16

Als ginge es um sein Leben, klammerte sich Richard in die dicken Dornen auf Scarlets Schultern, während sie mit einer Linkskurve zum Sinkflug überging. Zu seiner Verwunderung hatte er herausgefunden, daß er nicht etwa herunterrutschte, wenn sie sich in eine Kurve legte, sondern noch fester an sie gedrückt wurde. Das Fliegen war für Richard eine ebenso aufregende wie angsteinflößende Erfahrung. Unter ihm spannte sich die Muskulatur, wenn sie die Luft mit ihren mächtigen Schwingen schlug und mit jedem Schlag an Höhe gewann. Wenn sie ihre Flügel zusammenklappte und Richtung Erdboden tauchte, traten ihm vom Wind die Tränen in die Augen, stockte ihm der Atem, und sein Magen kletterte in seinem Innern empor. Schon die Vorstellung, auf einem Drachen zu reiten, war für ihn ein Wunder.

»Kannst du sie sehen?« rief er über das Geräusch des Windes hinweg.

Scarlet bejahte mit einem Grunzen. Im schwächer werdenden Licht wirkten die Gars wie schwarze Punkte, die sich über das felsige Gelände tief unten bewegten. Kräuselnd stieg Rauch von den Feuerquellen auf, und selbst in dieser Höhe konnte Richard die beißenden Dämpfe riechen. Scarlet stieg steil in die Höhe, dann kippte sie in einer steilen Rechtskurve nach unten weg.

»Es sind viel zu viele«, rief sie nach hinten.

Sie drehte den Kopf und linste ihn aus einem ihrer gelben Augen an. Richard zeigte nach vorn.

»Geh dort runter, hinter diesen Hügeln, und gib acht, daß sie uns nicht sehen.«

Scarlet stieg mit kräftigen Stößen höher. Als sie höher waren als je zuvor, glitt sie fort von den Feuerquellen. Sie stieß zwischen felsigen Hängen hinab und flog, sich zwischen ihnen hindurchschlängelnd, zurück zu der Stelle, wo sie nach Richards Angaben landen sollte. Mit leisem Flügelschlag setzte sie sanft neben einer Höhlenöffnung auf und senkte ihren Hals, damit er absteigen konnte. Offenbar wollte sie ihn nicht länger als nötig auf dem Rücken haben.

Ihr Kopf schwenkte zu ihm herum. Ihre Augen waren wütend, ungeduldig. »Es sind zu viele Gars. Darken Rahl weiß, daß ich gegen sie keine Chance habe, sollte ich mein Ei jemals finden. Du hast gesagt, du würdest dir etwas einfallen lassen. Was hast du für einen Plan?«

Richard warf einen Blick auf die Öffnung der Höhle. Shadrins Höhle, wie Kahlan ihm verraten hatte. »Wir brauchen etwas, um sie abzulenken, während wir das Ei holen.«

»Während du das Ei holst«, korrigierte Scarlet und unterstrich ihren Standpunkt, indem sie eine kleine Stichflamme spuckte.

Er sah zur Höhle hinüber. »Ich habe gehört, die Höhle reicht durch den Berg bis zu der Stelle, wo das Ei sich befindet. Vielleicht kann ich hindurch gehen, das Ei stehlen und hierherbringen.«

»Dann los.«

»Sollten wir nicht darüber reden, ob die Idee gut ist? Vielleicht fällt uns noch etwas Besseres ein. Außerdem habe ich gehört, die Höhle sei möglicherweise bewohnt.«

Scarlet beäugte ihn verärgert. »Die Höhle soll bewohnt sein?« Sie schob ihren Kopf bis vor die Höhlenöffnung und jagte einen entsetzlichen Feuerstoß in die Dunkelheit. Ihr Kopf kehrte zurück. »Jetzt nicht mehr. Geh jetzt und hol mein Ei.«

Die Höhle war meilenlang. Richard wußte, wer weiter hinten in der Höhle lebte, dem hatte der Feuerstoß nichts anhaben können. Aber er hatte Scarlet sein Wort gegeben. Er sammelte Schilfrohre, die in der Nähe wuchsen, und band sie mit Farn zu mehreren Garben zusammen. Scarlet beobachtete ihn, als er ihr eine davon hinhielt.

