6

Mit dem Stiefel schob Richard kleine Erdhaufen über die erlöschende Glut des Feuers und erstickte so das einzig Warme an diesem kalt dämmernden neuen Tag. Der Himmel erstrahlte zu eisigem Blau, von Westen her ging ein beißender Wind. Nun, wenigstens hatten sie den Wind im Rücken. Neben seinem Stiefel lag der Stock, auf dem Kahlan das Kaninchen gegrillt hatte, das Kaninchen, das sie selbst gefangen hatte, mit einer Schlinge, die zu binden er ihr beigebracht hatte. Er wurde rot beim Gedanken, daß er, ein Waldführer, ihr solche Sachen gezeigt hatte. Der Mutter Konfessor, die bedeutender war als eine Königin. Königinnen verneigen ihr Haupt vor der Mutter Konfessor, hatte sie gesagt. Er kam sich so dumm vor wie noch nie zuvor in seinem Leben. Mutter Konfessor. Für wen hielt er sich eigentlich? Zedd hatte versucht, ihn zu warnen. Hätte er doch nur auf ihn gehört.

Der Leere drohte ihn zu verschlingen. Er dachte an seinen Bruder, an seine Freunde Zedd und Chase. Sie konnten die Leere zwar nicht füllen, aber sie waren wenigstens für ihn da. Richard sah, wie Kahlan ihr Bündel schulterte. Sie hatte niemanden. Ihre einzigen Freunde, die anderen Konfessoren, waren tot. Sie stand allein in der Welt, allein in den Midlands, umgeben von Menschen, die sie fürchteten und haßten und die sie trotzdem vor einer großen Gefahr zu retten versuchte. Und nicht einmal ihr Zauberer war da, der sie hätte beschützen können. Jetzt wußte er, warum sie Angst hatte, ihm alles zu erzählen. Er war ihr einziger Freund. Er kam sich noch dümmer vor, weil er nur an sich gedacht hatte. Wenn er nicht mehr sein konnte als ihr Freund, nun, dann wollte er eben genau das für sie sein. Auch wenn es ihn das Leben kostete.

»Es muß dir schwergefallen sein, mir das zu erzählen«, sagte er, während er das Schwert an seiner Hüfte zurechtzurrte.

Sie zog den Umhang fester, um sich vor den kalten Böen zu schützen. Ihr Gesicht hatte wieder diesen ruhigen Ausdruck angenommen, der nichts verriet, bis auf jene Andeutung von Schmerz, die er jetzt bemerkte, da er sie etwas besser kannte. »Es wäre einfacher gewesen, mich umzubringen.«

Er sah ihr einen Augenblick lang nach, als sie kehrtmachte und losging, dann folgte er ihr. Er fragte sich, ob er noch bei ihr wäre, wenn sie ihm das alles gleich am Anfang verraten hätte. Würde er sich in ihrer Nähe fürchten wie jeder andere auch? Vielleicht hatte sie mit Recht Angst gehabt, es ihm früher zu erzählen. Andererseits hätte sie ihm damit seine jetzigen Gefühle erspart.

Gegen Mittag erreichten sie eine Wegkreuzung, die mit einem Stein, anderthalbmal so hoch wie Richard, markiert war. Richard blieb stehen und betrachtete die in die glatte Oberfläche geschnittenen Symbole.

»Was bedeutet das?«

»Sie geben den Weg in verschiedene Orte und Dörfer an, und dazu die Entfernungen«, sagte sie und wärmte sich die Hände unter den Achseln. Sie deutete mit dem Kopf auf einen der Wege. »Das ist der beste Weg, wenn wir niemandem begegnen wollen.«

»Wie weit ist es noch?«

Sie sah auf den Stein. »Normalerweise benutze ich die Straßen und nicht diese wenig begangenen Wege. Die Entfernung auf den Wegen ist auf dem Stein nicht angegeben, nur die auf den Straßen. Aber ich würde sagen, noch ein paar Tage.«

Richard trommelte mit den Fingern auf das Heft des Schwertes. »Gibt es hier Orte in der Nähe?«

Sie nickte. »In ein oder zwei Stunden sind wir in Horners Mill. Warum?«

»Wir könnten Zeit sparen, wenn wir Pferde hätten.«

Sie blickte den Weg zum Ort hinauf, als könnte sie ihn bereits irgendwie sehen. »Horners Mill ist eine Holzfällersiedlung, es gibt dort ein Sägewerk. Sie haben eine Menge Pferde dort, trotzdem ist es vielleicht keine so gute Idee. Ich habe gehört, daß sie auf der Seite D’Haras stehen.«

»Warum sehen wir es uns nicht wenigstens an? Wir könnten einen ganzen Tag sparen, wenn wir Pferde hätten. Ich habe etwas Silber und ein oder zwei Goldstücke. Vielleicht können wir welche kaufen.«

»Wenn wir vorsichtig sind, können wir wohl einen Blick riskieren. Aber komm nicht auf die Idee, dein Silber oder Gold zu zeigen. Es trägt den Stempel Westlands, und die Leute hier betrachten jeden von jenseits der Grenze als Bedrohung. Alte Geschichten und Aberglaube.«

»Und wie willst du die Pferde bekommen? Willst du sie etwa stehlen?«

Sie zog eine Braue hoch. »Hast du schon vergessen? Du reist mit der Mutter Konfessor. Ich brauche sie nur darum zu bitten.«

Richard versuchte, sein Unbehagen, so gut es ging, hinter einem leeren Gesichtsausdruck zu verbergen. »Sehen wir es uns also an.«

Horners Mill lag direkt am Ufer des Callisidrin, mit dessen Wasser man die Holzmühle betrieb und auf dem man auch die Stämme transportierte. Abflußkanäle zogen sich durch das Gelände, und die baufälligen Gebäude des Sägewerks überragten die anderen Bauten. Markierte Holzstapel lagen Reihe auf Reihe unter wandlosen Schutzdächern, weitere warteten unter Planen auf ihren Abtransport über den Fluß oder die Straße. Am Hang oberhalb des Sägewerkes drängten sich dicht an dicht die Häuser. Sie sahen aus, als hätten sie ihr Dasein als behelfsmäßige Unterkünfte begonnen, aus denen im trägen Lauf der Jahre bedauerlicherweise feste geworden waren.

