Richard A. Knaak Der Tag des Drachen

1

Krieg.

Für einige Mitglieder der Kirin Tor, des Magischen Zirkels, der über die kleine Nation Dalaran herrschte, hatte es einmal so ausgesehen, als hätte die Welt von Azeroth nie etwas anderes gekannt als immerwährendes Blutvergießen. Da waren vor dem Bündnisschluss von Lordaeron die Trolle gewesen; und als die Menschheit endlich mit diesem üblen Gezücht aufgeräumt hatte, war die erste Welle von Orks, die aus einem schrecklichen Riss im Gefüge des Universums drangen, über die Ländereien hinweg gebrandet.

Anfangs hatte es so ausgesehen, als könnte sich diesen grotesken Eindringlingen nichts und niemand entgegenstellen. Nach und nach jedoch hatte sich das, was als grausame Schlächterei begann, in eine für beide Seiten opferreiche Patt-Situation verwandelt. Die Schlachten wurden durch die Zermürbung des Gegners entschieden. Auf beiden Seiten waren Hunderte gefallen – grundlos, wie es schien. Jahrelang hatten die Kirin Tor kein Ende von alledem abzusehen vermocht.

Doch dann, endlich, hatte sich dies geändert. Das Bündnis hatte letztendlich die Horden zurückdrängen können und sie schließlich vollständig aufgerieben. Sogar der große Häuptling der Orks, Orgrim Doomhammer, hatte sich nicht mehr gegen die anrückenden Armeen zu stemmen vermocht und kapituliert. Mit Ausnahme einiger Rebellen-Clans waren die überlebenden Eindringlinge in Lager gesperrt worden und fristeten dort seither unter hohen Sicherheitsvorkehrungen ihr Dasein. Bewacht wurden sie von den legendären Rittern der Silbernen Hand. Und zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren sah es so aus, als könnte der Friede dauerhaft einkehren.

Nichtsdestotrotz lastete auf dem Ältestenrat der Kirin Tor ein Gefühl tiefen Unbehagens. Aus diesem Grunde trafen sich die Höchsten der Hohen in der »Halle der Luft«, so benannt, weil sie ein Raum ohne Wände zu sein schien, ein endloser, wechselhafter Himmel voll von Wolken, Licht und Dunkelheit. Er raste an den Meistern der Magie vorbei, als ob die Zeit der Welt hier schneller liefe. Einzig der graue Steinboden mit seinem leuchtenden Diamant-Symbol, das die vier Elemente symbolisierte, verlieh der Szene die Illusion von Halt.

Die Magier selbst trugen wenig dazu bei, den Bezug zur Realität zu stärken. In ihren dunklen Umhängen, die nicht nur die Gesichter, sondern auch ihre Gestalt verbargen, schienen sie mit den Bewegungen des Himmels zu verschmelzen, fast als wären auch sie nur Teil dieses Trugbildes. Dass es sich dabei sowohl um Männer, als auch um Frauen handelte, wurde nur ersichtlich, wenn einer von ihnen sprach. Dann wurde das Gesicht zwar teilweise sichtbar, blieb aber schemenhaft.

Sechs von ihnen waren bei dieser Zusammenkunft anwesend. Dass sie die höchsten Ränge bekleideten, hieß jedoch nicht zwangsläufig, dass sie auch die Begabtesten ihrer Zunft waren. Die Führer der Kirin Tor wurden nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt, und Magie war nur eines davon.

»Es geschieht etwas in Khaz Modan«, verkündete der Erste mit würdevoller Stimme, und für kurze Zeit wurde ansatzweise ein bärtiges Gesicht erkennbar. Ein Muster aus Sternen umschmeichelte seinen Körper. »Bei oder in den Höhlen, die vom Dragonmaw-Clan gehalten werden.«

»Erzähl uns lieber etwas, das wir noch nicht wissen«, krächzte eine Frau, die trotz ihres spürbar hohen Alters noch immer einen starken Willen besaß. Das Licht eines Mondes glomm durch ihren Schal. »Bei den dortigen Orks handelt es sich um ein paar wenige Unbelehrbare, die noch Widerstand leisten, obwohl sich Doomhammers Krieger längst ergeben haben und ihr Häuptling verschwunden ist.«

