtet. Nach ihrer beider Erfahrung mit dem Drachen vermochte sie ihn sicherlich besser einzuschätzen als diese Ritter-Trampel.

»Ich werde Euch erzählen, was ich weiß – was aber auch heißt, dass es nicht sonderlich viel ist, Mylord. Ich stand oben auf der Mauer beim Wachturm, aber ich trage keine Schuld an der Zerstörung. Ich hörte eine Explosion, die Mauer wankte und einer Eurer Soldaten hatte das Pech, über den Rand zu stürzen, ein Ereignis, für das ich mein ehrliches Beileid aussprechen möchte …«

Duncan hatte noch nicht seinen Helm aufgesetzt und fuhr sich nun mit der Hand durch das ergraute und licht gewordene Haar. Er sah aus, als ringe er in beachtlichem Kampfe um die Kontrolle über seine Gefühle. »In Eurer Geschichte klaffen bereits jetzt Risse, so tief wie der Abgrund Eures Herzens, Zauberer, und Ihr habt kaum erst begonnen zu reden! Es gibt Zeugen, welche trotz Eurer Bemühungen noch am Leben sind, und die Euch Magie wirken sahen, kurz bevor die Verwüstung einsetze. Eure Lügen fällen das Urteil über Euch!«

»Oh nein, Ihr verurteilt mich, so wie Ihr alle meiner Art für unsere bloße Existenz verurteilt«, gab Rhonin ruhig zurück. Er nahm einen weiteren Bissen des harten Brotes und fügte dann hinzu: »Ja, Mylord, ich wirkte einen Zauber, aber nur einen, der die Zwiesprache über weite Entfernungen ermöglicht. Ich wollte einen meiner Ältesten um Rat fragen, wie ich meine Mission, die von den höchsten Autoritäten der Allianz abgesegnet wurde, fortfahren soll … Die ehrenwerte Waldläuferin hier wird Euch dies sicher bestätigen.«

Als sich die Blicke des Ritters auf Vereesa richteten, sagte sie: »Seine Worte entsprechen der Wahrheit, Duncan. Ich sehe auch keinen Grund, weshalb er einen solchen Schaden hätte anrichten sollen …« Sie hob eine Hand, als der ältere Krieger zum Widerspruch ansetzte, zweifellos, um erneut darzulegen, dass sich alle Zauberer bereits in dem Augenblick, da sie ihre Künste aufnahmen, in verdammte Seelen verwandelten. »… und ich werde gegen jeden Mann im Zweikampf antreten, Euch eingeschlossen, wenn sich dies als notwendig erweisen sollte, um seine Rechte und seine Freiheit wiederherzustellen.« Lord Senturus wirkte verstimmt ob des Gedankens, der Elfe im Kampf begegnen zu müssen. Er blickte Rhonin an und nickte schließlich langsam. »Nun denn. Ihr habt eine standhafte Verteidigerin, Zauberer, und auf ihr Wort und Gewissen will ich annehmen, dass Ihr nicht verantwortlich seid für das, was geschah.« Doch kaum hatte er die Worte gesprochen, stieß der Paladin einen Finger in Richtung des Magiers. »Aber ich möchte mehr über Eure Eindrücke in jenem Moment des Anschlags hören und, falls Ihr es aus Euren Erinnerungen herauspressen könnt, wie es dazu kam, dass Ihr hier in unsere Mitte fallen konntet, wie ein Blatt von einem hohen Baum …«

Rhonin seufzte, sich dessen bewusst, dass er um diese Geschichte nicht herumkommen würde. »Wie Ihr wünscht. Ich versuche, Euch alles zu berichten, was ich weiß.« Es war nicht viel mehr, als das, was er schon preisgegeben hatte. Einmal mehr erzählte ihnen der erschöpfte Magier vom Erklimmen der Mauer, von seinem Entschluss, seinen Mentor um Rat zu befragen – und der plötzlichen Explosion, die das Gemäuer erschüttert hatte.

»Ihr seid Euch dessen sicher, was Ihr gehört zu haben meint?«, fragte ihn Duncan Senturus umgehend.

»Ja. Auch wenn ich es nicht über jeden Zweifel erhaben beweisen kann, hörte es sich an wie eine gezündete Sprengladung.«

Die Explosion bedeutete nicht, dass die Goblins dafür verantwortlich waren, andererseits hatten Jahre des Krieges solche Schlussfolgerungen selbst im Kopf des Zauberers verwurzelt. Niemand hatte Goblins in diesem Teil von Lordaeron gemeldet, doch Vereesa hatte einen Vorschlag. »Duncan, vielleicht brachte der Drache, der uns zuvor verfolgt hat, ein oder zwei Goblins mit sich. Sie sind klein, geschickt und sicherlich dazu imstande, sich für wenigstens ein, zwei Tage zu verstecken. Das würde manches erklären.«

»Das würde es in der Tat«, pflichtete er wiederstrebend bei. »Und wenn dem tatsächlich so ist, müssen wir doppelt wachsam sein. Goblins kennen keinen anderen Zeitvertreib, als Unruhestifterei und Zerstörung. Sie werden mit Sicherheit erneut zuschlagen.«

Rhonin fuhr mit seinem Bericht fort und erzählte, wie er als Nächstes in die zweifelhafte Sicherheit des Turmes geflohen war, nur um diesen um sich herum zusammenstürzen zu sehen. An dieser Stelle hielt er inne, überzeugt, dass Senturus seine nächsten Worte im besten Fall als fragwürdig bewerten würde.