»Würdest du das hier für mich anzünden?«

Der Drache schürzte die Lippen und blies einen dünnen Feuerstrahl über das Ende der Schilfrohre.

»Du wartest hier«, sagte er. »Manchmal ist es besser, klein zu sein. Mich entdeckt man nicht so leicht. Ich werde mir etwas einfallen lassen, das Ei holen und es durch die Höhle hierherschaffen. Der Weg ist weit. Vielleicht bin ich erst morgen früh zurück. Ich weiß nicht, wie dicht die Gars mir auf den Fersen sein werden. Es kann also sein, daß wir schnell verschwinden müssen. Halte die Augen offen, ja?« Er hängte seinen Rucksack über einen Dorn auf ihrem Rücken. »Bewahr das für mich auf. Ich möchte nicht mehr mitschleppen als unbedingt nötig.«

Richard hatte keine Ahnung, ob ein Drache ein besorgtes Gesicht machen konnte, aber es sah ganz danach aus.

»Sei vorsichtig mit dem Ei. Das Kleine wird bald schlüpfen. Wenn die Schale vor der Zeit bricht…«

Richard versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen. »Keine Sorge, Scarlet, wir bekommen es zurück.«

Sie folgte ihm schwankenden Schritts bis zum Höhleneingang, steckte den Kopf hinein und sah ihm nach, wie er im Innern verschwand.

»Richard Cypher«, rief sie ihm mit hallender Stimme nach, »ich werde dich finden, wenn du versuchst, wegzulaufen, und solltest du ohne das Ei zurückkommen, wirst du wünschen, die Gars hätten dich getötet, denn ich werde dich langsam grillen. Bei den Füßen fange ich an.«

Richard drehte sich um und starrte auf den massigen Körper, der den Höhleneingang füllte. »Ich habe dir mein Wort gegeben. Wenn die Gars mich entdecken, versuche ich, so viele zu töten, daß du dir das Ei schnappen und fliehen kannst.«

Scarlet grunzte. »Laß es nicht soweit kommen. Ich will dich schließlich noch fressen, wenn alles vorbei ist.«

Richard machte sich grinsend auf den Weg in die Dunkelheit. Die Schwärze schien das Licht der Fackel aufzusaugen und gab ihm das Gefühl, ins Nichts zu marschieren. Als er weiterging, senkte sich der Höhlenboden und führte hinab in kalte, stehende Luft. Eine Felsendecke wurde sichtbar, dann die Wände. Die Höhle wurde schmaler und verwandelte sich in einen Tunnel, der sich tiefer und tiefer in den Berg wand. Dann öffnete sich der Tunnel zu einer großen Höhle. Der Pfad führte auf einem schmalen Grat am Rande eines stillen, grünen Sees vorbei. Im flackernden Schein der Fackeln erkannte er eine schroffe Decke und Wände aus glattem Gestein. Die Decke neigte sich weit nach unten, und er mußte sich bücken, um durchzupassen. Eine gute Stunde lang ging er vornübergebeugt weiter, sein Hals begann von der gebückten Haltung zu schmerzen. Ab und zu streifte er die Asche der Fackel an der Decke ab, damit sie besser brannte.

Die Finsternis war bedrückend, sie hüllte ihn ein, folgte ihm, saugte ihn in die Tiefe, lockte ihn mit gespenstischen Ausblicken immer weiter. Zarte, bunte Felsformationen wuchsen wie Vegetation und schienen blühend aus dem nackten Fels zu sprießen. Funkelnde Kristalle blinkten ihn an, sobald er mit der Fackel vorüberging, deren Flamme das einzige Geräusch erzeugte, das ihm aus der Finsternis entgegenhallte.

Richard kam durch Räume von verblüffender Schönheit. Gewaltige Säulen aus geriffeltem Stein erhoben sich in die Dunkelheit, von wo ihr Gegenstück herunterhing, um sie auf halber Strecke zu treffen. An manchen Stellen waren die Wände mit einer Kristallschicht wie aus geschmolzenen Juwelen überzogen.