Der erste Magier war sichtlich irritiert, wahrte jedoch seine Besonnenheit. »Nun gut«, sagte er ruhig, »vielleicht wird Euch dies mehr interessieren: Ich glaube, dass Deathwing wieder sein Unwesen treibt.«

Seine Worte versetzten die anderen in Nervosität, die Frau eingeschlossen. Die Nacht wurde plötzlich zum Tag, aber die Zauberer ignorierten es, war es für sie in dieser Halle doch etwas völlig Normales. Wolken trieben am Kopf des dritten Ordens-Angehörigen vorbei. Er war der Einzige, dessen Figur deutlich zur Korpulenz neigte, und es war unschwer zu erkennen, dass er der gerade gehörten Behauptung keinerlei Glauben schenkte.

»Deathwing ist tot!«, erklärte er. »Er ist vor Monaten ins Meer gestürzt, nachdem unser Rat und eine Anzahl unserer besten Männer ihm den tödlichen Hieb versetzen konnten! Kein Drache, auch er nicht, könnte das überleben!«

Einige nickten beifällig, nur der Erste fuhr ungerührt fort: »Und wo war der Kadaver? Deathwing war wie kein anderer Drache. Sogar bevor die Goblins die Platten aus Adamant an seine schuppige Haut schweißten, war er eine weit größere Bedrohung als die Horde selbst …«

»Aber welche Beweise habt Ihr, dass er noch lebt?« Dies kam von einer jungen Frau, die eindeutig in der Blüte ihrer Jugend stand. Sie mochte nicht so erfahren sein wie die anderen, an ihrer Macht indes gab es keinen Zweifel, sonst wäre sie nicht Mitglied des Rates geworden. »Welche?«

»Der Tod zweier roter Drachen aus Alexstraszas Brut. Zerfetzt in einer Weise, wie es nur einer von ihrer eigenen Art vermag – einer von gigantischer Größe.«

»Es gibt andere große Drachen.«

Ein Sturm begann zu wüten, Blitze und Regen prasselten auf die Magier herab, aber weder sie selbst noch der Boden, auf dem sie standen, wurden nass. Der Sturm war schon einen Augenblick später vorbei, und eine strahlende Sonne erschien über ihnen.

Der Erste der Kirin Tor zeigte an diesem Spektakel kein Interesse. »Offenbar wart Ihr noch nie Zeugen von Deathwings Wüten, sonst würdet Ihr so nicht reden.«

»Vielleicht ist es, wie Ihr sagt,« warf der Fünfte ein. Kurz wurde der Umriss eines Elfengesichtes sichtbar – und verschwand rascher wieder als der Sturm. »Und falls ja, ist es eine bedrohliche Angelegenheit. Aber wir können uns jetzt kaum damit befassen. Falls Deathwing lebt und nun die Brut seiner größten Rivalin angreift, gereicht uns dies nur zum Vorteil. Immerhin ist Alexstrasza immer noch Gefangene des Dragonmaw-Clans, und es sind ihre Abkömmlinge, die die Orks seit Jahren benutzten, um Tod und Chaos über das Bündnis zu bringen. Haben wir alle wirklich schon die Tragödie von Kul Tiras vergessen? Lordadmiral Daelin Proudmoore ganz sicher nicht. Immerhin hat er seinen ältesten Sohn verloren und alle, die auf den sechs Schiffen waren, als die monströsen roten Leviathane über sie herfielen. Proudmoore würde Deathwing vermutlich einen Orden verleihen, wäre das schwarze Biest wahrhaftig für die beiden Tode verantwortlich.«

Niemand widersprach diesem Argument, nicht einmal der Erste der Magier. Von den sechs einstmals mächtigen Schiffen waren nur ein paar Holztrümmer und zerfetzte Leichen übrig geblieben. Sie hatten von der totalen Vernichtung gezeugt. Es sprach für die Größe Lordadmiral Proudmoores, dass seine Entschlossenheit nicht wankte und er sofort angeordnet hatte, neue Kriegsschiffe zu bauen, um die zerstörten zu ersetzen und den Krieg fortzuführen.