Selbst aus der Ferne erkannten Richard und Kahlan, daß etwas nicht stimmte. Im Sägewerk rührte sich nichts, die Straßen waren verlassen. Der ganze Ort hätte vor Leben brodeln, die Läden, der Hafen, die Straßen hätten voller Menschen sein müssen. Doch nirgendwo gab es ein Zeichen von Leben. Bis auf ein paar Planen, die im Wind flatterten, und ein paar quietschende und klappernde Blechschilder an den Gebäuden des Sägewerks lastete statt dessen eine drückende Stille über dem Ort.

Als sie nahe genug waren, wehte der Wind noch etwas anderes herüber als das Geräusch flatternder Planen und klappernden Blechs: den fauligen Gestank des Todes. Richard sah nach, ob sein Schwert griffbereit in der Scheide steckte.

Aus schwammigen und aufgedunsenen Leichen, die jeden Augenblick zu platzen drohten, sickerte eine Flüssigkeit, die Schwärme von Fliegen anzog. In den Ecken und an den Wänden der Gebäude lagen die Toten aufgetürmt wie Herbstlaub, das der Wind zusammengeweht hatte. Die meisten hatten entsetzliche Verletzungen, einige waren von gebrochenen Lanzen durchbohrt. Die Stille schien zu leben. Eingetretene, zertrümmerte Türen hingen schief an einer Angel oder lagen zusammen mit persönlichen Gegenständen und zerbrochenen Möbeln in den Straßen. In sämtlichen Gebäuden waren die Fenster zerbrochen. Einige der Häuser waren nicht mehr als erkaltete, verkohlte Trümmerhaufen aus Balken und Schutt. Richard und Kahlan hielten sich die Umhänge vor Nase und Mund, um sich gegen den Gestank zu schützen. Die Leichen zogen ihre Blicke an.

»Rahl?« fragte er sie.

Sie betrachtete von weitem einige übereinander gestapelte Leichen. »Nein. Das ist nicht Rahls Art, zu töten. Das hier war eine Schlacht.«

»Sieht mir eher nach einem Gemetzel aus.«

Sie nickte. »Erinnerst du dich noch an die Toten bei den Schlammmenschen? So sieht es aus, wenn Rahl tötet. Es ist immer dasselbe. Das hier ist etwas anderes.«

Sie liefen weiter durch den Ort, hielten sich dicht bei den Häusern und von der Straßenmitte fern. Gelegentlich mußten sie über eine Blutlache steigen. Sämtliche Geschäfte waren geplündert, und was man nicht davon geschleppt hatte, war zerstört worden. Aus einem Laden war ein Ballen hellblauen Stoffs mit gleichmäßig verteilten dunklen Punkten über die Straße gerollt, so als hätte man ihn hinausgeworfen, als hätte ihn sein Besitzer durch seinen Tod wertlos gemacht. Kahlan zupfte ihn am Ärmel und zeigte auf etwas. Auf die Wand eines Hauses hatte man mit Blut eine Nachricht geschmiert. Tod allen Gegnern Westlands.

»Was hältst du davon?« flüsterte sie, als könnten die Toten sie hören.

Er starrte auf die triefenden Buchstaben. »Keine Ahnung.« Er wollte weiter, drehte sich aber noch zweimal stirnrunzelnd nach den Worten auf der Wand um.

Ein Karren vor einem Getreidegeschäft weckte Richards Aufmerksamkeit. Der Karren war zur Hälfte mit Kleinmöbeln und Kleidungsstücken beladen, der Wind zerrte an den Ärmeln von Kinderkleidern. Er und Kahlan sahen sich an. Es gab doch wohl Überlebende, und diese hatten offenbar vor, abzureisen.

Vorsichtig trat er durch den türlosen Rahmen des Getreidegeschäfts, Kahlan blieb ihm dicht auf den Fersen. Sonnenlicht fiel als Lichtbalken durch Tür und Fenster ins Innere, beschien geplatzte Kornsäcke und zerbrochene Fässer. Richard und Kahlan blieben hinter der Tür stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Im Staub waren frische Fußspuren zu sehen, kleine meist. Er folgte ihnen mit dem Blick hinter die Ladentheke. Er packte das Schwert am Heft, ohne es zu ziehen, und trat vor die Theke. Dahinter kauerten zitternde Menschen.

»Ich tue euch nichts«, sagte er ruhig. »Kommt raus.«

»Bist du ein Soldat der Friedensarmee des Volkes und gekommen, um uns zu helfen?« fragte eine Frauenstimme hinter der Theke.

Richard und Kahlan sahen sich stirnrunzelnd an. »Nein«, erwiderte sie, »wir sind … nur auf der Durchreise.«

Eine Frau mit schmutzigem, tränenverschmiertem Gesicht und kurzem dunklen, verfilzten Haar hob den Kopf. Ihr tristbraunes Kleid war zerlumpt. Richard nahm die Hand vom Schwert, um ihr keine Angst zu machen. Ihre Lippen zitterten, und sie blinzelte sie aus tiefliegenden Augen an, während sie den anderen ein Zeichen gab, herauszukommen. Es waren sechs Kinder, fünf Mädchen und ein Junge, eine weitere Frau und ein alter Mann. Nachdem sie hervorgekommen waren, klammerten sich die Kinder steif an die beiden Frauen. Die drei Erwachsenen würdigten Richard eines kurzen Blicks, dann starrten sie Kahlan ganz offen an. Sie rissen die Augen auf und wichen wie ein Mann an die Wand zurück. Richard legte verwirrt die Stirn in Falten, dann wußte er, warum sie so starrten: ihr Haar.