Manche Durchgänge war bloße Felsspalten, durch die er sich zwängen mußte, andere bestanden aus Löchern, die ihn zwangen, auf Händen und Knien hindurchzukriechen. Seltsamerweise roch es nach nichts. Hier herrschte ewige Nacht, kein Licht, kein Leben kam jemals hierher. Weiter und weiter ging es, ihm wurde warm vor Anstrengung. Wenn er die Fackel in die Nähe seiner anderen Hand hielt, konnte er sehen, wie von jedem seiner Finger in der kalten Luft Dampf aufstieg, so als würde ihm seine Lebenskraft entzogen. Es war zwar nicht so frostig wie im Winter, und doch handelte es sich um eine Kälte, die einem Menschen seine ganze Körperwärme entziehen konnte, wenn er nur lange genug hier blieb. Ein langsamer, auszehrender Tod. Ohne das Licht hätte er sich nach wenigen Minuten verlaufen. Wer glücklos war oder unachtsam, war hier schnell verloren. Richard sah oft nach der Fackel und dem Schilf, das er als Reserve mitgenommen hatte.

Langsam schleppte sich die ewige Nacht dahin. Richard wurden die Beine müde vom ewigen Rauf- und Runterklettern. Er war ohnehin müde. Hoffentlich hörte die Höhle bald auf, fast schien es, als wäre er schon die ganze Nacht unterwegs. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Der Fels schloß sich um ihn. Die niedrige Decke der Felsspalte senkte sich so weit, daß er wieder gebückt gehen mußte, dann zwang sie ihn gar auf Hände und Knie. Der Boden war kalt und feucht von glitschigem Schlamm, der nach Verwesung stank. Der erste Geruch nach langer Zeit. Seine Hände waren klamm vom feuchten, stinkenden Schlick.

Der Weg schrumpfte zu einem einzigen, schmalen Durchlaß, im Schein der Fackeln, nicht mehr als ein schwarzes Loch. Ein Luftzug fuhr stöhnend durch die Öffnung und ließ die Flamme flackern. Er hielt die Fackel ins Loch, konnte dahinter aber nichts als bloßes Schwarz erkennen. Er zog die Fackel wieder zurück und überlegte, was er tun sollte. Die Öffnung war schrecklich schmal, oben und unten flach, und er hatte keine Ahnung, wie lang sie war oder was sich dahinter verbarg. Luft kam hindurch, also mußte sie zur anderen Höhlenöffnung führen, zu den Gars, dem Ei, doch behagte ihm nicht, daß sie so schmal war. Die Enge ließ ihn Schlimmes ahnen.

Richard kroch ein Stück zurück. Vielleicht gab es weiter hinten eine Abzweigung, in einem der anderen Räume. Aber wieviel Zeit durfte er vergeuden, um am Ende möglicherweise doch keinen zu finden? Er kehrte zurück vor das Loch und starrte es mit wachsendem Unbehagen an.

Er versuchte, nicht an seine Angst zu denken, nahm das Schwert ab, hielt es zusammen mit der Fackel und der Reserve vor sich und drückte sich in die Öffnung. Sofort versetzte ihn der Druck des Gesteins von oben und unten in panische Angst. Mit ausgestreckten Armen und seitlich verdrehtem Kopf ruckelte er sich tiefer hinein. Die Enge nahm zu und zwang ihn, sich zentimeterweise vorzuschieben. Kaltes Gestein drückte gegen Brust und Rücken. Er konnte nicht mehr durchatmen. Er preßte sich tiefer hinein, es wurde immer enger. Er ruckelte seine Schultern vor und zurück, zog erst ein Bein einige Zentimeter nach, dann das andere. Er kam sich vor wie eine Schlange, die sich häutet. Im Schein der Fackel war weiter vorn nichts als Dunkelheit zu erkennen. Die Angst packte ihn. Du mußt nur durch, redete er sich ein, schieb dich einfach vor und durch.