»Und wir können uns, wie gesagt, kaum mit dieser Situation befassen, nicht jetzt, da wir so viel dringlichere Probleme zu lösen haben.«

»Meint Ihr die Alterac-Krise?«, grollte der bärtige Zauberer. »Warum sollte der dauernde Streit zwischen Lordaeron und Stromgarde uns mehr beunruhigen, als Deathwings mögliche Rückkehr?«

»Weil jetzt Gilneas sein Gewicht in die Waagschale wirft.«

Wieder rührten sich die anderen Magier, sogar der sechste, der bislang geschwiegen hatte. Der korpulente Schatten machte einen Schritt auf die Elfengestalt zu. »Von welchem Interesse sollte der Zwist zweier fremder Königreiche für Genn Greymane sein? Gilneas liegt an der Spitze der südlichen Halbinsel, so weit weg innerhalb des Bündnisses, wie jedes andere Königreich von Alterac!«

»Da fragt Ihr noch? Greymane hat immer schon die Führung des Bündnisses angestrebt, auch wenn er seine Armeen zurückhielt, bis die Orks endlich auch seine Grenzen angriffen. Er hat König Terenas von Lordaeron nur deshalb zum Handeln ermutigt, weil dadurch Lordaerons militärische Macht geschwächt wurde. Jetzt hält Terenas hauptsächlich durch unsere Arbeit und Lordadmiral Proudmoores offene Unterstützung an der Führung des Bündnisses fest.«

Alterac und Stromgarde waren benachbarte Königreiche, die schon seit den ersten Tagen des Krieges in Zwietracht lagen. Thoras Trollbane hatte die ganze Macht von Stromgarde hinter das Bündnis von Lordaeron gestellt. Mit Khaz Modan als Nachbar war es für das gebirgige Königreich nur vernünftig, eine gemeinsame Aktion zu unterstützen. Auch konnte sich niemand über die Entschlossenheit von Trollbanes Kriegern beschweren. Ohne sie hätten die Orks in den ersten Wochen des Krieges große Bereiche des Bündnisses überrannt, was sicherlich zu einem anderen Ausgang der Ereignisse geführt hätte. Alterac, auf der anderen Seite, hatte zwar viel vom Mut und der Gerechtigkeit der Sache geredet, aber dazu um so weniger mit seinen eigenen Truppen beigetragen. Wie Gilneas hatte Alterac nur zögernd Unterstützung geleistet, aber während Genn Greymane sich aus Ehrgeiz zurückgehalten hatte, kursierten Gerüchte, dass Lord Perenoldes Beweggrund dafür einzig Angst gewesen sei. Sogar unter den Kirin Tor war sehr früh die Frage laut geworden, ob Perenolde nicht vielleicht sogar ein Abkommen mit Doomhammer erwogen hätte, wäre das Bündnis unter den unerbittlichen Angriffen zerbrochen.

Diese Befürchtung hatte sich glücklicherweise nicht bestätigt. Zwar hatte Perenolde das Bündnis tatsächlich verraten, doch die Folgen seiner schäbigen Tat waren nicht von langer Dauer gewesen.

Als Terenas davon erfuhr, hatte er auf dem schnellsten Weg Truppen nach Alterac entsandt und den Ausnahmezustand verkündet. Durch den sich ausbreitenden Krieg hatte sich niemand in der Lage gesehen zu protestieren, nicht einmal Stromgarde. Nun, da der Frieden erreicht war, verlangte Thoras Trollbane, dass Stromgarde als gerechten Anteil für die von ihm erbrachten Opfer den gesamten östlichen Teil des verräterischen Nachbarlandes erhielt.

Terenas sah das anders. Er debattierte immer noch über die Vorzüge, die ein Anschluss Alteracs an sein eigenes Königreich brächten, und die Möglichkeit, einen neuen und einsichtigeren Regenten auf den Thron zu setzen – vermutlich in Hinblick auf die ureigenen Interessen Lordaerons.

Trotz allem war Stromgarde in diesem Kampf ein loyaler und standfester Verbündeter gewesen, und alle wussten von der Bewunderung, die Thoras Trollbane und Terenas einander entgegen brachten. Das machte die politische Situation, die sich zwischen beide gestellt hatte, nur umso trauriger.