Die drei Erwachsenen fielen auf die Knie, neigten die Köpfe und senkten den Blick. Die Kinder vergruben ihre Gesichter stumm in den Röcken der Frauen. Mit einem Seitenblick auf Richard gab Kahlan ihnen rasch ein Handzeichen, sie sollten sich wieder erheben. Sie hatten den Blick auf den Fußboden geheftet und bekamen ihre wilden Gebärden nicht mit.

»Steht auf«, sagte sie. »Das ist nicht nötig. Steht auf.«

Verwirrt hoben sie die Köpfe. Sie starrten auf ihre Hände, mit denen sie sie zum Aufstehen bewegen wollte. Nur sehr widerwillig folgten sie.

»Auf dein Geheiß, Mutter Konfessor«, sagte eine Frau mit schwacher Stimme. »Vergebt uns, Mutter Konfessor … wir haben Euch nicht gleich erkannt … wegen der Kleider. Vergebt uns, wir sind nur bescheidene Leute. Vergebt uns, daß wir…«

Kahlan schnitt ihr sacht das Wort ab. »Wie heißt du?«

Die Frau verneigte sich tief von der Hüfte an abwärts und verharrte so. »Ich bin Regina Clark, Mutter Konfessor.«

Kahlan faßte sie bei den Schultern und richtete sie auf. »Regina, was ist hier geschehen?«

Regina traten die Tränen in die Augen. Sie warf Richard einen scheuen Blick zu. Ihre Lippen bebten. Kahlan drehte sich zu ihm um.

»Richard«, sagte sie leise, »warum bringst du den alten Mann und die Kinder nicht nach draußen?«

Er hatte verstanden. Die Frauen hatten zuviel Angst, in seiner Gegenwart zu sprechen. Er half dem gebeugten Alten auf die Beine und scheuchte vier der Kinder nach draußen. Die beiden kleinsten Mädchen wollten nicht vom Rockzipfel der Mütter weichen. Mit einem Nicken gab Kahlan ihm zu verstehen, daß es in Ordnung war.

Die vier Kinder hockten sich dichtgedrängt und mit leerem Blick draußen auf die Stufen und stierten ins Nichts. Keines antwortete, als er sie nach ihrem Namen fragte, sie sahen ihn nicht einmal an, höchstens, um sich mit einem angstvollen Blick zu versichern, daß er nicht näher kam. Der Alte starrte nur leer vor sich hin, als Richard ihn nach seinem Namen fragte.

»Kannst du mir sagen, was hier passiert ist?« fragte Richard ihn.

Er riß die Augen auf und blickte über die Straße. »Westländer…«

Ihm kamen die Tränen. Mehr brachte er nicht heraus. Aus Angst, ihn zu sehr zu bedrängen, ließ Richard den Alten in Ruhe. Richard bot ihm ein Stück Trockenfleisch aus seinem Gepäck an, doch das ignorierte er. Die Kinder schreckten vor seiner Hand zurück, als er ihnen das gleiche Angebot machte. Er packte das Fleisch wieder ein. Das älteste Mädchen war fast erwachsen und sah ihn an, als würde er sie jeden Augenblick niedermetzeln oder auffressen. Noch nie hatte er so verängstigte Menschen gesehen. Er wollte sie und die anderen Kinder nicht noch mehr einschüchtern und blieb auf Distanz, lächelte beruhigend und versprach, ihnen nichts zu tun. Sie schienen ihm nicht zu glauben. Richard sah immer wieder zur Tür. Ihm war unbehaglich zumute, und er wünschte, Kahlan würde herauskommen.

Endlich kam sie. Ihr Gesicht war starr und wirkte eine Spur überspannt. Richard stand auf, und die Kinder liefen zurück ins Haus. Der Alte blieb, wo er war. Sie nahm Richard beim Arm und führte ihn ein Stück fort.

»Es gibt hier keine Pferde«, sagte sie mit starrem Blick geradeaus, während sie den Weg zurückgingen, den sie gekommen waren. »Ich glaube, am besten bleiben wir den Straßen fern und halten uns an die weniger benutzten Wege.«

»Kahlan, was ist?« Er warf einen Blick über die Schulter. »Was ist hier passiert?«

Im Vorübergehen warf sie einen wütenden Blick auf die blutige Botschaft an der Wand. Tod allen Gegnern Westlands.

»Missionare waren hier und haben den Leuten vom Ruhm Darken Rahls erzählt. Sie kamen oft und berichteten dem Rat des Ortes von den Dingen, die sie bekommen würden, sobald D’Hara all diese Länder beherrscht. Sie haben ihnen erzählt, wie sehr Rahl all diese Völker liebt.«

»Das ist doch verrückt!« zischte Richard wütend.

»Wie auch immer, es gelang ihnen, die Menschen von Horners Mill für sich zu gewinnen. Man kam überein, den Ort zu D’Hara-Gebiet zu erklären. Die Friedensarmee des Volkes marschierte ein, behandelte jeden mit höchstem Respekt, kaufte bei den Händlern und schmiß mit Gold und Silber nur so um sich.« Sie deutete auf die Holzstapel unter den Planen. »Die Missionare hielten Wort, man bestellte Holz. Eine Menge Holz. Um neue Ortschaften zu bauen, in denen die Menschen unter der leuchtenden Herrschaft Darken Rahls im Wohlstand leben konnten.«

Richard schüttelte ungläubig den Kopf. »Und was geschah dann?«

»Es sprach sich rum. Hier gab es mehr Arbeit, als die Leute aus dem Ort schaffen konnten. Arbeit für Vater Rahl. Die meisten kamen hierher, um im Sägewerk zu arbeiten. Unterdessen erzählten die Missionare den Leuten von der Bedrohung aus Westland. Der Bedrohung für Vater Rahl.«

»Aus Westland!« Richard konnte es kaum fassen.