Mit den Zehenspitzen seiner Stiefel stemmte sich Richard gegen den Fels und versuchte, sich zappelnd vorzuschieben. Der Stoß keilte ihn fest. Er versuchte es ein zweites Mal. Nichts rührte sich. Wütend schob er sich fester vor. Panik packte ihn. Er saß fest. Felsgestein preßte Brust und Rücken zusammen, er bekam kaum noch Luft. Er stellte sich das Felsgebirge vor, das auf seinem Rücken lastete, dieses unvorstellbare Gewicht, das sich über ihm auftürmte. Völlig verängstigt schlängelte und wand er sich und versuchte, zurückzurutschen. Unmöglich. Er versuchte, etwas mit den Händen zu fassen, um sich daran nach hinten drücken zu können. Es half nichts. Er saß fest. Er keuchte und bekam nicht genügend Luft. Er glaubte ersticken zu müssen, seine Lungen brannten nach Luft, so als ertränke er, unfähig zu atmen. Tränen traten ihm in die Augen. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Mit den Zehen scharrte er gegen den Fels, versuchte, sich in die eine oder die andere Richtung zu schieben. Nichts. Die Art, wie seine Arme vor seinen Körper geklemmt waren, erinnerte ihn an Dennas Bandeisen. An die Hilflosigkeit. Daß er die Arme kaum bewegen konnte, machte alles noch schlimmer. Kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht. Richard begann, panisch zu keuchen: der Fels schien sich zu bewegen und fester zuzudrücken. Verzweifelt sehnte er sich nach Hilfe. Es gab keine.

Ächzend und mit der Kraft der Verzweiflung schob er sich ein paar Zentimeter nach vorn. Das machte es nur schlimmer. Enger. Er hörte sich hysterisch schluchzen. Er rang nach Luft. Der Fels drohte ihn zu zermalmen. »Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«

Immer wieder intonierte er den Lobgesang, konzentrierte all seine Gedanken darauf, bis sein Atem langsamer und er wieder ruhiger wurde. Er saß immer noch fest, aber wenigstens funktionierte sein Verstand wieder.

Etwas berührte ihn am Bein. Er riß die Augen auf.

Die Berührung war tastend, schüchtern. Richard trat mit dem Bein aus. Zumindest, so weit dies in der Enge des Loches möglich war. Es war eher ein Zucken. Was ihn berührt hatte, verschwand.

Und war wieder da. Richard erstarrte. Diesmal strich etwas die Innenseite seines Hosenbeines hinauf. Kalt, feucht, schleimig. Schlitternd arbeitete sich dieses Etwas mit seiner harten Spitze sein Bein hinauf, schmiegte sich an die Haut an der Innenseite seines Schenkels. Richard trat wieder aus, zuckte mit dem Bein. Diesmal verschwand es nicht. Die Spitze tastete sich suchend vor. Irgend etwas bohrte sich in seine Haut. Panik drohte ihn wieder zu übermannen, aber er kämpfte dagegen an.

Jetzt blieb ihm keine Wahl mehr. Der Gedanke war ihm vorher schon gekommen, er hatte jedoch Angst gehabt, es auszuprobieren. Richard preßte alle Luft aus seinen Lungen, und als er so klein war, wie er sich nur machen konnte, stieß er sich mit den Zehen ab, zog sich mit den Fingern vor und wand seinen Körper. Er rutschte einen knappen halben Meter vor.

Hier war es noch enger. Er konnte nicht mehr atmen. Es tat weh. Er kämpfte gegen die aufkommende Panik. Dann ertasteten seine Finger etwas. Vielleicht das Ende des Durchlasses. Vielleicht weitete sich hier das Loch, in dem er steckte. Das Ding krallte sich schmerzhaft und mit Nachdruck in sein Bein. Er vernahm ein bösartiges Knurren. Er zog mit den Fingern, bekam eine Kante zu fassen und stieß sich mit den Zehen ab. Er kam voran. Jetzt hatte er die Kante mit den Ellenbogen erreicht. Etwas Scharfes, wie die Kralle einer Katze, bohrte sich wie ein Haken in sein Bein. Schreien war unmöglich. Er schob sich weiter vor. Das Fleisch seines Oberschenkels brannte wie Feuer.