Gilneas unterdessen hatte keine solche Beziehung zu all diesen beteiligten Ländern; es hatte sich von den anderen Nationen der westlichen Welt stets abgegrenzt. Sowohl die Kirin Tor als auch König Terenas wussten, dass Genn Greymane sich nicht nur einmischte, um sein eigenes Prestige zu erhöhen, sondern auch, um seine Expansionspläne zu verfolgen. Einer von Lord Perenoldes Neffen war nach dem Verrat in das Land geflüchtet, und das Gerücht, dass Greymane seinen Anspruch auf die Thronfolge unterstützte, hielt sich hartnäckig. Eine Basis in Alterac würde Gilneas Zugang zu Rohstoffen gewähren, über die das südliche Königreich selbst nicht verfügte, und einen Grund bieten, seine mächtigen Schiffe über das Große Meer zu schicken. Dies wiederum würde Kul Tiras in seine Rechnung mit einbeziehen, denn die Seefahrer-Nation war sehr darauf bedacht, ihre maritime Überlegenheit zu bewahren.

»Dies wird das Bündnis auseinander reißen …«, murmelte die junge Zauberin mit hörbarem Akzent.

»Dazu ist es noch nicht gekommen«, bemerkte der Elfenzauberer, »aber vielleicht wird es dies bald. Und deshalb haben wir keine Zeit, uns mit Drachen zu befassen. Wenn Deathwing lebt und sich entschieden hat, seinen Kampf gegen Alexstrasza wiederaufzunehmen, werde ich für mein Teil ihn nicht daran hindern. Je weniger Drachen es auf dieser Welt gibt, desto besser. Ihre Tage sind ohnehin gezählt.«

»Ich habe gehört«, sagte eine Stimme mit keinerlei geschlechtsspezifischem Merkmal, »dass Elfen und Drachen früher einmal Verbündete waren, wenn nicht sogar gute Freunde.«

Der Elf drehte sich zu dem letzten der Weisen um, einer schlaksigen Gestalt, nicht viel mehr als ein Schatten. »Und ich kann euch sagen, dass das nur Gerede ist. Wir geben uns mit diesen Monstren nicht ab.«

Wolken und Sonne verschwanden und hinterließen Mond und Sterne. Der sechste Magier verbeugte sich leicht, wie zur Entschuldigung. »Dann habe ich mich wohl verhört. Mein Fehler.«

»Ihr habt Recht, diese politische Situation muss entschärft werden«, grollte der bärtige Zauberer, an den Fünften gewandt. »Und ich stimme zu, dass es eine Sache von höchster Priorität ist. Dennoch können wir nicht ignorieren, was bei Khaz Modan geschieht! Ob ich mit meiner Vermutung über Deathwing Recht habe oder nicht – so lange die Orks dort die Drachenkönigin gefangen halten, sind sie eine Bedrohung für die Stabilität des Landes!«

»Dann brauchen wir einen Beobachter«, warf die ältliche Frau ein. »Jemanden, der die Dinge im Auge behält und uns nur informiert, falls die Situation kritisch wird.«

»Und wer sollte das sein? Wir können zur Zeit niemanden entbehren!«

»Es gäbe einen.« Der sechste Magier glitt einen Schritt vorwärts. Sein Gesicht blieb selbst dann noch im Schatten, als er sprach. »Da wäre Rhonin …«

»Rhonin??«, brach es aus dem bärtigen Zauberer heraus. »Rhonin! Nach dem letzten Debakel? Er darf nicht einmal mehr die Robe der Zauberer tragen. Er wäre eher eine zusätzliche Gefahr als jemand, in den wir Hoffnung setzen könnten.«

»Er ist unberechenbar«, stimmte die ältere Frau zu.

»Ein Sonderling«, murmelte der Korpulente.