Sie nickte. »Dann zog die Friedensarmee des Volkes mit der Begründung ab, sie würden für den Kampf gegen die Truppen Westlands gebraucht und müßten die anderen Orte schützen, die D’Hara ihre Ergebenheit geschworen hatten. Sie flehten, einige sollten zu ihrem Schutz bleiben. Als Gegenleistung für ihre Loyalität und Ergebenheit ließ man eine kleine Abteilung zurück.«

Richard warf einen letzten, verstörten Blick zurück über die Schulter und führte sie zurück auf den Pfad. »Dann waren es nicht Rahls Truppen, die das hier angerichtet haben?«

Der Pfad war breit genug, und sie wartete, bis er neben ihr war. Dann fuhr sie fort. »Nein. Sie erzählten, eine Weile sei alles gutgegangen. Dann, vor ungefähr einer Woche, sei bei Sonnenaufgang eine Abteilung der Armee Westlands hereingebrochen und habe die Truppen D’Haras bis auf den letzten Mann aufgerieben. Anschließend begannen sie zu wüten, Menschen ohne Unterschied umzubringen und die Stadt zu plündern. Im Blutrausch brüllten die Soldaten Westlands, so würde es allen Gegnern Westlands ergehen. Noch vor Sonnenuntergang waren sie wieder verschwunden.«

Richard packte sie am Hemd und riß sie zu sich herum.

»Das ist nicht wahr! Kein Westländer würde so etwas tun! Es muß jemand anderes gewesen sein!«

Sie sah ihn erstaunt an. »Richard, ich habe nicht behauptet, daß es stimmt. Ich wiederhole nur, was man mir erzählt hat und was diese Leute da drinnen glauben.«

Er ließ sie los. Zum zweiten Mal hatte er allen Grund, rot zu werden. Er konnte nicht anders, er mußte hinzufügen: »Das hat keine Armee aus Westland getan.« Er wollte zurück zum Pfad, aber sie hielt ihm am Arm fest.

»Das ist noch nicht alles.«

Er bat sie mit einem Nicken weiterzusprechen.

»Wer überlebt hat, brach sofort auf und nahm mit, was er tragen konnte. Am nächsten Tag brachen weitere auf, einige erst nachdem sie ihre Familienmitglieder begraben hatten. An jenem Abend kam ein Trupp der Westländer zurück, vielleicht fünfzig Mann. Zu dieser Zeit befand sich nur noch eine Handvoll Menschen im Ort. Man sagte ihnen, die Gegner Westlands dürften nicht beerdigt werden. Man müsse sie liegenlassen, damit Tiere sie fressen könnten, als Mahnung an alle, was mit den Gegnern der Herrschaft Westland geschehen würde. Um ihrem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, trieben sie alle übriggebliebenen Männer, sogar die Jugendlichen, zusammen und exekutierten sie.« Richard schloß aus der Art, wie Kahlan das Wort ›exekutiert‹ aussprach, daß er nicht wissen wollte, wie es geschehen war. »Der kleine Junge und der alte Mann wurden irgendwie übersehen, sonst hätte man auch sie getötet. Die Frauen wurden gezwungen, zuzusehen.« Sie wartete.

»Wie viele Frauen waren übrig?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Nicht viele.« Sie blickte den Pfad hinauf und starrte einen Augenblick zurück auf den Ort, bevor sie ihn wieder mit ihren zornigen Augen ansah. »Die Soldaten haben die Frauen vergewaltigt. Die Mädchen auch.« Ihr Blick brannte sich in seine Augen. »Jedes der Mädchen, die du dort hinten gesehen hast, wurde von mindestens…«

»Das waren keine Westländer!«

Sie musterte sein Gesicht. »Ich weiß. Aber wer war es dann? Und warum?« Ihr Gesicht entspannte sich.

Er starrte sie verzweifelt an. »Gibt es nichts, was wir für sie tun können?«

»Es ist nicht unsere Aufgabe, ein paar Menschen oder die Toten zu beschützen. Wir müssen alle Lebenden beschützen, indem wir Darken Rahl aufhalten. Wir müssen nach Tamarang. Was immer uns auch erwartet, wir halten uns besser von den Straßen fern.«

»Du hast recht«, gab er widerwillig zu. »Aber es gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht.« Ihre Züge entspannten sich. »Richard, ich glaube, sie sind in Sicherheit. Welche Armee das auch immer getan hat, sie wird nicht wegen ein paar Frauen und Kindern zurückkommen. Sie ist auf größere Beute aus.«

Ein schöner Trost, daß die Mörder es vorzogen, mehr Menschen zu quälen, und das im Namen seiner Heimat. Richard haßte das alles. Er mußte daran denken, daß zu Hause in Kernland seine größte Sorge sein Bruder gewesen war, der ihm ständig vorschrieb, was er zu tun hatte.

»Ein Trupp von dieser Größe wird durch einen solch dichten Wald nicht auf Pfaden marschieren, sondern sich auf den Straßen halten. Trotzdem halte ich es für das beste, wenn wir nachts nach Launenfichten Ausschau halten. Man kann nie wissen, wer uns beobachtet.«

Sie nickte. »Richard, viele Menschen aus meiner Heimat haben sich Rahl angeschlossen und unaussprechliche Verbrechen begangen. Denkst du deswegen schlecht über mich?«

»Natürlich nicht.« Er legte die Stirn in Falten.