Fackel, Schilfgarben und Schwert glitten davon. Scheppernd rutschte sein Schwert den Fels hinab. Die Ellenbogen als Hebel benutzend, quetschte er seinen Oberkörper durch die Öffnung und schnappte in tiefen Zügen nach Luft. Der Haken zerrte an seinem Bein. Richard wand sich ganz aus dem Loch hinaus, rutschte aus und stürzte kopfüber einen steilen, glatten Fels hinab.

Die Fackel brannte auf dem ausgekehlten Boden der eiförmigen Kammer. Gleich dahinter lag sein Schwert. Er rutschte kopfüber mit ausgestreckten Händen hinein und versuchte, sein Schwert zu packen. Die hakenartigen Krallen in seinen Beinen hielten ihn zurück. Er blieb kopfüber hängen. Richard schrie vor Schmerz. Sein Schrei hallte durch die Kammer. Das Schwert konnte Richard nicht erreichen.

Quälend langsam wurde er von den Krallen in seinem Bein wieder hinaufgezogen. Das Fleisch riß. Er brüllte. Ein weiterer Wurm kroch ihm das andere Bein hinauf und betastete seinen Wadenmuskel mit seiner harten Spitze.

Richard zückte das Messer, hob den Oberkörper und versuchte das Ding zu erwischen, das ihn festhielt. Wieder und wieder rammte er seine Klinge hinein. Tief aus dem Loch erschallte ein schrilles Quieken. Die Krallen wurden eingezogen. Richard glitt über den Fels und kam neben der Fackel zu liegen. Er packte die Scheide mit einer Hand und zog das Schwert, als schlangengleiche Wurmarme aus dem Loch geschossen kamen und nervös in der Luft herumzappelten. Tastend suchten sie den Fels bis hinunter zu ihm ab. Richard schwang das Schwert und kappte mehrere der Arme. Sie wurden alle unter Geheul ins Loch zurückgezogen. Aus der Tiefe der Finsternis erscholl ein dumpfes Grollen.

Im flackernden Schein der Fackel, die auf dem Steinboden lag, konnte er einen massigen Körper sehen, der sich durch die Öffnung quetschte und sich beim Austritt dehnte. Mit dem Schwert kam er nicht heran, aber als Gesellschaft in der engen Kammer wollte er das Biest bestimmt nicht.

Ein Arm peitschte um seine Hüfte und hob ihn in die Höhe. Er ließ es geschehen. Ein Auge linste ihn an. Es glänzte im fahlen Schein der Fackel. Er entdeckte feucht glitzernde Zähne. Der Arm wollte ihn gerade in den Schlund zerren, als Richard das Schwert in das Auge bohrte. Das Wesen ließ ihn unter Geheul los und zog sich ins Loch zurück, riß die um sich peitschenden Arme mit hinein. Das Geheul verhallte in der fernen Dunkelheit und war verschwunden.

Richard saß zitternd auf dem Boden und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Nach einer Weile wurde sein Atem ruhiger und seine Angst ließ nach. Er betastete sein Bein. Seine Hose war blutgetränkt. Daran war im Augenblick nichts zu ändern, zuerst mußte er das Ei beschaffen. Auf der anderen Seite der Kammer war ein schwacher Lichtschein zu sehen. Er folgte dem breiten Tunnel auf der anderen Seite und gelangte schließlich zur Mündung der Höhle.

Das fahle Licht der Morgendämmerung und das Gezwitscher der Vögel begrüßten ihn. Unten sah er Dutzende von Gars herumstreifen. Richard ließ sich hinter einem Felsen nieder, um sich auszuruhen. Unten konnte er das Ei sehen, umgeben von aufsteigendem Dampf. Er erkannte auch, daß das Ei viel zu groß war, um es durch die Höhle zurückzutragen. Außerdem wollte er auf keinen Fall noch einmal durch die Höhle. Bald wäre es hell. Er mußte sich etwas einfallen lassen.

Irgend etwas biß ihn ins Bein. Er schlug es tot. Eine Blutmücke.

Er stöhnte. Jetzt würden die Gars ihn finden. Das Blut zog sie an. Er mußte sich etwas einfallen lassen.