»Und dann packte mich … irgendetwas … Mylord. Ich weiß nicht, was es war, aber es hob mich auf, als sei ich ein Spielzeug, und trug mich fort von der Vernichtung. Unglücklicherweise ließ mir der eiserne Griff kaum Luft zum Atmen, und als ich erneut meine Augen aufschlug …«, der Zauberer blickte zu Vereesa, »… sah ich ihr Gesicht über mir.« Duncan wartete auf mehr, aber als sich abzeichnete, dass dieses Warten vergeblich war, schlug er mit einer Hand auf sein gepanzertes Knie und brüllte: »Und das ist alles? Das soll alles sein, was Ihr wisst?«

»Das ist alles.«

»Bei dem Geiste von Alonsus Faol!«, schnappte der Paladin, den Namen des Erzbischofs bemühend, dessen Vermächtnis durch seinen Schüler Uther Lightbringer zur Gründung des heiligen Ordens geführt hatte. »Ihr habt uns nichts erzählt, absolut nichts von Wert! Wenn ich nur für einen Moment gedacht habe …« Eine leichte Bewegung Vereesas ließ ihn einhalten. »Aber ich habe mein Wort gegeben und das von anderen angenommen. Ich werde mich meiner vorherigen Entscheidung beugen.« Er erhob sich, eindeutig nicht länger an der Gesellschaft des Zauberers interessiert. »Ich werde eine weitere Entscheidung hier und jetzt treffen. Wir befinden uns bereits auf dem Weg nach Hasic. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir nicht so schnell wie möglich dorthin reiten und Euch auf Euer Schiff befördern sollten. Mögen sie sich dort mit Eurer Situation arrangieren, wie es ihnen beliebt. Wir brechen in einer Stunde auf. Seid bereit, Zauberer!«

Damit wandte sich Lord Duncan Senturus ab und marschierte von dannen. Seine treu ergebenen Ritter folgten ihm auf den Fuß. Rhonin blieb allein zurück – abgesehen von der Waldläuferin, die sich vor ihm niederließ. Ruhig schaute sie ihn an. »Fühlt Ihr Euch stark genug, um zu reiten?«

»Abgesehen von der Erschöpfung und ein paar Kratzern, scheine ich noch ganz zu sein, Elfe.« Rhonin erkannte, dass die Worte schärfer geklungen hatten als beabsichtigt. »Es tut mir Leid. Ja, ich denke, ich werde reiten können – und was immer nötig ist, um rechtzeitig zum Hafen zu gelangen.«

Sie erhob sich wieder. »Ich werde die Tiere vorbereiten. Duncan hat ein zusätzliches Pferd mitgebracht, für den Fall, dass wir Euch finden. Ich sorge dafür, dass es bereit steht, wenn Ihr soweit seid.«

Als sich die Waldläuferin abwandte, verspürte der müde Zauberer eine ungewöhnliche Gefühlsaufwallung. »Danke, Vereesa Windrunner.«

Vereesa blickte über die Schulter. »Mich um die Pferde zu kümmern, ist Teil meiner Pflichten als Eure Führerin.«

»Ich meinte Euren Beistand während all dem hier, das leicht in eine Inquisition hätte umschlagen können.«

»Dies war ebenso Teil meiner Pflichten. Ich leistete gegenüber meinen Herren den Schwur, Euch lebend an Euer Ziel zu bringen.« Entgegen ihren strengen Worten zuckten ihre Mundwinkel flüchtig in Andeutung eines Lächelns. »Macht Euch besser fertig, Meister Rhonin. Das wird kein Spaziergang. Wir haben viel Zeit aufzuholen.«

Dann überließ sie ihn sich selbst. Rhonin starrte in das erlöschende Lagerfeuer und dachte an all die Dinge, die geschehen waren. Vereesa konnte nicht wissen, wie nah sie der Wahrheit mit ihrer Bemerkung gekommen war. Die Reise nach Hasic würde kein einfacher Ritt werden, und das nicht nur aus Zeitgründen.

Er war nicht völlig ehrlich zu ihnen gewesen, nicht einmal zu der Elfe. Rhonin hatte zwar nichts in seiner Geschichte ausgelassen, jedoch seine eigenen Schlussfolgerungen dazu verschwiegen. Hinsichtlich der Paladine empfand er keine Reue, aber Vereesas Hingabe, mit der sie ihre Aufgabe erfüllte und für seine Sicherheit Sorge trug, weckte in ihm das schlechte Gewissen.

Rhonin wusste nicht, wer die Sprengladung gelegt hatte. Vermutlich Goblins. Eigentlich war es ihm auch gleichgültig. Was ihm nicht gleichgültig war, hatte er unterlassen zu erwähnen. Denn als er davon erzählte, wie er in dem einstürzenden Turm von etwas gepackt worden war, hatte er verschwiegen, dass es sich wie eine riesige Hand angefühlt hatte. Nun, sie hätten ihm vermutlich ohnehin keinen Glauben geschenkt, oder, was Senturus anging, dies gar als Beweis für seinen Umgang mit Dämonen gewertet.

Eine riesige Hand hatte Rhonin gerettet, aber es war mit Sicherheit keine menschliche gewesen. Selbst der kurze Moment ihrer Wahrnehmung hatte ausgereicht, um die schuppige Haut und die übermannsgroßen, tückisch gebogenen Klauen zu erkennen.

Ein Drache hatte den Zauberer vor dem sicheren Tod bewahrt … und Rhonin hatte nicht die geringste Ahnung, warum.

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