»Ich würde auch nicht schlechter von dir denken, wenn es Soldaten aus Westland wären. Es ist nicht deine Schuld, wenn Landsleute von dir Verbrechen begehen, die du abscheulich findest. Wir befinden uns im Krieg. Wir versuchen dasselbe zu tun wie unsere Vorfahren, sowohl die Sucher als auch die Konfessoren. Wir wollen einen Herrscher vom Thron stoßen. Dabei können wir nur auf zwei Menschen zählen. Auf dich und auf mich.« Sie sah ihm auf eine Art in die Augen, die ihn schlucken ließ. Ihr Blick hatte etwas Zeitloses. Er merkte, daß er das Heft des Schwertes fest umklammert hielt. »Vielleicht kommt eine Zeit, wenn du dich nur noch auf dich selbst verlassen kannst. Wir tun alle unsere Pflicht.« Das war nicht Kahlan, die da gesprochen hatte, es war die Mutter Konfessor.

Es war ein harter, unbehaglicher Moment, bevor sie den Blickkontakt abbrach, sich endlich umdrehte und ging. Er raffte seinen Umhang fest um sich. Ihm war kalt, von innen wie von außen.

»Das waren keine Westländer«, murmelte er kaum hörbar, als er ihr folgte.

»Brenne für mich«, sagte Rachel. Das kleine Häuflein aus Zweigen mit dem Ring aus Steinen drum herum entzündete sich und tauchte das Innere der Launenfichte in ein strahlend rotes Licht. Sie steckte den Feuerstab zurück in ihre Tasche und wärmte sich fröstelnd die Hände am Feuer, während sie Sara betrachtete, die auf ihrem Schoß lag.

»Heute nacht sind wir hier sicher«, sagte sie zu ihrer Puppe. Sara antwortete nicht. Seit der Nacht, in der sie vom Schloß fortgelaufen waren, hatte sie nicht gesprochen, also tat Rachel einfach so, als redete die Puppe und erzählte ihr, wie lieb sie sie hatte. Als Antwort auf Saras Schweigen drückte sie sie an sich.

Sie holte einige Beeren aus ihrer Tasche und aß sie einzeln. Nach jeder wärmte sie sich die Hände. Sara wollte keine Beeren. Rachel knabberte von einem Stück Hartkäse, all die anderen Lebensmittel, die sie aus dem Schloß mitgebracht hatte, waren aufgegessen. Bis auf das Brot natürlich. Aber das konnte sie nicht essen, denn darin war ja das Kästchen versteckt.

Rachel vermißte Giller sehr. Trotzdem mußte sie tun, was er gesagt hatte, sie mußte weiter fortlaufen und sich jede Nacht eine neue Launenfichte suchen. Sie wußte nicht, wie weit sie vom Schloß entfernt war. Solange es Tag war, lief sie einfach weiter, morgens die Sonne im Rücken, abends im Gesicht. Das hatte sie von Brophy gelernt. Mit der Sonne reisen, hatte er es genannt. Vermutlich tat sie genau das. Reisen.

Ein Fichtenast bewegte sich wie von alleine und ließ sie auffahren. Dann sah sie eine große Hand, die ihn zurückhielt. Dann die blinkende Klinge eines langen Schwertes. Sie starrte mit aufgerissenen Augen, unfähig, sich zu bewegen.

Ein Mann steckte seinen Kopf herein. »Na, wen haben wir denn hier«, grinste er.

Rachel hörte ein jämmerliches Geräusch und mußte feststellen, daß es aus ihrer eigenen Kehle stammte. Noch immer war sie unfähig, sich zu rühren. Eine Frau steckte neben dem Mann ihren Kopf herein. Sie schob sich an dem Mann vorbei. Rachel drückte Sara an sich.

»Steck das Schwert weg«, fuhr die Frau ihn an. »Du machst ihr angst.«

Rachel zog das teilweise aufgeknotete Bündel mit dem Brot dicht an ihren Körper. Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Die Frau schob sich unter die Launenfichte, kam zu ihr und hockte sich hin. Der Mann war dicht hinter ihr. Rachel blickte ihr ins Gesicht, dann sah sie im Schein des Feuers ihre langen Haare. Ihre Augen wurden noch größer, und ihr entfuhr ein zweiter leiser Schrei. Zumindest funktionierten ihre Beine wieder, wenigstens ein bißchen. Im Nu hatte sie sich nach hinten geschoben. Das Brot zog sie mit. Frauen mit langen Haaren bedeuteten immer Ärger. Keuchend biß sie Sara in den Fuß. Mit jedem Atemzug entwich ihr ein verängstigtes Wimmern. Sie drückte Sara an sich, so fest es ging. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Blick vom Haar der Frau zu lösen, und sie suchte nach einer Fluchtmöglichkeit.

»Ich tue dir nichts«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang nett. Aber Prinzessin Violet sagte das auch manchmal, kurz bevor sie sie ohrfeigte.

Die Frau streckte die Hand vor und berührte Rachel am Arm. Sie stieß einen Schrei aus und sprang zurück.

»Bitte«, sagte sie mit Tränen in den Augen, »du darfst Sara nicht verbrennen.«

»Wer ist denn Sara?« wollte der Mann wissen.

Die Frau drehte sich um und sagte ihm, er solle still sein. Als sie sich wieder umdrehte, glitt ihr langes Haar von den Schultern. Rachel konnte nicht den Blick davon lassen. Wenn eine Frau mit langem Haar in einer netten Stimme sprach, log sie wahrscheinlich. Trotzdem, ihre Stimme klang wirklich nett.

»Bitte«, jammerte sie, »kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Uns?« Die Frau sah sich um. Dann sah sie Sara. »Ach, ich verstehe. Das ist also Sara?« Rachel nickte und biß noch fester in Saras Fuß. Wenn sie der Frau mit dem langen Haar nicht antwortete, würde sie eine feste Ohrfeige bekommen, das wußte sie. »Das ist aber eine hübsche Puppe«, sagte sie mit einem Lächeln. Rachel wünschte, sie würde nicht lächeln. Wenn Frauen mit langem Haar lächelten, bedeutete das gewöhnlich Arger.