Eine zweite Mücke stach ihn, und ihm kam eine Idee. Rasch zog er sein Messer und schnitt die feuchte, blutdurchtränkte Hose in Streifen. Damit wischte er sich das Blut vom Bein, dann band er einen Stein an beide Enden.

Richard nahm die Pfeife des Vogelmenschen zwischen die Lippen und pfiff, so kräftig er konnte. Immer wieder. Dann packte er einen Stoffstreifen, schwang ihn kreisend über dem Kopf und ließ los, ließ ihn in die Tiefe segeln. Mitten unter die Gars. Er schleuderte die blutdurchtränkten Stoffstreifen immer weiter nach rechts, in die Bäume hinein. Hören konnte er sie nicht, aber er wußte, daß die Blutmücken aufgescheucht wurden. Soviel frisches Blut weckte ihre Gier.

Vögel, hungrige Vögel, erst ein paar, dann Hunderte, Tausende, stürzten hinab auf die Feuerquelle und fraßen sich dabei durch die Mücken. Ein unglaubliches Getümmel entstand. Gars heulten auf, als sich die Vögel auf sie stürzten und ihnen die Mücken vom Bauch pickten oder sie aus der Luft schnappten. Überall liefen Gars durcheinander, einige stiegen in die Luft auf. Jeder Vogel, den die Gars aus der Luft griffen, wurde durch hundert neue ersetzt.

Geduckt, von Fels zu Fels springend, stürzte Richard den Hang hinab. Er brauchte nicht zu befürchten, gehört zu werden, dafür machten die Vögel zu viel Lärm. Die Gars wurden wild, schlugen nach den Vögeln, jagten ihnen heulend und kreischend nach. Es schien Federn zu schneien. Wenn das der Vogelmann sehen könnte, dachte er lächelnd.

Richard löste sich von der Felswand und rannte auf das Ei zu. In dem Durcheinander gingen die Gars dazu über, sich gegenseitig anzufallen, sich zu zerfleischen. Einer von ihnen entdeckte Richard. Der Sucher durchbohrte ihn im Vorbeilaufen mit dem Schwert. Dem nächsten durchtrennte er die Beine oberhalb des Knies. Der Gar fiel heulend zu Boden. Dem nächsten schlug er einen Flügel ab, dem übernächsten beide Arme. Er tötete sie absichtlich nicht, sondern ließ sie um sich schlagend, heulend und kreischend auf dem Boden liegen, um das Chaos noch zu vergrößern. In dem Durcheinander griffen ihn nicht einmal alle Gars an, die ihn sahen. Dafür jedoch er sie.

Zwei tötete er in der Nähe des Eis. Mit den Unterarmen hob er das Ei von seinem Platz. Es war heiß, doch nicht so heiß, daß er sich verbrannte. Das Ei war schwerer als erwartet, und er brauchte beide Arme zum Tragen. Ohne Zeit zu vergeuden, rannte er nach links zu der Schlucht zwischen den Hügeln. Vögel flatterten in alle Richtungen, einige prallten gegen ihn. Es herrschte völliges Chaos. Zwei Gars gingen auf ihn los. Er setzte das Ei ab, tötete den ersten und trennte dem zweiten die Beine vom Leib. Mit dem Ei in den Armen lief er, so schnell er konnte, ohne einen Sturz zu riskieren. Der nächste Gar griff an. Er verfehlte ihn mit dem ersten Hieb, durchbohrte ihn aber, als er auf ihn zugesprungen kam.

Vor Anstrengung schwer atmend rannte Richard zwischen die Hügel. Die Arme schmerzten und wurden matt unter dem Gewicht seiner Last. Ringsum landeten Gars, ihre grünen Augen voller Wut. Er setzte das Ei ab und drosch auf den ersten ein, der kam, trennte ihm einen Teil des Flügels ab und den Kopf. Die anderen stürzten sich heulend auf ihn.

Bäume und Felsen ringsum erglühten in strahlendem Licht.