»Kriminell!«

Der Sechste wartete, bis alle anderen gesprochen hatten, dann nickte er langsam. »Und er ist der einzige Zauberer mit Talent, auf den wir hier verzichten könnten. Außerdem ist es nur ein Beobachtungsposten. Er wird nicht einmal in die Nähe einer möglichen Bedrohung kommen. Seine Aufgabe wird es sein, die Lage zu studieren und darüber Bericht zu erstatten, das ist alles.« Als sich keine Proteste mehr erhoben, fügte der dunkle Magier hinzu: »Ich bin sicher, dass er seine Lektion gelernt hat.«

»Lasst es uns hoffen,« murmelte die ältere der beiden Frauen. »Er hat zwar seinen letzten Auftrag erfüllt, aber es kostete die meisten seiner Gefährten das Leben.«

»Diesmal wird er fast auf sich allein gestellt sein, begleitet nur noch von einem Führer, der ihn an die Grenze der vom Bündnis kontrollierten Länder bringt. Er wird Khaz Modan nicht einmal betreten. Eine Seher-Kugel wird es ihm erlauben, aus der Entfernung zu spähen.«

»Das klingt einfach genug«, antwortete die jüngere der Frauen. »Sogar für Rhonin.«

Der Elf nickte brüsk. »Dann lasst es uns beschließen und diese Sache beiseite legen. Vielleicht haben wir Glück und Deathwing frisst Rhonin und erstickt daran – dann wären zwei Probleme auf einmal gelöst.« Er sah die anderen an und fügte hinzu: »Doch nun muss ich darauf bestehen, dass wir uns endlich Gilneas' Einmischung in die Alterac-Angelegenheit widmen – und der Rolle, die wir bei der Entschärfung dieser Situation einzunehmen gedenken …« Er stand da, wie er schon seit zwei Stunden ausharrte, mit hängendem Kopf, die Augen geschlossen, in Konzentration versunken.

Um ihn herum verbreitete nur ein schwaches Licht ohne erkennbare Quelle seinen Schimmer in der Kammer. Viel zu sehen gab es jedoch nicht. Ein Stuhl, den er nicht benutzte, stand an der Seite, und hinter ihm an der dicken Steinmauer hing ein Wandteppich, auf den ein kunstvoll verziertes, goldenes Auge auf violettem Grund gestickt war. Unterhalb des Auges zeigten drei ebenfalls goldene Dolche bodenwärts. Die Flagge und die Symbole Dalarans hatten während des Krieges stolz über das Bündnis gewacht, auch wenn nicht jedes Mitglied der Kirin Tor seine Aufgaben ehrenvoll erfüllt hatte.

»Rhonin …«, erklang eine geschlechtslose Stimme von überall her und nirgends zugleich in der Kammer.

Unter dichtem feurigem Haar blickte er mit Augen von leuchtendem Grün hoch in die Dunkelheit. Seine Nase war einmal von einem Mitlehrling gebrochen worden, doch trotz seines Könnens hatte Rhonin nie etwas unternommen, sie zu richten. Er sah auch so recht gut aus, mit starkem, geradem Kiefer und eckigen Zügen. Eine ständig hochgezogene Augenbraue verlieh ihm einen spöttelnden, zweifelnden Blick, der ihn schon mehr als einmal bei seinen Meistern in Schwierigkeiten gebracht hatte, und seine Einstellung, die seiner Mimik entsprach, war auch nicht dazu angetan, sein Ansehen zu heben.

Groß, schlank und in eine elegante, mitternachtsblaue Robe gekleidet, bot Rhonin einen beeindruckender Anblick, selbst für andere Zauberer. Er gab sich unbeeindruckt, obwohl seine letzte Mission fünf gute Männer das Leben gekostet hatte. Aufrecht stand er da und blickte in die Schatten, um zu sehen, aus welcher Richtung der Zauberer zu ihm sprechen würde.

»Ihr habt gerufen. Ich habe gewartet«, flüsterte Rhonin nicht ohne Ungeduld.

»Es ging nicht anders. Ich musste selbst warten, bis ein anderer die Sache vorbrachte.« Eine hohe, von Umhang und Kapuze verhüllte Gestalt trat halb aus dem Dunkel heraus – das sechste Mitglied des Inneren Rates der Kirin Tor. »Und so ist es geschehen.«

Zum ersten Mal zeigte sich etwas Lebhaftigkeit in Rhonins Augen. »Und meine Strafe? Bin ich rehabilitiert?«

»Ja. Die Rückkehr in unsere Reihen ist dir gewährt … unter der Voraussetzung, dass du zustimmst, unverzüglich einen Auftrag von immenser Wichtigkeit zu übernehmen.«

»Sie setzen noch so viel Vertrauen in mich?« Die Bitterkeit kehrte in die Stimme des jungen Magiers zurück. »Obwohl die anderen alle tot sind?«

»Du bist der Einzige, den sie noch haben.«

»Das klingt schon realistischer. Ich hätte es wissen müssen.«

»Nimm dies.« Der schattenhafte Zauberer hielt eine dürre, behandschuhte Hand mit der Innenfläche nach oben hoch. Über der Hand materialisierten plötzlich zwei glitzernde Objekte – eine winzige Kugel aus Smaragd und ein goldener Ring mit einem einzelnen schwarzen Juwel.