Der Mann schob den Kopf vorbei an der Frau. »Ich heiße Richard. Und du?«

Seine Augen gefielen ihr. »Rachel.«

»Rachel. Ein hübscher Name. Aber eins muß ich dir sagen, du hast die häßlichsten Haare, die ich je gesehen habe.«

»Richard!« protestierte die Frau. »Wie kannst du nur so was sagen!«

»Aber es stimmt doch. Wer hat es denn so verhunzt, eine alte Hexe?«

Rachel kicherte.

»Richard!« protestierte die Frau wieder. »Du machst ihr bloß angst.«

»Unsinn! Rachel, ich habe eine kleine Schere in meinem Rucksack, und ich kann ziemlich gut Haare schneiden. Soll ich dir dein Haar zurechtmachen? Ich könnte es wenigstens gerade schneiden. Wenn du es so läßt, verscheuchst du noch einen Drachen damit.«

Rachel kicherte. »Ja, gerne. Ich hätte gerne gerade geschnittenes Haar.«

»Also schön, komm her und setz dich auf meinen Schoß. Das haben wir gleich.«

Rachel stand auf, ging um die Frau herum und behielt ihre Hände im Auge. Sie hielt sich so fern von ihr, wie es in der Launenfichte möglich war. Richard faßte sie mit seinen großen Händen an der Hüfte und setzte sie auf seinen Schoß. Er zupfte ein paar Strähnen heraus. »Dann wollen wir mal sehen.«

Rachel ließ die Frau nicht aus den Augen. Sie hatte Angst, geschlagen zu werden. Er zeigte mit der Schere auf sie.

»Das ist Kahlan. Ich hatte am Anfang auch Angst vor ihr. Sie ist fürchterlich häßlich, stimmt’s?«

»Richard! Wer hat dir bloß beigebracht, so mit Kindern zu reden?«

Er grinste. »Ein Grenzposten, den ich gut kenne.«

Rachel kicherte, sie konnte nicht anders. »Ich finde sie nicht häßlich. Ich glaube, sie ist die hübscheste Lady, die ich je gesehen habe.« Es war die Wahrheit. Aber Kahlans Haar machte ihr mächtig angst.

»Danke, Rachel. Und du bist auch sehr hübsch. Hast du Hunger?«

Rachel durfte niemandem mit langen Haaren verraten, egal ob Lord oder Lady, daß sie hungrig war. Prinzessin Violet war der Ansicht, das gehöre sich nicht, und hatte sie einmal deswegen bestraft. Sie sah Richard ins Gesicht. Er lächelte sie an, aber trotzdem hatte sie noch zuviel Angst, Kahlan zu gestehen, was für großen Hunger sie hatte.

Kahlan legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich wette, du bist hungrig. Wir haben ein paar Fische gefangen, und wenn wir dein Feuer benutzen dürfen, teilen wir sie mit dir. Was meinst du?« Ihr Lächeln war wirklich nett.

Rachel sah Richard an. Er zwinkerte ihr zu und seufzte. »Ich fürchte, ich habe mehr gefangen, als wir essen können. Wenn du uns nicht hilfst, müssen wir ein paar wegwerfen.«

»Na gut. Wenn du sie sonst wegwirfst, helfe ich euch, sie zu essen.«

Kahlan nahm ihren Rucksack ab. »Wo sind deine Eltern?«

Rachel fiel nichts anderes ein, also erzählte sie die Wahrheit. »Tot.«

Richards Hände hielten kurz inne, machten dann weiter. Kahlan sah plötzlich traurig aus, aber Rachel wußte nicht, ob es echt war. Die Hand, mit der sie sie am Arm drückte, fühlte sich weich an. »Tut mir leid, Rachel.« Rachel war gar nicht so traurig. Sie erinnerte sich kaum an ihre Eltern, nur an das Heim, in dem sie mit den anderen Kindern gelebt hatte.

Richard schnipselte an ihren Haaren herum, während Kahlan eine Pfanne herausholte und mit dem Braten der Fische begann. Richard hatte recht, es gab eine Menge Fische. Kahlan bestreute sie mit irgendwelchen Gewürzen, wie Rachel es bei den Köchen gesehen hatte. Es roch gut, und ihr Magen fing an zu knurren. Um sie herum rieselten kleine Haarschnipsel nieder. Sie mußte lächeln beim Gedanken, wie wütend Prinzessin Violet werden würde, wenn sie erführe, daß Rachel die Haare geschnitten bekam. Richard schnitt eine der längeren Locken ab und band eine dünne, zarte Schlingpflanze darum. Er legte sie ihr in die Hand. Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

»Die mußt du aufbewahren. Wenn du dann irgendwann einen Jungen magst, kannst du ihm eine Locke von deinem Haar geben, und er kann sie in seiner Tasche gleich neben seinem Herzen tragen.« Er zwinkerte ihr zu. »Als Andenken an dich.«

Rachel kicherte. »Du bist der verrückteste Mann, den ich je gesehen habe.« Er mußte lachen. Kahlan lächelte. Rachel stopfte die Haarlocke in ihre Tasche. »Bist du ein Lord?«

»Tut mir leid, Rachel, aber ich bin bloß ein Waldführer.« Sein Gesicht bekam etwas Trauriges. Sie war froh, daß er kein Lord war. Er drehte sich um, kramte einen kleinen Spiegel aus der Tasche hervor und gab ihn ihr. »Sieh dich an und sag mir, was du davon hältst.«

Sie hielt ihn hoch und versuchte, sich im Spiegel zu finden. Es war der kleinste Spiegel, den sie je gesehen hatte, und sie brauchte eine ganze Weile, bis sie ihn richtig hielt, um sich im Schein des Feuers zu erkennen. Dann machte sie große Augen, und ihr kamen die Tränen.