Flammen verbrannten mehrere der Monster zu Asche. Richard hob den Kopf und sah Scarlet, die, mit den gewaltigen Flügeln schlagend, alles ringsum in ein Flammenmeer verwandelte. Mit einer Kralle griff sie nach dem Ei und packte es, dann faßte sie ihn mit der anderen um die Hüfte und trug ihn davon. Sie hoben gerade ab, als zwei weitere Gars angriffen. Einen erwischte er mit dem Schwert, der andere ging in Flammen auf und stürzte zu Boden.

Scarlet röhrte die Gars vor Wut an, als sie mit Richard in der Kralle gen Himmel stieg. Das war zwar nicht Richards bevorzugte Art zu fliegen, aber es war weit besser als unten zwischen den Gars. Ein weiterer Gar näherte sich von unten und schnappte nach dem Ei. Richard hackte ihm einen Flügel ab. Heulend trudelte er zu Boden. Mehr kamen nicht.

Scarlet trug ihn hoch in den Himmel, fort von der Feuerquelle. In ihrer Kralle fühlte er sich wie ein Beutetier, das zu den Jungtieren gebracht wurde. Ihr Griff war an den Rippen ein wenig schmerzhaft, aber er beschwerte sich nicht, er wollte nicht, daß sie locker ließ. Es war weit bis nach unten.

Sie flogen stundenlang. Es gelang Richard, eine andere, bequemere Stellung in ihren Krallen einzunehmen, und er sah zu, wie Hügel und Bäume unten vorüberflogen. Er sah Bäche und Felder, sogar ein paar kleinere Ortschaften. Die Hügel wurden höher und wurden felsiger, als wüchse das Gestein aus dem Boden. Vor ihnen tauchten schroffe Klippen und Gipfel auf. Scarlet trug sie mit sanftem Flügelschlag höher hinauf, über Felsen, die fast seine Füße streiften. Sie brachte ihn in eine verlassene Gegend, bar jeden Lebens. Grünbraunes Gestein schien willkürlich von Riesenhand zu schmalen Säulen gestapelt wie Münzen auf einem Tisch. Einige standen allein, andere waren zu Gruppen gebündelt, noch mehr eingestürzt.

Hinter und über den Felssäulen ragten massive, zerklüftete Felsklippen auf, übersät mit Spalten und Ritzen, Vorsprüngen und Absätzen. An den Felswänden zogen vereinzelte Wolken vorüber. Scarlet hielt in Schräglage auf eine glatte Felswand zu. Richard kam es vor, als würden sie glatt davor fliegen, doch bevor es dazu kam, bremste sie mit einem Schlag ihrer enormen Schwingen und setzte ihn auf einem Sims ab, bevor sie selbst landete.

An der hinteren Seite des Felssims führte eine Öffnung in den Fels. Scarlet zwängte ihren massigen Körper hindurch. Im Hintergrund, in der kühlen Dunkelheit, befand sich ein Nest aus Steinen, in das sie das Ei legte und mit einem Feuerhauch überzog. Richard sah zu, wie sie das Ei mit einer Kralle streichelte, es vorsichtig drehte, untersuchte und beruhigend darauf einredete. Sachte hüllte sie es mit Flammen ein, dann drehte sie aufmerksam lauschend den Kopf.

»Alles in Ordnung?« fragte Richard leise.

Ihr Kopf schwenkte zu ihm herum. Ihre gelben Augen hatten einen verträumten Ausdruck. »Ja, es geht ihm gut.«

Richard nickte. »Das freut mich, Scarlet. Wirklich.«

Er wollte zu ihr, als sie sich neben dem Ei niederlegte. Sofort hob sie warnend den Kopf.

Er blieb stehen. »Ich wollte nur meinen Rucksack holen. Er hängt an einem deiner Dornen auf deiner Schulter.«

»Entschuldige. Bitte.«

Richard holte sich den Rucksack und trat vor eine Seitenwand, ein wenig näher ans Licht. Er warf einen Blick über den Vorsprung. Es mochten mehrere tausend Fuß bis unten sein. Richard hoffte inbrünstig, Scarlet würde Wort halten. Er setzte sich und holte eine saubere Hose aus dem Rucksack. Dabei entdeckte er noch etwas anderes, das Gefäß aus Dennas Zimmer. Darin befand sich ein Teil der Aumsalbe, die er angerührt hatte, nachdem Rahl sie gefoltert hatte. Denna mußte es ihm eingepackt haben. Beim Anblick des Strafers mußte er versonnen lächelnd an sie denken. Wie konnte er jemanden mögen, der ihm so etwas angetan hatte? Ganz einfach, er hatte ihr vergeben — mit der weißen Magie.