Rhonin hielt seine Hand in der gleichen Weise … und die beiden Dinge erschienen darüber. Er ergriff und betrachtete sie. »Ich erkenne die Seher-Kugel, aber nicht das andere. Es fühlt sich machtvoll an, jedoch nicht in aggressiver Weise …«

»Du bist scharfsinnig, deshalb habe ich mich überhaupt für dich eingesetzt, Rhonin. Du kennst den Zweck der Kugel, und der Ring wird dich beschützen. Du gehst in ein Reich, in dem es immer noch Ork-Kriegsführer gibt. Dieser Ring wird dich vor ihren eigenen Erkennungsgeräten abschirmen. Bedauerlicherweise wird es uns jedoch ebenso schwer fallen, dich zu überwachen.«

»Dann bin ich also ganz auf mich allein gestellt.« Rhonin warf seinem Gast ein spöttisches Lächeln zu. »Wenigstens kann ich dann auch nicht so viele Leute umbringen …«

»Ganz allein bist du nicht, jedenfalls nicht auf der Reise zum Hafen. Ein Führer wird dich begleiten.«

Rhonin nickte, obwohl er augenscheinlich nicht viel für Begleitung übrig hatte, schon gar nicht in Person eines Führers. Rhonin kam nicht besonders gut mit Elfen klar. »Ihr habt mir noch nichts über meine Mission erzählt.«

Der schattenhafte Magier lehnte sich zurück, als ob er auf einem Stuhl saß, den der Jüngere nicht sehen konnte.

Behandschuhte Hände falteten sich, während die Gestalt sich die richtigen Worte zurechtzulegen schien.

»Sie haben es dir nicht leicht gemacht, Rhonin. Einige im Rat fordern sogar, dich für immer aus unseren Reihen zu verbannen. Du musst dir deinen Weg zurück verdienen, und um das zu tun, wirst du deinen Auftrag bis aufs i-Tüpfelchen erfüllen müssen.«

»So wie Ihr darüber sprecht, hört es sich nicht nach einer leichten Aufgabe an.«

»Es geht um Drachen … und um etwas, das nach Meinung des Rates nur jemand mit deinen Fähigkeiten zustande bringen kann.«

»Drachen …« Rhonin hatte bei der ersten Erwähnung der Leviathane große Augen bekommen, und obwohl er normalerweise zur Arroganz neigte, war ihm bewusst, dass er sich momentan eher wie ein unerfahrener Zauberschüler anhörte.

Drachen … Die bloße Erwähnung erfüllte die meisten Zauberlehrlinge bereits mit Ehrfurcht.

»Ja, Drachen.« Sein Gast beugte sich vor. »Damit eins ganz klar ist, Rhonin: Niemand außer dem Rat und dir darf von deiner Mission wissen. Nicht einmal der Führer oder der Kapitän des Schiffes, das dich an die Küste von Khaz Modan bringt. Wenn jemand herausfindet, was wir uns von dir erhoffen, könnte es alle Pläne gefährden.«

»Aber was ist es?« Rhonins grüne Augen strahlten hell. Dies war eine gefährliche Mission, aber die Belohnung, die ihm winkte, schien es wert zu sein: Rückkehr in die Rats-Ränge und natürlich sein wieder hergestelltes Ansehen. Nichts motivierte einen Magier der Kirin Tor mehr als ein gutes Prestige, auch wenn niemand im Höchstenrat dies zugegeben hätte.

»Du wirst nach Khaz Modan gehen«, verriet sein Gast endlich, worauf er die ganze Zeit wartete, »und wenn du erst einmal dort bist, wirst du alles Nötige veranlassen, um die Drachenkönigin Alexstrasza aus der Gefangenschaft der Orks zu befreien …«

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