Sie schlang die Arme um Richard. »Danke, Richard, danke. So hübsch haben meine Haare noch nie ausgesehen.« Er umarmte sie. Es fühlte sich mindestens genauso gut an wie bei Giller. Er strich ihr mit seiner großen, warmen Hand über den Rücken. Es war eine lange Umarmung, die längste, die sie je bekommen hatte, und sie wünschte, daß sie nie zu Ende ging. Dann war es doch soweit.

Kahlan schüttelte den Kopf. »Jemanden wie dich gibt es selten, Richard Cypher«, flüsterte sie ihm zu.

Kahlan spießte ihr ein großes Stück Fisch auf einen Stock und meinte, sie solle pusten, damit sie sich nicht den Mund verbrannte. Rachel pustete ein wenig, war aber zu hungrig, um lange zu warten. Der beste Fisch, den sie je gegessen hatte. Genauso gut wie das Stück Fleisch, das ihr die Köche damals gegeben hatten.

»Noch ein Stück?« fragte Kahlan. Rachel nickte. Dann zog sie ein Messer aus dem Gürtel. »Sollen wir eine Scheibe Brot zum Fisch essen?« Sie griff nach dem Brot.

Rachel stürzte sich auf das Brot und riß es fort, bevor Kahlan es anfassen konnte. Rachel drückte es mit beiden Armen an sich. »Nein!« Sie stieß sich mit den Hacken von Kahlan fort.

Richard hörte auf zu essen, Kahlan runzelte die Stirn. Rachel griff in ihre Tasche und packte den Feuerstab, den Giller ihr geschenkt hatte.

»Rachel, was ist denn?« fragte Kahlan.

Giller hatte gesagt, sie dürfe keinem vertrauen. Sie mußte sich etwas einfallen lassen. Was würde Giller sagen?

»Das ist für meine Großmutter!« Sie spürte, wie ihr eine Träne die Wange hinablief.

»Also gut«, sagte Richard, »wenn es für deine Großmutter ist, werden wir es nicht anrühren. Versprochen. Nicht wahr, Kahlan?«

»Natürlich. Tut mir leid, Rachel, das haben wir nicht gewußt. Ich verspreche es dir auch. Verzeihst du mir?«

Rachel nahm die Hand aus der Tasche und nickte. Der Kloß in ihrem Hals war zu groß, um zu sprechen.

»Rachel«, fragte Richard, »wo ist deine Großmutter?«

Rachel erstarrte, sie hatte eigentlich gar keine Großmutter. Sie versuchte sich an einen Ortsnamen zu erinnern, von dem sie mal gehört hatte. Ortsnamen, die die Berater der Königin erwähnt hatten. Sie nannte den ersten, der ihr in den Sinn kam.

»Horners Mill.«

Sie hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als sie wußte, daß es ein Fehler war. Richard und Kahlan machten beide ein besorgtes Gesicht und sahen sich an. Einen Augenblick lang wurde es vollkommen still. Rachel wußte nicht, was passieren würde. Sie blickte rechts und links zwischen die Äste der Launenfichte.

»Rachel, wir werden das Brot deiner Großmutter nicht anrühren«, sagte Richard leise. »Versprochen.«

»Komm, iß noch ein Stück Fisch«, meinte Kahlan. »Laß das Brot dort drüben liegen, wir werden es nicht anfassen.«

Rachel rührte sich noch immer nicht. Sie dachte daran, wegzulaufen, so schnell sie konnte, doch sie wußte, die beiden konnten schneller rennen und würden sie fangen. Sie mußte tun, was Giller ihr gesagt hatte, und sich mit dem Kästchen bis zum Winter verstecken. Sonst würden all den Menschen die Köpfe abgeschlagen.

Richard hob Sara auf und setzte sie sich auf den Schoß. Er tat, als gäbe er ihr ein Stück Fisch. »Sara wird noch den ganzen Fisch aufessen. Du solltest herkommen und dir deinen Teil holen, wenn du noch etwas möchtest. Komm, du kannst dich bei mir auf den Schoß setzen und essen. Einverstanden?«

Rachel betrachtete ihre Gesichter und versuchte zu entscheiden, ob sie die Wahrheit sagten. Frauen mit langen Haaren logen oft. Sie sah Richard an. Er sah nicht so aus, als würde er lügen. Sie stand auf und lief zu ihm. Er zog sie zu sich auf den Schoß, dann setzte er ihr Sara auf den Schoß. Rachel schmiegte sich an ihn, während sie den Fisch aßen. Kahlan sah sie nicht an. Prinzessin Violet hatte gesagt, manchmal sei es ungehörig, Frauen mit langen Haaren anzusehen. Sie wollte nichts tun, was ihr eine Ohrfeige einbringen könnte. Oder sie zwang, Richards Schoß zu verlassen. Dort war es warm, und sie fühlte sich sicher.

»Rachel«, sagte Richard. »Es tut mir leid, aber wir können dich unmöglich nach Horners Mill lassen. Dort ist es nicht sicher.«

»In Ordnung. Dann gehe ich eben woandershin.«

»Ich fürchte, es ist nirgendwo sicher, Rachel«, meinte Kahlan. »Wir nehmen dich mit, dann bist du in Sicherheit.«

»Wohin?«

Kahlan lächelte. »Nach Tamarang. Wir wollen die Königin besuchen.« Rachel hörte auf zu kauen. Sie bekam keine Luft. »Wir nehmen dich mit. Ich bin sicher, die Königin wird jemanden finden, der sich um dich kümmert, wenn ich sie darum bitte.«

»Bist du sicher, Kahlan?« flüsterte Richard. »Was ist mit dem Zauberer?«

Kahlan nickte und antwortete ihm leise: »Wir werden uns erst um sie kümmern, und dann ziehe ich Giller das Fell über die Ohren.«

Rachel zwang sich, zu schlucken, damit sie wieder Luft bekam. Sie hatte es geahnt! Sie wußte, einer Frau mit langen Haaren konnte man nicht trauen! Fast hätte sie losgeheult; sie hatte gerade angefangen, Kahlan zu mögen. Richard war so nett. Wieso sollte er zu Kahlan nett sein? Wieso war er überhaupt bei so einer Frau? Sie würde Giller weh tun. Bestimmt war es genauso wie mit Prinzessin Violet. Sie war nett zu ihr, damit die Prinzessin ihr nichts tat. Er hatte bestimmt auch Angst, daß man ihm etwas tat. Richard tat ihr leid. Wenn er Kahlan doch nur fortlaufen könnte, wie sie Prinzessin Violet weggelaufen war. Vielleicht konnte sie Richard von dem Kästchen erzählen, dann könnten sie Kahlan vielleicht zusammen weglaufen.