Die Aumsalbe tat gut. Er stöhnte leise. Sie kühlte seine brennenden Wunden, linderte den Schmerz. Im stillen dankte Richard Denna. Dann zog er die zerfetzten Überreste seiner Hose aus.

»Du siehst komisch aus ohne deine Hosen.«

Richard wirbelte herum. Scarlet beobachtete ihn.

»Für einen Mann sind das nicht gerade tröstliche Worte von einer Frau, auch wenn es sich bei der Frau um einen Drachen handelt.« Er drehte ihr den Rücken zu und zog sich die saubere Hose über.

»Haben die Gars dich verletzt?«

Richard schüttelte den Kopf. »Das ist in der Höhle passiert.« Die bedrückende Erinnerung lahmte noch immer seine Stimme. Er setzte sich, lehnte sich an die Wand und betrachtete seine Stiefel. »Ich mußte durch ein winziges Loch im Felsen kriechen. Einen anderen Weg gab es nicht. Ich bin steckengeblieben.« Er hob den Kopf und blickte in die großen, gelben Augen. »Ich habe oft Angst bekommen, seit ich ausgezogen bin, um Darken Rahl aufzuhalten. Aber als ich in diesem Loch festsaß, im Dunkeln, und der Felsen so fest drückte, daß ich keine Luft mehr bekam … das war mit das Schlimmste. Als ich dort festsaß, hat sich irgend etwas in mein Bein gekrallt und sich mit scharfen, kleinen Krallen festgehakt. Das hier ist passiert, als ich fliehen wollte.«

Scarlet beobachtete ihn lange schweigend, eine Kralle über das Ei gelegt. »Ich danke dir, Richard Cypher, daß du dein Versprechen gehalten und mein Ei zurückgeholt hast. Du bist tapfer, auch wenn du kein Drache bist. Ich hätte nie gedacht, daß sich ein Mensch so für einen Drachen einsetzen würde.«

»Ich habe es nicht nur wegen deines Eis getan. Ich habe es getan, weil ich nicht anders konnte. Ich mußte jemanden finden, der mir bei der Suche nach meinen Freunden hilft.«

Scarlet schüttelte den Kopf. »Ehrlich bist du auch noch. Ich glaube, du hättest es vielleicht auch so getan. Tut mir leid, daß du verletzt wurdest und du solche Angst erleiden mußtest, als du mir geholfen hast. Normalerweise töten Menschen die Drachen. Du bist vielleicht der erste, der je einem geholfen hat. Aus welchem Grund auch immer. Ich hatte meine Zweifel.«

»Gut, daß du mir rechtzeitig zu Hilfe gekommen bist. Die Gars hätten mich beinahe erwischt. Übrigens, hatte ich dir nicht gesagt, du sollst dort bleiben? Wieso bist du mir gefolgt?«

»Ich muß zu meiner Schande gestehen, ich hatte geglaubt, du wolltest fliehen. Ich wollte gerade nach dem Rechten sehen, als ich den Aufruhr hörte. Ich mache es wieder gut. Ich werde dir wie versprochen helfen, deine Freunde zu finden.«

Richard konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Danke, Scarlet. Aber was wird aus dem Ei? Kannst du es allein lassen? Vielleicht stiehlt Rahl es ein zweites Mal?«

»Nicht von hier, ausgeschlossen. Ich habe lange nach diesem Ort gesucht, nachdem er mir das Ei gestohlen hatte, damit ich ein Versteck habe, sollte ich es je zurückbekommen. Hier kann er es unmöglich finden. Ich werde das Gestein mit meinem Feuer erhitzen, um das Ei während meiner Abwesenheit zu wärmen.«

»Die Zeit ist knapp, Scarlet. Wann können wir aufbrechen?«

»Sofort.«

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