Nein. Giller hatte gesagt, sie dürfe niemandem trauen. Vielleicht hatte er zu große Angst vor Kahlan und erzählte es ihr. Sie mußte tapfer sein, für Giller. Für all die anderen Leute. Sie mußte fort von hier.

»Darum kümmern wir uns morgen früh«, sagte Kahlan. »Wir sollten jetzt etwas schlafen, damit wir morgen beim ersten Licht aufbrechen können.«

Richard nickte und drückte Rachel an sich. »Ich übernehme die erste Wache. Schlaf du ein bißchen.«

Er hob Rachel hoch und reichte sie Kahlan. Rachel mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht loszuschreien. Kahlan drückte sie fest an sich. Rachel warf einen Blick auf ihr Messer. So etwas hatte nicht einmal die Prinzessin. Jammernd streckte sie die Arme nach Richard aus. Mit einem Lächeln legte Richard ihr Sara in die Hände. Das hatte sie zwar nicht gewollt, trotzdem drückte sie die Puppe fest an sich und biß ihr in den Fuß, um nicht loszuheulen.

Richard fuhr ihr durchs Haar. »Dann bis morgen, Kleine.«

Und schon war er verschwunden. Sie war allein mit Kahlan. Sie preßte die Augen fest zusammen, sie mußte tapfer sein und durfte nicht weinen. Aber dann tat sie es doch.

Kahlan drückte sie fest an sich. Rachel zitterte. Finger strichen ihr durchs Haar. Kahlan wiegte Rachel, die dabei auf eine dunkle Lücke zwischen den Ästen auf der anderen Seite der Launenfichte starrte. Kahlans Brust machte seltsame, kleine Bewegungen. Rachel merkte verwundert, daß auch sie weinte. Kahlan schmiegte ihre Wange an Rachels Kopf. Fast begann sie zu glauben … doch dann fiel ihr ein, was Prinzessin Violet manchmal sagte, daß strafen mehr schmerzte, als bestraft zu werden. Voller Entsetzen überlegte sie, was Kahlan im Sinn hatte, daß sie so weinte. Nicht einmal Prinzessin Violet weinte, wenn sie jemanden bestrafte. Rachel weinte bitterlich und fing an zu zittern.

Kahlan ließ sie los und wischte sich die Tränen von den Wangen. Rachel war zu wackelig auf den Beinen, um wegzulaufen.

»Ist dir kalt?« flüsterte Kahlan. Ihre Stimme klang, als weinte sie noch immer.

Rachel hatte Angst, sie würde auf jeden Fall geschlagen werden, ganz gleich, was sie sagte. Sie nickte und war auf alles vorbereitet. Statt dessen nahm Kahlan eine Decke aus ihrem Bündel und wickelte sie um die beiden. Vermutlich, um ihr die Flucht zu erschweren.

»Komm, leg dich her. Ich erzähle dir eine Geschichte. Wir wärmen uns gegenseitig, einverstanden?«

Rachel lag mit dem Rücken zu Kahlan, die sich um sie schmiegte und einen Arm über sie legte. Das war angenehm, aber ein Trick, das wußte sie. Kahlans Gesicht war dicht an ihrem Ohr, und während sie so dalagen, erzählte Kahlan ihr eine Geschichte von einem Fischer, der sich in einen Fisch verwandelte. Die Worte formten Bilder in ihrem Kopf, und für eine Weile vergaß sie ihre Sorgen. Einmal lachten Kahlan und sie sogar zusammen. Als sie mit der Geschichte fertig war, gab Kahlan ihr einen Kuß auf den Kopf und streichelte ihr über die Schläfen. Sie tat, als wäre Kahlan in Wirklichkeit gar nicht gemein. So tun als ob konnte nicht schaden. Noch nie hatte sich etwas so schön angefühlt wie diese Finger und das Lied, das Kahlan ihr ins Ohr sang. So mußte es sein, wenn man eine Mutter hat.

Gegen ihren Willen schlief sie ein und hatte wunderbare Träume.

Mitten in der Nacht, als Richard Kahlan weckte, wachte sie auf, tat aber weiter so, als würde sie schlafen.

»Willst du weiter bei ihr schlafen?« flüsterte er ganz leise.

Rachel hielt den Atem an.

»Nein«, antwortete Kahlan flüsternd, »ich übernehme die Wache.«

Rachel hörte, wie sie ihren Umhang überzog und nach draußen ging. Sie lauschte, in welche Richtung Kahlans Schritte sich entfernten. Richard tat noch etwas Holz ins Feuer, dann legte er sich dicht neben ihr hin. Sie sah, wie es unter der Fichte heller wurde. Richard beobachtete sie, sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken. Gerne hätte sie ihm erzählt, wie gemein Kahlan in Wirklichkeit war, und ihn gebeten, mit ihr fortzulaufen. Er war so nett, es gab nichts Schöneres auf der ganzen Welt, als wenn er einen drückte. Er zog die Decke um sie fester, stopfte sie unter ihr Kinn. Rachel wartete, bis sie seinen gleichmäßigen Atem hörte und wußte, daß er eingeschlafen war. Dann schlüpfte sie unter der Decke hervor.

Загрузка...